Longerich, Peter, Hitler. Biographie. Siedler, München 2015. 1296 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Longerich, Peter, Hitler. Biographie. Siedler, München 2015. 1296 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
70 Jahre nach dem Kriegsende und dem Suizid Adolf Hitlers hält das wissenschaftliche und öffentliche Interesse an dem Diktator unvermindert an, ein Ende ist vorläufig nicht absehbar. Zu revolutionär waren die Eingriffe, die im Laufe seiner Herrschaft in der Dauer von etwas über zwölf Jahren die deutsche Gesellschaft tiefgreifend prägen, das jüdische Volk an den Rand der Auslöschung bringen und Europa und die Welt in einen verheerenden Krieg stürzen sollten, als dass diese mittlerweile sieben Jahrzehnte der Reflexion ausgereicht hätten, sie hinreichend zu erklären. Eine stattliche Zahl deutscher wie internationaler Biographen von Konrad Heiden über Alan Bullock, Werner Maser, Joachim C. Fest, John Toland, Rainer Zitelmann, Marlies Steinert, Ian Kershaw bis hin zu Volker Ullrich und Wolfram Pyta hat sich an dem Thema Hitler abgearbeitet, Fakten erhoben und Züge seiner Persönlichkeit offengelegt. Heute dominiert weitgehend das Bild des machtbewussten, instinktsicheren Charismatikers, der die Bedürfnisse und Sehnsüchte vieler Zeitgenossen auf seine Person zu fokussieren und bis in den Untergang hinein daran zu binden vermochte.
Peter Longerich, dem diese Interpretation zu kurz greift, verdanken wir bereits wissenschaftliche Biographien von Rang zu zwei Persönlichkeiten aus der ersten Reihe der nationalsozialistischen Führungsriege: zu Heinrich Himmler (2008) und Joseph Goebbels (2010). Schon ein erster Blick auf die insgesamt nur 16 Abbildungen seines jüngsten Werks offenbart Programmatisches: Die Fotografien porträtieren nicht, wie zu erwarten wäre, die Person Adolf Hitler im Wandel der Zeit, sondern lassen die Auswirkungen seiner Herrschaft schlaglichtartig aufleuchten, dokumentieren Gleichschaltung und Exklusion. Ein Bild zeigt katholische Würdenträger 1933 beim Entbieten des Hitlergrußes (S. 353), ein weiteres eine Hochzeitsgesellschaft 1936, wirkungsvoll arrangiert vor einem überdimensionalen Führerbild (S. 531), ein drittes Fliegersoldaten, in deren Mienen sich Bestürzung abzeichnet, als sie Hitlers Kriegserklärung an Polen am 1. September 1939 verfolgen (S. 687). Bemerkenswert ist der inhaltliche Konnex zwischen der ersten und der letzten Abbildung im Buch: Thema ist das Erwachen, zunächst in Form des Titelblattes des von Dietrich Eckart verfassten, von Hans Gansser vertonten, Adolf Hitler zugeeigneten NS-Kampfliedes „Sturm“ mit seinem abschließenden Appell „Deutschland erwache!“ (S. 115), dem 900 Seiten weiter, ganz am Ende der Arbeit, kontrastierend das „Erwachen“ jener deutschen Bürger gegenübergestellt wird, die nach dem Sturz der NS-Herrschaft von den Alliierten an der langen Reihe der Leichen im Lager Wöbbelin (ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme) vorbeigeführt werden (S. 1015). Dieses von der üblichen Auswahl so bewusst abgesetzte Bildmaterial deutet an, worum es Peter Longerich in seiner jüngsten Biographie primär geht, nämlich weder um hochgestochene theoretische Interpretationsfolien und schon gar nicht um neue spekulative voyeuristische Einblicke in das Privatleben des „Führers“, sondern um ein Buch mit Bodenhaftung, um die nüchterne Herausarbeitung der Aktivitäten Hitlers auf den diversen Feldern der Politik sowie der Militärführung, auf denen er sich auf der Basis eines konsequent personalistischen Führungsmodells einzigartige Handlungsspielräume zu reservieren vermochte, die er virtuos zu nützen verstand. Die Züge seiner Persönlichkeit seien im Kontext der Machtausübung angemessen zu berücksichtigen, ohne dass dies aber zu einer Verengung komplexer historischer Prozesse auf diese persönlichen Faktoren führen dürfe. Früh durch eine triste familiäre Situation geprägt, zeichne sich diese Persönlichkeit durch „eine narzisstische Fixierung auf das öffentliche Selbst bei gleichzeitiger Unterdrückung privater Gefühlsregungen aus, was dazu führte, dass für Hitler der Gedanke einer öffentlichen Beschämung oder Bloßstellung unerträglich war“ (S. 1026, Anmerkung 17). Auf letztere habe er stets mit Aggression und Vernichtung reagiert.
In seinen ersten drei Lebensjahrzehnten sei Hitler entgegen seiner Selbstdarstellung nach Longerich noch „ein Niemand“ (so der Titel des mit 40 Seiten limitierten Prologs) gewesen, seine Politisierung erfolgte erst spät im nachrevolutionären München 1919 als Propagandist im Dienst der Reichswehr. Hier wuchs er schon bald über die ihm zugedachte Rolle hinaus und 1922 als politischer Rechtsaußen in eine Führerrolle hinein. Mit seinem Putsch 1923 gescheitert, „erfand [er] für sich die Rolle eines politischen Märtyrers, der das Opfer von Intrigen des konservativen Establishments geworden sei. Für ihn war dies die einzige Möglichkeit, seine eklatante Fehleinschätzung der realen politischen Situation zu ertragen“ (S. 999), und eine wohlwollende bayerische Justiz bestärkte ihn darin. Seine Machtübernahme zehn Jahre später wurde „möglich, weil Hitler mit großem Geschick verschiedene Machteroberungsstrategien (teilweise parallel zueinander) verfolgte und schließlich miteinander kombinierte“ und „im konservativen Establishment Ansprechpartner fand, die […] sich […] am 30. Januar auf einen Kompromiss einließen“ (S. 1000f.). Der etablierte Führermythos habe zwar die heterogene NS-Bewegung zusammengehalten, sei aber für die Wahlerfolge der NSDAP nicht verantwortlich, von denen sich die Wähler vielmehr konkrete Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation versprachen. Schon hier zeigten sich die Grenzen des Charisma-Konzepts, wie es Hitler auch später nicht gelingen sollte, in der Bevölkerung begeisternde Zustimmung für seine Kriegspläne zu erlangen oder eine homogene Volksgemeinschaft (auch im Sinne einer Identität von Führung und Volk) real zu formen.
In der Sicherung seiner Herrschaft und in der Umsetzung seiner politischen Ziele erwies er sich hingegen als ein Virtuose der Macht, der seine Ziele konsequent und, wo immer es ihm nötig erschien, auch mit List und brutaler Gewalt ins Werk setzte. Kollektive und formalisierte Entscheidungsbildung konsequent ausschließend, gewährleistete ihm sein personalisierter Führungsstil die uneingeschränkte und letzte Autorität in allen Fragen von Belang, wo er stets die Richtung vorgab: in der Außenpolitik, der Führung der Propaganda, der Ausgestaltung der Verwaltungsstruktur, der Parteiführung, der Kultur- und Kirchenpolitik, der Rassen- und Judenpolitik, der Aufrüstung und schließlich auch in der militärischen Führung. Dazu der Verfasser: „Seine fast unbegrenzte Machtstellung, die Eliminierung formalisierter Entscheidungsfindung und extreme Verkürzung der Entscheidungswege, seine starke Präsenz […] erlaubten es Hitler, und dies ist mit Blick auf die Funktionsweise seiner Herrschaft entscheidend, in kritischen Situationen auf komplexe Problemlagen ad hoc, effizient und mit weitreichenden Folgen zu reagieren. Dabei vermischte er Sachthemen und Politikbereiche auf höchst eigenwillige Weise, setzte überraschend neue Schwerpunkte und ordnete so jeweils die politische Tagesordnung in seinem Sinne neu. Ungeachtet aller ideologischen Fixierung konnte er ein außerordentliches Maß an Flexibilität an den Tag legen, das Gegner wie Mitstreiter verblüffte und ihn selbst für sein engstes Umfeld unberechenbar machte“ (S. 1005). In der Kriegführung war er so „nicht bereit, der Sachlogik der Berufsmilitärs zu folgen – er vertrat vielmehr die Ansicht einer Gesamtkriegführung, die sich an politisch-strategischen Überlegungen orientierte, weltanschaulich begründet war und nicht zuletzt ökonomische Faktoren miteinbezog“ (S. 933), und er sperrte sich mit Rücksicht auf die Stimmung im Volk lange gegen Goebbels‘ Pläne zur Totalisierung des Krieges. Als es angesichts der immer schwierigeren militärischen Lage darum ging, einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben, gab Hitler 1944 das ideologische Dogma der Identität von Judentum und Bolschewismus auf; die antisemitische Propaganda richtete sich fürderhin nur mehr gegen die Westalliierten und wurde von der antikommunistischen abgekoppelt.
Peter Longerich vermeidet es, seine Darstellung des Hitler’schen Werdeganges mit einem theoretischen Konzept zu unterfüttern, das diesen Weg als solchen plausibel erklären könnte. Diese Vorgangsweise hat den Vorteil, dass sie den Verfasser nicht dazu zwingt, die Komplexität der realen politischen Ereignisse mit Gewalt in ein Korsett zu zwingen, in das sie im Detail womöglich nicht passen. Sie hat aber auch einen nicht unwesentlichen Nachteil: Der Leser erlebt bei Longerich einen omnipotenten Diktator, der in jeder entscheidenden Lage bis zum Untergang die Fäden in der Hand hält und den Machtapparat nach seinem Willen und Gutdünken steuert. Offen bleibt dabei die Frage, was gerade diesen ursprünglichen „Niemand“ zu jener enormen Leistung befähigt haben soll, sich gegen ein Heer von geschulten, ihm in Hinblick auf Fachkompetenz und Erfahrung überlegenen Experten auf der politischen wie der militärischen Ebene so uneingeschränkt und dauerhaft durchzusetzen. Wer eine Antwort darauf sucht, findet sie eher in den Hitler-Biographien von Peter Longerichs Vorgängern, deren Thesen er natürlich rezipiert und modifiziert hat. Einem umfassenden Deutungsanspruch des populären Charisma-Konzepts widerspricht er und begründet Hitlers Erfolg in erster Linie mit der Effizienz und den repressiven Möglichkeiten seines Herrschaftsapparates, mit sekundären Elementen also, die Hitler selbst schuf und deren Erklärungspotential damit begrenzt bleibt. Die Stärke der vorliegenden Biographie besteht im Wesentlichen darin, dass sie sachlich, mit akribischer Genauigkeit und stupendem Wissen die Ereignisse der nationalsozialistischen Epoche als einen ungeachtet taktischer Elastizitäten zu jeder Zeit von ihrem souveränen Diktator Adolf Hitler beherrschten Ablauf plausibel beschreibt. Die Herrschaft des Nationalsozialismus erscheint somit in ihrem Kern als das persönliche Regiment Hitlers, der unter Mithilfe ergebener Parteigänger wie Goebbels und Himmler große Teile des deutschen Volkes vor seinen Karren zu spannen oder auch zu zwingen vermochte. Es darf angenommen werden, dass diese wohl begründete, selbstredend auf die neueste Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus gestützte, personenzentrierte Position von der Fachwelt einer sehr kritischen Prüfung unterzogen werden wird.
Kapfenberg Werner Augustinovic