Peters, Dorothea, Der Fall Kaspar Hauser als Kriminalfall und als Roman von Jakob Wassermann (= Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6 Recht in der Kunst – Kunst im Recht 41). De Gruyter, Berlin 2014. VII, 210 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Peters, Dorothea, Der Fall Kaspar Hauser als Kriminalfall und als Roman von Jakob Wassermann (= Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6 Recht in der Kunst – Kunst im Recht 41). De Gruyter, Berlin 2014. VII, 210 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die ungeklärte Identität und das ungewöhnliche, traurige Schicksal jenes vermutlich 1812 geborenen, 1828 in Nürnberg plötzlich auftauchenden und bereits 1833 an den Folgen einer mysteriösen Stichverletzung in Ansbach verstorbenen Kaspar Hauser sind bis heute ein Faszinosum geblieben, das immer wieder Anlass zu weiteren Nachforschungen, aber auch zu Spekulationen aller Art liefert, unter denen die sogenannte Erbprinzentheorie – Hauser sei ein badischer Kronprätendent gewesen, der auf verbrecherische Weise vom Thron ferngehalten werden sollte – die größte Bekanntheit erlangt hat. Die einzigartigen Umstände dieses Lebenswegs haben darüber hinaus im Laufe der Zeit auch zahlreiche Künstler inspiriert, wobei der Schriftsteller Jakob Wassermann mit seinem Roman „Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens“ (1908) die prominenteste Gestaltung des Stoffes geliefert hat. Die kriminalistisch-juristischen Aspekte, die Hausers Biographie aufweist (von seinen fragwürdigen Personalien über die vorgebliche Vernachlässigung, Betrugsvorwürfe und politische Verschwörungstheorien bis hin zu den Attentaten, denen er eigenen Angaben zufolge ausgesetzt war, aber auch das persönliche Engagement und das zeitnahe Ableben des bedeutenden Rechtsgelehrten Anselm von Feuerbach (1775 – 1833), der als Erster Präsident des Appellationsgerichts Ansbach für Hauser von Amts wegen zuständig war und seine Erbprinzentheorie 1832 in einem vertraulichen Mémoire Königin Caroline von Bayern, Tochter der Markgräfin Amalia von Baden, mitgeteilt hatte), machen den Fall selbst wie auch Wassermanns Interpretation für eine Untersuchung im Sinne der Recht- und Literaturbewegung fruchtbar, der zufolge „das Recht die allgemeinverbindliche Ordnung des Lebens auf der Grundlage der jeweils betreffenden Normen (erläutert) und die Literatur auf deren Auswirkungen im individuellen Schicksalsverlauf hin(weist)“ (S. 23).
In ihrem Prolog erörtert die Verfasserin zunächst Spiegelungen des Rechts in der Literatur und schildert die Besonderheiten dieser noch jungen Forschungsrichtung, die als Law and Literature Movement im angloamerikanischen Kulturkreis seit den 1970er-Jahren Präsenz zeigt und im deutschen Sprachraum vor allem durch die Arbeiten Heinz Müller-Dietz‘ vorangetrieben wurde. Klaus Lüderssen, Thomas Vormbaum, Hermann Weber, Peter Häberle und Peter Schneider seien weitere namhafte Vertreter dieser „in jüngster Zeit stark fortgeschritten(en)“ Bewegung (S. 4), zu deren heuristischer Kapazität Thomas Vormbaum anmerkt: „Indem die Literatur dem Juristen den Spiegel der Wahrheitserkenntnis vorhält, macht sie deutlich, dass das Recht – welches Frieden stiften soll – in seinen Schattenbereichen dennoch Auslöser persönlicher Konflikte und sogar tragischer Auswirkungen sein kann“. So werde beispielsweise in einem weiteren Roman Jakob Wassermanns, „Der Fall Maurizius“ (1928), die Forderung nach einer Gerechtigkeit offenbar, „die bei und über die Ermittlung von Sachverhalten den Menschen nicht aus den Augen verliert“, wozu „nach Vormbaum weder Kadijustiz noch juristischer Doktrinarismus passen“ (S. 8f.).
Humanistische Anliegen, vor allem seine „aus eigenem Erleiden hervorgegangene Anteilnahme am Kinderschicksal“ (S. 66), haben den Schriftsteller Jakob Wassermann, dessen Werdegang im zweiten Kapitel der vorliegenden Schrift behandelt wird, denn auch in einem 15 Jahre andauernden Reifeprozess dazu bewegt, den Fall Kaspar Hauser literarisch aufzuarbeiten. Die tatsächlichen historischen Umstände dieser Causa bilden den Gegenstand des ersten Kapitels von Dorothea Peters‘ Studie, im dritten und vierten werden der Inhalt des Romans sowie die Grundlagen der Rezeption des Stoffes dargetan. So wurde „als stoffliche Grundlage des Romans der Rechtsfall weitgehend aktenmäßig übernommen“. In diesem Werk Wassermanns dienten „sowohl Integration als auch Abweichungen von der Realität […], abgesehen von der weiteren Problematik, der Darstellung des hauptsächlich bedeutsamen Themas der ‚Verletzung des Seelenlebens‘ – bezogen einerseits auf die im Untertitel […] benannte ‚Trägheit des Herzens‘, andererseits auf das ‚Verbrechen am Seelenleben‘ als unverzichtbare Grundlage der Erzählung“ (S. 118); seine Vision war „Kaspar Hauser in seiner Reinheit und seiner von der Welt noch nicht befleckten Seele, welche von der Schuld der stumpfen und verständnislosen Welt zerstört wurde. […] Gegenüber der Unschuld Kaspar Hausers wurde die […] Fehlhaltung der Menschen zum moralischen Vergehen“ (S. 114).
Diese „Trägheit des Herzens“, ein Begriff, der sich wohl am besten mit mangelnder Nächstenliebe übersetzen ließe und als acedia seit jeher in den Sündenkatalogen der katholischen Moraltheologie präsent ist (vgl. Kap. 5), liefert der Verfasserin den Anlass, in ihrem abschließenden sechsten, „Juristische(n) Perspektiven“ gewidmeten Kapitel rechtshistorische Fragen zu berühren. In ihrem Epilog hält sie dazu fest: „Wassermanns Roman stellt das gegenwärtige Rechtsbewusstsein vor die Frage, ob und inwieweit die ‚Trägheit des Herzens‘ in einen juristisch relevanten Tatbestand einmünden soll. Bejahendenfalls würde sich daraus ergeben, die Beachtung der Trägheit über die lediglich moralische Einstellung hinaus innerhalb der Legislative durch die Einbeziehung juristisch relevanter Bestimmungen entsprechend zu sichern. Insoweit könnte diese Fokussierung für die Entwicklung des zukünftigen Rechts von Bedeutung sein“ (S. 186). Konkret geht es also um die explizite Aufnahme von Angriffen auf die seelische Unversehrtheit als eigenen Tatbestand in das Strafgesetzbuch. Wie gezeigt wird, reichen derartige Überlegungen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, wo durch den Aufklärer Christian Wolff „eine Dreiteilung der Güter des Lebens in solche der Seele, des Leibes und des äußeren Zustandes“ erfolgte (S. 150), nachdem schon das römische Recht „unter der Bezeichnung iniuria ein Generaldelikt (kannte), welches ‚jegliche körperlich-seelische Misshandlung erfasste‘“ (S. 160). Anknüpfend an Wolff, forderten zunächst in Sachsen Feuerbachs Zeitgenosse Carl August Tittmann und dessen Dissertationsbegleiter Christian Daniel Erhard gegen den Widerstand des Strafrechtswissenschaftlers Julius Friedrich Heinrich Abegg eine eigenständige Deliktsart der Verbrechen an den Geisteskräften des Menschen. Feuerbach führte entsprechende Überlegungen in seiner gleichnamigen Schrift (1807) als Vorarbeit zum Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, als dessen Schöpfer er gilt, und, inspiriert vom Fall Hauser, wieder in seiner letzten Publikation, „Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen“ (1832), ins Treffen, doch fand dann ein solcher Tatbestand weder ins Bayerische Strafgesetzbuch noch später ins Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten (1851) oder ins Reichsstrafgesetzbuch (1871) Eingang. Erst 1889 griff Richard Schmidt die Forderung wieder auf; die Fortschritte der Psychologie um die Jahrhundertwende (Freud, Jung) lenkten das gesellschaftliche Interesse verstärkt auf seelische Vorgänge. Dennoch sind Angriffe auf die psychische Integrität bis dato im deutschen Strafrecht nicht als eigenständiger Tatbestand normiert, sondern nur unter eine Vielzahl anderer Paragraphen subsumierbar. Jan-Christoph Bublitz verweist zudem auf Art. 3 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta, wonach jede Person das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit habe, eine Bestimmung, die „richtungweisend für eine zukünftige Erweiterung des nationalen Grundrechts sein (könnte)“ (S. 166). In der Konsequenz schlägt die Verfasserin eine Umbenennung des siebzehnten Abschnitts des Strafgesetzbuches (StGB) in „Straftaten gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit“ und eine Aufteilung in die folgenden Unterabschnitte vor: „(A) Körperliche Verletzungen § 223 Körperverletzung […] (B) Seelische Verletzungen § 232 Seelische Verletzung (1) Wer eine andere Person durch körperliche oder psychische Einwirkungen seelisch misshandelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.“ Bei Bedarf könnten dann in Unterabschnitt B „zusätzliche Paragraphen eingefügt werden, die bei der zu erwartenden Zunahme von Eingriffen in die Psyche benötigt werden“ (S. 168f.). Da der Nachweis der psychischen Misshandlung allerdings zwangsläufig an das Auftreten somatischer Symptome geknüpft wäre, würde sich der Beleg entsprechender Kausalitäten in der Praxis äußerst schwierig gestalten, weshalb zu bezweifeln steht, ob der Gesetzgeber einen derartigen Weg einzuschlagen bereit sein wird. Ungeachtet dieser Friktionen beharrt die Verfasserin auf ihrer Position, dem Seelenleben des Menschen werde „ausreichende Berücksichtigung“ erst dann zuteil, „wenn auch die Psyche einen der Körperverletzung entsprechenden Stellenwert in einer eigenen Schutzbestimmung des Strafgesetzes erhält“ (S. 169).
Somit veranschaulicht der (mit Ausnahme der Porträts Hausers und Wassermanns auf dem Schutzumschlag) von Abbildungen freie Band das Interpretationspotential, das der bis heute geheimnisvolle Fall Kaspar Hauser in der Darstellung Jakob Wassermanns auch in Bezug auf die aktuelle Rechtsordnung entfaltet. Das dadurch angeregte, visionäre Denken in Möglichkeiten abseits systemimmanenter Zensurschranken ist im Interesse der Rechtsfortbildung in jedem Fall zu begrüßen.
Kapfenberg Werner Augustinovic