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Höbelt, Lothar, „Stehen oder Fallen?“ Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg. Böhlau, Wien 2015. 323 S., 24 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Höbelt, Lothar, „Stehen oder Fallen?“ Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg. Böhlau, Wien 2015. 323 S., 24 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wer glaubt, die Welt zu kennen, und sie dann zum ersten Mal durch ein Mikroskop betrachtet, wird verwundert feststellen, was ihm, dem aufmerksamen Beobachter, in der Makroperspektive so alles an Mechanismen entgangen ist, die allesamt mehr oder minder bedeutende Bausteine zur Erklärung des großen Ganzen liefern. In einer ähnlichen Situation findet sich auch der mit der mitteleuropäischen Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts durchaus eng vertraute Fachhistoriker im Angesicht der Lektüre von Lothar Höbelts jüngster, detailreicher Studie zur österreichischen Politik im Ersten Weltkrieg, die sich, an den bekannten, durch den die Politik determinierenden Kriegsverlauf vorgegebenen Zäsuren orientiert, über sechs Kapitel erstreckt. Die innenpolitischen wie außenpolitischen Möglichkeiten der Habsburgermonarchie waren jeweils davon bestimmt, wie groß die Wahrscheinlichkeiten des militärischen Sieges oder der Niederlage zum jeweiligen Zeitpunkt eingeschätzt wurden. Der „Baisse“ bis Mai 1915 folgte dabei eine einjährige „Hausse“, die mit der Brussilow-Offensive in ein „Patt“ mündete, das innenpolitisch nach der Ermordung des reformskeptischen amtierenden Ministerpräsidenten Graf Stürgkh, dem Ableben Kaiser Franz Josephs und der Inthronisation seines Nachfolgers Karl schließlich in das Kabinett Clam mündete, von dem der Verfasser festhält: „Wie immer auch die außenpolitische Linie des neuen Kaisers aussehen würde, […] im Inneren präsentierte sich sein erstes Kabinett als Vollstrecker dessen, was später als der ‚deutsche Kurs‘ beschrieben wurde“ (S. 129). An das „Patt“ sollten die „Weltwende“ (bis Herbst 1917) und ein Jahr des „Moments der letzten Spannung“ (bis Herbst 1918) anschließen. Ein Epilog zieht Bilanz im Hinblick auf die Nachfolgestaaten des Habsburgerimperiums und fragt nach Siegern und Besiegten.

 

Mit diesem Streifzug durch die letzten Jahre der Donaumonarchie verfolgt der 1956 geborene Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien vor allem das Ziel, einer Missinterpretation entgegenzutreten, die sich bei der Betrachtung der Ereignisse von ihrem Ende her leicht einstellt, nämlich dem Glauben an den unausweichlichen, zwangsläufigen Untergang Österreich-Ungarns. Es gelte stattdessen, durch eine präzise Rekonstruktion der inneren wie der äußeren Politik des Habsburgerreiches „das vielfach aus den Extremen von Wehleidigkeit und Selbstanklagen zusammengesetzte Bild der gängigen Überlieferung zu korrigieren“. Denn: „Der Erste Weltkrieg folgte keiner simplen Dynamik, wie der Zweite Weltkrieg […]. Der ‚Große Krieg‘ 1914-18 […] war erfüllt von überraschenden Wendungen, gerade was Österreich-Ungarn betrifft, […] die wieder und wieder alle Vorhersagen der Experten widerlegten. Österreich-Ungarn und seine politische und militärische Führung hatten zweifellos ihr gerüttelt Maß an Eseleien auf dem Kerbholz (wie alle anderen auch) […] aber auch ein erstaunliches Durchhaltevermögen […]. Die larmoyante Perspektive eines zum Untergang verurteilten Reiches wird der österreichischen Politik ebenso wenig gerecht wie das Zerrbild eines willenlosen Vasallen des wilhelminischen Deutschland“ (S. 7f.).

 

Es ist tatsächlich das große Verdienst dieses nicht ganz einfach zu lesenden Bandes, durch eine präzise Analyse der maßgeblichen politischen Abläufe die Fragwürdigkeit manches gängigen Klischees aufzuzeigen und entsprechende Mythen zu demontieren. Immer wieder ist dabei von der allseits praktizierten „Politik der zwei Eisen im Feuer“ die Rede, die angesichts der Ungewissheit des Kriegsausganges und seiner Folgen die aus der Vermeidung einer klaren Festlegung resultierenden Vorteile, aber auch Nachteile in Kauf nahm. Nebenbei arbeitet der Verfasser sehr schön das unterschiedliche, ihr politisches Agieren bestimmende Naturell der Handelnden heraus, beispielsweise der Außenminister Berchtold, Burian oder Czernin. War der weltmännische, umgängliche Berchtold der „Mann, der mit allen konnte“, folgte ihm mit Burian „der Mann, der mit niemandem konnte“ und „für das Erarbeiten konstruktiver Lösungen mit den Verbündeten nicht der ideale Kandidat (war)“, hingegen „für die Abwehr von Zumutungen […] eine Geheimwaffe“ (S. 29f.). Czernin wiederum „benahm sich vielfach wie ein Hausmeier, der nicht übel Lust hatte, den Kaiser unter Kuratel zu stellen“ (S. 229), und zeichnete sich durch seine „theatralisch-melodramatische Ader“ (S. 234) aus. Ministerpräsident Stürgkh erscheint als „Meister des zielbewussten Hinhaltens“, seine Nachfolger im Amt figurieren als „ehrliche Zauderer, die auf äußere Anreize reagierten, man konnte auch sagen: sich von den Umständen treiben ließen“ (S. 171). Viele mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten der Politik jener Jahre werden in unterhaltender Weise auch visuell präsentiert, und zwar in Form der Wiedergabe Casimir von Sichulskis „Der österreichische Reichsrat in der Karikatur“ (1912) entnommener Grafiken, häufig begleitet von gereimten, treffenden Versen (etwa zu Premier Hussarek: „Er blieb als ehrlich Klerikaler / In vielen Fragen liberaler“; S. 252, Abb. 22). Dass Personalia in der vorliegenden Arbeit so stark betont werden, liegt nicht zuletzt an der Eigenart der verfügbaren archivalischen Quellen, die der Verfasser auswertet: umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen aus den Nachlässen.

 

Während der anfänglichen Baisse, also der Zeit der militärischen Rückschläge, ging es im Habsburgerreich politisch vor allem darum, nach und nach zu realisieren, dass der Krieg kein Intermezzo von kurzer Dauer sein würde, sondern dass man sich auf eine längere Periode militärischer Auseinandersetzung einstellen müsse. An der Heimatfront wurde eine staatliche Bewirtschaftung anfangs noch „mit einem Anflug von schlechtem Gewissen unternommen, wenn nicht ohne Stolz auf die Fürsorgepflicht und patriotische Hingabe“ (S. 35). Den Machtgelüsten des Militärs, in dessen Fokus vor allem die als „Verräter“ abqualifizierten Tschechen gerieten, mussten Grenzen gesetzt werden, außenpolitisch wurden bislang Neutrale - wie Bulgarien und Rumänien - umworben oder sollten zumindest, wie vergeblich Italien, vom Kriegseintritt auf der Gegenseite abgehalten werden. Die sich 1915 einstellenden, nicht erwarteten militärischen Erfolge sorgten für Euphorie, der Krieg gegen Italien war sogar unter den Slawen der Monarchie populär, galt es für sie doch „slawischen Boden gegen die italienischen Aggressoren zu verteidigen“ (S. 45). Allerdings vermehrten diese Erfolge „nicht die Friedensaussichten. Ganz im Gegenteil: Die Hoffnungen auf einen Sonderfrieden mit Russland, die nie sehr realistisch waren, wurden im Juli 1915 vorerst zu Grabe getragen. Von den Westmächten war erst recht kein Zeichen des Einlenkens zu erwarten […]. Die diplomatische Perspektive ließ sich mit den Worten des Generaladjutanten Bolfras charakterisieren: ‚Wir wissen nicht, was wir mit unseren Siegen anfangen sollen.‘“ (S. 57). Diese Frage galt im Übrigen „nicht bloß für die Diplomatie, sondern auch für die Militärs“ (S. 98), bis die Brussilow-Offensive Anfang Juni 1916 und die im Juli im Westen einsetzende Somme-Schlacht dieses Luxusproblem ohnehin ad absurdum führten.

 

Besonderes Augenmerk schenkt der Verfasser durchgängig der polnischen Frage und den gravierenden Auswirkungen, welche die sogenannte „austro-polnische Lösung“, also die Integration ganz Kongress-Polens in die Habsburgermonarchie, für deren komplexe Verfassungsstruktur nach sich gezogen hätte. Hier war man innenpolitisch nicht nur mit dem Widerstand Ungarns konfrontiert, das wenig Interesse zeigte, seine durch den bestehenden Dualismus zementierten Vorrechte zugunsten irgendwelcher trialistischen Experimente zur Disposition zu stellen (man verfiel deshalb sogar auf die Idee einer komplizierten „‘subdualistischen Lösung‘ […], einem Dualismus innerhalb des Dualismus […]. ‚West-Österreich‘ […] und Polen hätten dann kein gemeinsames Parlament mehr, sondern nur mehr Delegationen, so wie es bisher schon für Österreich und Ungarn galt. Diese beiden Delegationen mussten dann ihrerseits eine Delegation bilden, die mit der ungarischen das Armeebudget beschloss“; S. 67), sondern auch mit Begehrlichkeiten des deutschen Bündnispartners, dessen Oberste Heeresleitung an der Abtrennung und Einverleibung polnischen Territoriums reges Interesse bekundete. 1916, mit der Proklamation einer polnischen Unabhängigkeit auf dem Hintergedanken, eine lohnenswerte Rekrutierungsbasis zu erschließen, „hatten die Militärs der Mittelmächte eine polnische Armee gewollt, keinen Staat; 1917 sah man sich zur Bildung eines Staates gedrängt, ohne Aussicht auf eine Armee“. Außenminister Czernin: „Ohne eine Regierung in Polen ließe sich auch Österreich nicht regieren, zumindest nicht verfassungsmäßig. Dafür aber bedürfe es einer Gesamtlösung, die zuallererst bei den Polen selbst Anklang fände“ (S. 198), die eine österreichische Herrschaft, wie man wusste, als kleineres Übel einer preußischen oder gar russischen vorzögen. Deutschland sollte sich dafür an Rumänien schadlos halten dürfen.

 

Gerade zur Erhellung des viel diskutierten Verhältnisses zwischen Österreich-Ungarn und seinem deutschen Bündnispartner kann die vorliegende Schrift manchen korrigierenden Gedanken beisteuern. Ausführlich werden so die im Zusammenhang mit dem austro-polnischen Projekt angedachten Ideen eines durch eine Zollunion verbundenen Mitteleuropa-Blocks im Für und Wider verschiedener Interessensgruppen reflektiert, in dem Deutschland „auf alle Fälle die Rolle des ‚Nettozahlers‘ auf den Leib geschrieben“ worden wäre, während es für Österreich in erster Linie darum ging, „die Hilfe Deutschlands […] ‚aus(zu)nützen, ohne unter die finanzielle Vormundschaft Deutschlands zu kommen‘“ (S. 69). Die Vereinheitlichung der Kriegführung an der Ostfront durch Schaffung eines übergreifenden Oberkommandos („Ober-Ost“) und das ergänzende Übereinkommen über die „Oberste Kriegsleitung“ (OKL) waren nicht vorrangig reichsdeutschen Dominanzgelüsten geschuldet, sondern wurzelten in militärischen Notwendigkeiten, vor allem aber in Machtfragen hier wie dort: Im Deutschen Reich strebte Kanzler Bethmann-Hollweg „mit der Schaffung von Ober-Ost in erster Linie einen Befreiungsschlag gegen den unbequem gewordenen“ Generalstabschef Falkenhayn an (S. 104), auf lange Sicht ein kapitaler Schnitt ins eigene Fleisch, denn „Hindenburg als alleiniger Militärgewaltiger war ein potentiell viel gefährlicherer Kontrahent als Falkenhayn“ und entwickelte sich zum „Zauberlehrling der deutschen Politik“ (S. 107). In Österreich wiederum war die mit „Ober-Ost“ verbundene Herabstufung des ebenfalls lästig gewordenen Generalstabschefs Conrad „ein Preis, den man in Wien mit Freuden zu zahlen bereit war“ (S. 105), um im Gegenzug vermehrt deutsche militärische Unterstützung für die Ostfront zu lukrieren. Das Urteil des Verfassers lässt an Klarheit nicht zu wünschen übrig: „Österreich-Ungarn spielte im Ersten Weltkrieg bei weitem nicht jene passive Leidensrolle, als Werkzeug des ‚deutschen Militarismus‘, wie das von einer kuriosen Allianz aus konservativen Austriaken und progressiven borussischen ‚Junkerfressern’ vielfach zum Dogma erhoben worden ist“, wenn ihm auch bei den letztlich entscheidenden Weichenstellungen – der den Kriegseintritt der USA auslösenden Option für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg und dem die bolschewistische Revolution in Russland nach sich ziehenden Transport Lenins dorthin – „bloß eine Statistenrolle“ zukam (S. 131). Hinsichtlich der Position der Vereinigten Staaten betont die Arbeit, dass jene, vor 1914 kaum beachtet, den „eigentlichen blinden Fleck der kontinentalen Diplomatie“ bildeten (S. 132) und sich anfangs „als führender Neutraler […] zwei kriegführenden Parteien gegenüber (sahen), die geltende Regeln in einer Art und Weise auslegten bzw. ignorierten, die den amerikanischen Handel schwer beeinträchtigte“. Der entscheidende qualitative Unterschied bestand letztendlich darin, „als die Beeinträchtigung durch die Briten die Form von Schikanen und Verdienstentgang annahm, der U-Boot-Krieg aber immer wieder auch Menschenleben forderte“ (S. 134).

 

Die hier exemplarisch knapp skizzierten Analysen bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Überlegungen, die Lothar Höbelt in dieser hochwertigen Arbeit anstellt, welche die starke Interdependenz von Innenpolitik und Außenpolitik der Donaumonarchie offenlegt und deren Titel einem Außenminister Czernin zugeschriebenen Diktum entlehnt ist, der 1917 betont haben soll, „Österreich-Ungarn stehe und falle mit seinem Bündnisse. Was er aber nicht wisse, sei, ob es stehen oder fallen werde“ (S. 196). Leider verführt ihn sein stupendes Wissen bisweilen dazu - und hier sei auf das vom Rezensenten einleitend bemühte Bild verwiesen - , gerade im Kontext von Personalia zu sehr in vielleicht wissenswerten, aber nicht unbedingt wesentlichen Details zu schwelgen, die dem Leser zudem Kenntnisse abfordern, über die er wohl nur im Ausnahmefall verfügen wird. Ein vielsagendes Beispiel: „Die Verbindung zu Seidler besorgte […] ein weiterer inneralpiner Agrarier, der Obersteirer Ferdinand v. Pantz, in parteipolitischer Hinsicht ein Wanderer zwischen den Welten. In landwirtschaftlichen Belangen hatte Pantz mit Waldner vor dem Krieg diverse Sträuße ausgefochten. Waldner war ein Anhänger der konventionellen Schutzzollpolitik; Pantz zählte als Vertreter der ‚Hörndlbauern‘, die Futtermittel zukaufen mussten, zu deren Kritikern. Pantz hatte sich deshalb von den Christlichsozialen abgewendet, den Agrariern, dann dem Wiener Freihändler Max Friedmann angeschlossen und war mit ihm zu Steinwenders Arbeitsgemeinschaft gestoßen. Die enge Verbindung zu Seidler ergab sich vermutlich über Pantz‘ Bruder Anton, einen Kollegen Seidlers aus dem Ackerbauministerium (in den Zwanzigerjahren dann einige Jahre Direktor des niederösterreichischen Bauernbundes). […]“ (S. 248) usw. Inhaltlich ohne Relevanz, nichtsdestotrotz lästig sind die durchgehend auftretenden Flüchtigkeitsfehler, meist in Form inkorrekter Kasusendungen, aber auch Namensschreibungen (S. 100: Lybien und Lybienkrieg statt richtig Libyen; die slowenische Historikerin Tamara Griesser-Pečar erscheint zunächst, S. 282, als Griesser-Pecar [hier sei dem Verfasser die für „im Eifer des Gefechts in Verlust geratene“ diakritische Zeichen in seinem Vorwort erbetene Nachsicht gerne gewährt], dann, S. 312, Fußnote 718, als Grieser-Pecar), deren Ausmerzung Aufgabe eines gewissenhaften Korrektorats gewesen wäre. Uneingeschränktes Lob verdient die gewohnt gewählte wie pointierte Sprache, die, weit abseits von trockenem Gelehrtenjargon, sich auch vom inflationären Gebrauch des bisweilen nicht zu umgehenden Modeterminus „Diskurs“ bewusst verabschiedet und bereits für sich die Lektüre des Bandes zu einem angenehmen Erlebnis macht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic