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Hundert (100) Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt. Erfahrungen, Herausforderungen, Erwartungen, hg. v. Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Klostermann, Frankfurt am Main 2014. 767 S. Besprochen von Werner Schubert.

Hundert (100) Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt. Erfahrungen, Herausforderungen, Erwartungen, hg. v. Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Klostermann, Frankfurt am Main 2014. 767 S.

 

Festschriften zu Jubiläen rechtswissenschaftlicher Fakultäten sind immer eine Fundgrube für Rechtshistoriker, so auch der vorliegende Band zum Gründungsjubiläum der Frankfurter Universität und gleichzeitig der Rechtswissenschaftlichen Fakultät 1914. Der Band beginnt mit einem „kurzen Abriss der Geschichte der Fakultät/des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“ (S. 11-104) von Bernhard Diestelkamp. Für die Zeit bis 1945 konnten auch Archivalien berücksichtigt werden, während für die Zeit von 1945-2000 sich Diestelkamp auf die Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse und der Literatur beschränkte. Eine Geschichte der Fakultät wäre nur zu schreiben gewesen, „unter Heranziehung der universitären wie ministeriellen Akten und anderer Archivalien“, eine Aufgabe, die nach Diestelkamp ein „Jüngerer“ übernehmen möge (S. 11). Die Darstellung gliedert den Untersuchungszeitraum in vier Abschnitte auf (1914-1933, 1933-1945, 1945-1970 und 1970/1972-2000), die jeweils folgende Themen behandeln: Die „Lehrenden“ (im ersten Abschnitt ist vorweg noch die Vorgeschichte berücksichtigt), die „Studierenden“, das Lehrangebot und die Institute. In der Weimarer Zeit unterschied sich die Fakultät wie auch die gesamte Universität durch „Offenheit, Liberalität und Hinwendung zu Neuem“ (S. 17) gegenüber allen anderen Universitäten Deutschlands. Auf die NS-Zeit geht Diestelkamp im Ganzen nur knapp ein (S. 29-39). Dagegen ist die Darstellung für die beiden weiteren Zeitabschnitte erheblich breiter. Diestelkamp weist u. a. auf die dominierende Bedeutung Coings in der Aufbauphase der Fakultät in den 50er und 60er Jahren und auf das von diesem gegründete Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte hin. Die Umbruchsphase (1970/1972) wird in Umrissen anschaulich beschrieben (S. 66ff.). Hilfreich wäre es gewesen, wenn der Beitrag Diestelkamps durch ein Personenregister erschlossen worden wäre.

 

Der Abschnitt des Werkes mit den Beiträgen aus dem „Institut für öffentliches Recht“ (S. 105-265) beginnt mit der Studie Armin von Bogdandys und Ingo Venzkes: „Internationale Streitbeilegung“ oder „Internationale Gerichtsbarkeit?“ Die Autoren treten für die letztere Fachbezeichnung ein, so dass die internationalen Gerichte als Teil des „Fachs Internationale Institutionen verortet“ werden könnten (S. 117ff.). Georg Hermes befasst sich in seinem Beitrag: „Das Öffentliche Recht auf der Suche nach seinem Gegenstand“ (S. 133ff.) u. a. mit der Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2011 zur Grundrechtsbindung. Mit der heute fast einhelligen Auffassung, dass das Individuum als partielles Völkerrechtsobjekt anerkannt sei, setzt sich Rainer Hofmann auseinander (S. 155ff.). Über den „Frankfurter Beitrag zur Europarechtswissenschaft“ berichtet Stefan Kadelbach. Ute Sacksofsky befasst sich mit der Biographie Ilse Staffs, der ersten deutschen Staatsrechtslehrerin (S. 185ff.) und mit den von ihr behandelten Themen (Weimarer Staatsrechtslehre, NS-Recht, italienische Staatsrechtslehre). Weitere Beiträge aus dem öffentlichen Recht kommen von Thomas Vesting über „Die Medien des Rechts“ (S. 217ff.), von Astrid Wallrabenstein über „Zugehörigkeit im Sozialstaat“ (S. 229ff.) im Hinblick auf Ansprüche auf Sozialhilfe und von Ulrich Wenner über die „Delegation zentraler Verteilungsentscheidungen im Gesundheitswesen auf Gremien der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen und Expertenkommissionen“ (S. 245ff.).

 

Acht Beiträge sind in dem „Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie“ (S. 267-382) verfasst. Klaus Günther stellt in: „Strafrecht zwischen Moral und Politik“ (S. 267ff.), fest, dass ein liberales Strafrecht nur dann „politisch legitim“ sei, „wenn es die moralische Wahlfreiheit eines jeden Einzelnen aus dem Grunde schützt, dass dieselbe Person als gleiche Mit-Gesetzgeberin an dem demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilnehmen konnte, in dem über den strafrechtlichen Schutz der Bedingungen entschieden wird“ (S. 285). Mit Winfried Hassemer (1940-2014) und der Frankfurter Schule des Strafrechts befassen sich Rainer Hamm und Matthias Jahn/Sascha Ziemann (S. 287ff., 299ff.). Kriterien zu einer Reform des aus der NS-Zeit stammenden Mordtatbestandes des Strafgesetzbuchs entwickelt Christoph Krehl in dem Artikel über „Verfassungsrechtliche Grenzen für eine Reform der Tötungsdelikte“ (S. 317ff.). Hingewiesen sei ferner auf den Beitrag Klaus Lüderssens: „Vexierbilder des Strafrechts – programmierte Willkür?“, und von Cornelius Prittwitz: „Kriminalpolitik in Zeiten wie diesen“ (S. 343ff.). Nach Thomas-Michael Seibert „Vom langsamen Verschwinden des Entscheidungszwangs“ (S. 355ff.), gibt es vier Varianten „in der Art, nicht zu entscheiden“ (S. 359ff.). Eine zunehmend wichtigere Rolle spielt das Wirtschaftsstrafrecht und die Verteidigung von Unternehmen in Strafverfahren (hierzu Jürgen Taschke, S. 369ff.).

Die Reihe der Beiträge aus dem Institut für Rechtsgeschichte eröffnet Albrecht Cordes mit dem Beitrag: „Jenseits des Lex mercatoria-Mythos“ (S. 383ff.), der Möglichkeiten zur künftigen Erforschung der mittelalterlichen Handelsrechtsgeschichte aufzeigt. Louis Pahlow geht es in seinem Beitrag: „Die Entzauberung des Ordoliberalismus“ (S. 395ff.) um die Kritik Kronsteins (Nachfolger Walter Hallsteins) an der Rechtspraxis der ordnungspolitischen Modells. Kronstein habe die Grenzen dieses Modells „deutlich gemacht und sich von den positivistischen, an nationalen Bestimmungen der Rechtsordnung angelehnten Wertungsinstrumenten zu emanzipieren versucht“ (S. 406). Anders als Böhm „wollte er den Gefahren für das ordoliberale Modell durch eine dem positiven Recht übergeordnete und dasselbe durchdringende ‚Wertordnung‘ begegnen. Gerichte, Wirtschaft und Behörden sollten das Recht nicht nur formal ‚richtig‘, sondern unter Berücksichtigung einer ‚allgemein verbindlichen Wertordnung‘ anwenden“ (S. 406). Der Beitrag Pahlows zeigt, dass eine Historisierung des Ordoliberalismus, insbesondere auch dessen Rolle als Gegenmodell zur nationalsozialistischen Wirtschaftsauffassung aus rechtshistorischer Sicht notwendig erscheint. Guido Pfeifer geht in seiner Abhandlung: „Juristische Domäne oder Hilfswissenschaft? Keilschriftrechtsgeschichte 1914/2014“ (S. 409ff.) aus von einem Rezensionsaufsatz Koschakers, der nur für kurze Zeit (1914/1915) der Frankfurter Fakultät als Gründungsmitglied angehörte, über „Altbabylonische Rechtsurkunden. Koschaker wie auch Josef Partsch traten dafür ein, die Keilschriftrechte und die juristische Papyrologie als eigenständige rechtshistorische Teildisziplinen anzuerkennen (S. 413). Abschließend berichtet Pfeifer über aktuelle interdisziplinär angelegte Forschungsvorhaben zum altorientalischen Recht.

 

Mit dem Beitrag Martin Beckers über den Beschäftigtendatenschutz als „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im arbeitsgerichtlichen Verfahren“ (S. 421ff.). beginnt der Abschnitt mit den Aufsätzen aus dem Institut für Zivil- und Wirtschaftsrecht. Nikolaj Fischer unterzieht in seinem Beitrag: „Prozessrechtswissenschaft und Prozessrechtsgesetzgebung“ die §§ 940a Abs. 2, 3 ZPO aus dem Mietrechtsänderungsgesetz von 2013 einer kritischen rechtsdogmatischen Analyse (S. 453ff.). Mit der Umsetzung des deutschen Corporate Governance Codex befasst sich Brigitte Haar in ihrem Beitrag: „ ‚Comply or Explain‘ im Spannungsfeld von Law and Finance“ (S. 471ff.). In dem Beitrag von Katja Langenbucher/Kosmas Kaprinis geht es um „Private enforcement of investor protection“ (S. 483ff.). Die Abhandlung von Felix Maultzsch: „Anglo-amerikanische Rechtshegemonie in Deutschland und Europa?“ (S. 501ff.) bringt für die historische Rechtsvergleichung wichtige Hinweise mit der Unterscheidung zwischen dem wettbewerbsorientierten anglo-amerikanischen Rechtsmodell und der deutschen vorsorgenden, „risikoarmen“ Rechtskultur. Unter der Überschrift: „Wirtschaftsverfassung oder Wirtschaftsdemokratie? Franz Böhm und Hugo Sinzheimer jenseits des Nationalstaates“ (S. 519ff.) erörtert Gunther Teubner die Frage, inwieweit die für Wirtschafts- und Arbeitsverfassung von Franz Böhm und Hugo Sinzheimer entwickelten Konzeptionen heute noch von Bedeutung sind und inwieweit sich wirtschaftsdemokratische Impulse in den Codes of Conductment durchgesetzt haben. Dass die Marktkonzeption Franz Böhms und Heinrich Kronsteins heute noch Gewicht haben, zeigt Tobias Tröger in seinem Beitrag: „Marktkonzeptionen im Frankfurter Wirtschaftsrecht“ (S. 535ff.) auf. Die arbeitsrechtliche Einordnung neuer Beschäftigungsformen in der Industrie 4.0 diskutiert Bernd Waas in: „Arbeitsrecht 4.0 – Versuch eines Blicks in die Zukunft des Arbeitsrechts“ (S. 547ff.). Zu den Herausforderungen „unserer Zeit“ gehört nach Marina Wellenhofer (in: „Die ‚gespaltene Mutterschaft‘ als rechtliche Herausforderung“) eine gesetzliche Regelung der mit der Eizellspende und Leihmutterschaft verbundenen Rechtsfragen. Manfred Weiss geht in: „Arbeitsrechtswissenschaft auf den Spuren Hugo Sinzheimers“ der Frage nach, inwieweit Sinzheimers Konzeption des Arbeitsrechts auch heute noch bedeutsam ist. In seinem Beitrag: „Die Ökonomisierung der Gesellschaft und der Anwendungsbereich des Wirtschaftsrechts“ spricht sich Alexander Peukert gegen eine am „unverfälschten Wettbewerb ausgerichtete Regulierung wohltätiger Spenden“ (S. 603) aus. Das „Zusammenspiel von Prozessrecht und materiellem Recht im internationalen Schiedsverfahren“ untersucht Rolf Trittmann im Hinblick auf die Beweisführungslast und die Ermittlung des Sachverhalts (S. 605ff.). Der Überblick „Europäisierung und Transnationalisierung im Versicherungsrecht“ von Manfred Wandt und Jens Gal (S. 629ff.) zeigt, dass die Harmonisierung des Versicherungsaufsichtsrechts (Versicherungsmarktrechts) bereits weit vorangeschritten ist. Demgegenüber ist die Vereinheitlichung des Versicherungsvertragsrechts bisher nur für die Kfz-Haftpflichtversicherung erreicht worden (S. 636ff.). Eine leistungsfähige Dogmatik des Insolvenzrechts setzt nach Peter von Wilmowsky eine klare Unterscheidung zwischen Insolvenzverwertung und Insolvenzverteilung voraus (S. 655ff.). Joachim Zekoll/Michael Schulz sprechen in ihrem Beitrag von einer „neuen Zurückhaltung des Supreme Court im Umgang mit Zuständigkeitsregeln im transnationalen Kontext (S. 675ff.) am Beispiel zweier Verfahren (Goodyear v. Braun und Daimler AG v. Baumann). Zum Abschluss bringt der Band zwei Vorträge aus der Jubiläums-Ringvorlesung. Tatjana Hörnle spricht sich in ihrem Vortrag: „Das verschleierte Gesicht – Grund für strafrechtliche Verbote?“ (S. 703ff.) gegen eine „mit welchen Sanktionen auch immer durchzusetzende Verbotsnorm“ aus (S. 728), während Maria Kaiafa-Gbandi (Thessaloniki) die „Bedeutung fundamentaler Strafrechtsprinzipien für das moderne EU-Strafrecht“ untersucht (S. 729ff.).

 

Wie der Überblick über die zahlreichen Beiträge zeigt, hat die Frankfurter Fakultät auf vielen Gebieten die rechtspolitische und rechtsdogmatische Diskussion insbesondere der Weimarer Zeit und der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusst. Die nicht wenigen zeitgeschichtlich ausgerichteten Beiträge eröffnen dem Rechtshistoriker wichtige Forschungsfelder.

 

Kiel

Werner Schubert