Schlink, Bernhard, Erkundungen zu Geschichte, Moral, Recht und Glauben. Diogenes, Zürich 2015. 274 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Schlink, Bernhard, Erkundungen zu Geschichte, Moral, Recht und Glauben. Diogenes, Zürich 2015. 274 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
In der juristischen Fachwelt ist der 1944 geborene Bernhard Schlink fürwahr kein Unbekannter: Als Rechtsprofessor an den Universitäten Bonn, Frankfurt am Main und Berlin (1982 – 2009) und langjähriger Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster (1987 – 2006) kann er auf eine veritable Lebensleistung im Dienste des Rechts zurückblicken. Es ist daher ein bisschen eine Ironie des Schicksals, dass sein Name in der breiten öffentlichen Wahrnehmung nicht mit akademischer juristischer Gelehrsamkeit, sondern vielmehr mit schriftstellerischem Erfolg verbunden wird. Denn 1995 gelang ihm, der sich 1987 wohl aus Lust und Laune nebenher als Kriminalschriftsteller zu betätigen begann, mit seinem (in weiterer Folge in zahlreiche Sprachen übersetzten, mehrfach ausgezeichneten und 2009 auch verfilmten) Roman „Der Vorleser“ der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Die tragische Liebesgeschichte zwischen einem Schüler und angehenden Jurastudenten und der älteren Analphabetin Hanna Schmitz, die während des Dritten Reiches als Aufseherin in einem Außenlager von Auschwitz in das Unrecht des Systems verstrickt, dafür in einem Prozess verurteilt und inhaftiert wird, und die sich kurz vor der Haftentlassung das Leben nimmt, berührt den Leser, wobei der Wahrnehmung von Recht und Gerechtigkeit, wie sie Bernhard Schlink in seinem Erfolgsroman gestaltet und erfahrbar gemacht hat, ein nicht unbedeutender Anteil am Erfolg dieses Buches zukommen mag. Denn dieses verbietet sich konsequent jedes denunziatorische Moralisieren; die Protagonistin erscheint nicht als Monster, sondern als ein einst junger, naiver Mensch, den nicht ein devianter Charakter, sondern den die unglücklichen Umstände der Zeit zur Täterin werden ließen. Selbstredend musste der Verfasser für diese Positionierung manche Kritik einstecken.
Aber Bernhard Schlink ist Jurist und als solcher geschult, die Dinge systematisch und im Zusammenhang zu sehen, und so spiegelt auch seine Literatur keine beliebigen Einstellungen, sondern wohlbegründete Überzeugungen. In welche Richtung diese gehen, illustriert eingehend der hier zur Besprechung anstehende Sammelband, der 13 kürzere Schriften (Essays, Vorträge, Predigten) der Jahre 2005 bis 2014 vereint. Sie legen Gedanken zu den Komplexen Geschichte, Moral, Recht und Glauben dar, die ihren Schöpfer seit langem umtreiben. In seinen Ausführungen zum Wert von „Erinnern und Vergessen“ gesteht Bernhard Schlink den Menschen zwar „jedes moralische Recht“ zu, ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben, doch verhindere ein solches Leben auch, in echter Nähe mit anderen zu leben. Nähe setze voraus, „dass man Geschichten gemeinsam erlebt und erinnert, aus denen eine Geschichte der Beziehung wächst“, wie es schon Hugo von Hofmannsthal 1896 in einem berühmt gewordenen Gedicht formulierte: „Viele Geschicke weben neben dem meinen, / Durcheinander spielt sie alle das Dasein, / Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier.“ (S. 30ff.).
Bereits der zweite Beitrag expliziert unter dem Titel „Die Kultur des Denunziatorischen“ mit der Schärfe des Intellekts das, was Bernhard Schlink im „Vorleser“ auf emotionaler Ebene so meisterhaft erfahrbar gemacht hat. Im Kern geht es um eine harsche Kritik an der gegenwärtig dominierenden Strömung der Geschichtswissenschaft und der Selbstverständlichkeit, mit der sie bisweilen unter Vernachlässigung einer lebensnahen Sicht der spezifischen Zeitumstände und der daraus resultierenden Handlungsoptionen der Individuen zeitgenössisches Handeln vom Standpunkt heutiger Moral beurteile und verurteile. Diese „Kultur des Denunziatorischen“ reduziere Komplexität und garantiere ihren Vertretern zwar die „Gratifikationen moralischer Überlegenheit“, sei aber im Hinblick auf tiefere Erkenntnis steril: „Es ist ein eigentümliches Paradox: Indem das Wissen über das Dritte Reich wächst, rückt die damalige Lebenswelt in immer weitere Ferne; je mehr wir über das Dritte Reich wissen, desto weniger wissen wir darüber, wie damals gelebt und erlebt und was gedacht und gefühlt wurde. Der Abstand zwischen dem, was aus heutigem Wissen und heutiger Reflexion an damaligem Wissen und damaliger Reflexion vorausgesetzt wird, und dem, was damals tatsächlich gewusst und bedacht wurde, wird mit dem Zuwachs des heutigen Wissens größer und größer“ (S. 47). Angeblich neue Erkenntnisse seien oft nichts anderes als die zigfache Wiederauflage längst bekannter systemimmanenter Selbstverständlichkeiten: „Ein Ministerium des Dritten Reichs nach dem anderen wird historisch aufgearbeitet werden, und es wird sich zeigen, dass es ein williges Instrument des Nationalsozialismus war. Bei noch einem und noch einem Industrieunternehmen wird aufgezeigt werden, dass es von Aufrüstung und Zwangsarbeit profitiert hat. Jedes Stadt-, jedes Gerichts-, jedes Kirchen- und jedes Vereinsarchiv enthält Quellen aus dem Dritten Reich, und wenn sie erhoben werden, werden sie den Weg der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden bestätigen. Was sonst? Ohne Unterlass kann die Frage gestellt werden, was die Deutschen wussten und was sie nicht wussten – was wussten sie, wenn sie nicht wissen wollten, was sie hätten wissen können?“ (S. 57). Irgendwann werde sich daher Überdruss nicht nur an dieser Art der Beschäftigung einstellen - was kein Verlust sei -, sondern wohl auch am Gegenstand, also der Geschichte des Dritten Reiches selbst.
Diese Gedankengänge weisen - unabhängig davon, ob sie nun in allen Einzelheiten zutreffend sein mögen oder nicht - Bernhard Schlink als kritischen Beobachter aus, der sich die Freiheit nicht nehmen lässt, kraft eigener Gedankengänge unbequeme, dem Mainstream widersprechende Positionen einzunehmen. In die gleiche Kerbe schlagen seine weiteren, an der Philosophie Kants, Nietzsches, Hegels oder auch den Lehren Darwins, Freuds und der Bibel anknüpfenden Ausführungen zu den oben genannten Themenbereichen. Im Kapitel „Moral“ geht es zunächst um den Titelsatz „Das Moralische versteht sich von selbst“ aus dem 1879 erschienen Roman „Auch Einer“ des Philosophen Friedrich Theodor Vischer. Der Verfasser stellt fest, dass „an der Grenze der Gemeinschaft das Moralische auf(hört), sich selbst zu verstehen“ (S. 87). Früher als geflügeltes Wort oft zitiert, werde der Satz heute kaum noch verwendet. „Dass er außer Gebrauch gekommen ist, zeigt an, wie sehr wir schon in einer Zeit leben, in der beim Moralischen das Entscheidende nicht mehr die Inhalte sind, die sich tatsächlich von selbst verstehen. Das Entscheidende ist vielmehr das Problem der Grenzen des Moralischen und ihrer Überwindung, der Koordination und Kooperation, der Verteilung und des Ausgleichs über die Nationen, Interessen und Einflusssphären hinweg, das Problem, dessen Lösung sich in unserer wie zu Vischers Zeit gerade nicht von selbst versteht“ (S. 88). Ein nächster Beitrag gilt dem Phänomen des „Verrat(es)“ und seinen Spielarten. Einst habe es nur wenige Loyalitäten gegeben, heute hingegen gebe es zahlreiche, womit Loyalitätskonflikte und der Verrat vorprogrammiert seien. Diese Loyalitäten konstituierten Identität, denn „die Rollen, in denen wir uns durch Loyalitäten gebunden und vielleicht auch geschützt sehen und bei denen wir im Loyalitätskonflikt schwierige Entscheidungen zu treffen haben, sagen mehr über uns aus als die anderen“ (S. 113). Im Verrat „zeigt sich die Wahrheit unserer Loyalitäten, in unseren Loyalitäten zeigt sich die Wahrheit unserer Identitäten“ (S. 120). In seinem „Das Opfer des Lebens“ überschriebenen Essay differenziert Bernhard Schlink zwischen dem Opfer, das man bringt, und dem Opfer, das man ist; erstere Rolle sei in Deutschland (durch die Verbrechen des Dritten Reiches) „besonders diskreditiert“, letztere werde (durch das Opferschicksal der Juden) „besonders gewürdigt“ (S. 121). Doch werde auch für Deutschland „immer wahrscheinlicher, dass das Opfer des Lebens wieder verlangt und gebracht werden muss“ (S. 125), sei es bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, beim Kampf gegen den islamistischen Terror, beim Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeuges gemäß dem Luftsicherheitsgesetz oder im Opfer des Embryos für die Stammzellenforschung oder Präimplantationsdiagnostik (für die der Verfasser im Übrigen vehement eintritt, wie sein im rechtlichen Abschnitt angesiedelter, die unsinnig ungleiche Behandlung und Wertung im Umgang mit natürlich und künstlich gezeugten Embryonen - hier demonstrative Gleichgültigkeit des Gesetzgebers, dort Berufung auf eine angebliche Unvereinbarkeit mit der Achtung und dem Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Würde - und die damit einhergehende Entmündigung der Eltern anprangernder Text „Die Würde in vitro“ erkennen lässt). Der Beitrag „Die Zukunft der Verantwortung“ beschäftigt sich mit dem Wandel des Anspruchs in einer globalisierten, krisengeschüttelten (Finanzkrise, Arbeitsmarktkrise…) Welt; heute gebe es zwar in den einzelnen Systemen „eine große Bereitschaft zur Eigenverantwortung“, aber das Problem sei „der Mangel der übergreifenden Verantwortung, die dem gilt, was die Gesellschaft zusammenhält [, sei das Fehlen] eine[r] Kultur der Verantwortung, die nicht nur jeweils dem Funktionieren des Systems und im System gilt und nicht nur dem Funktionsmodus des Systems gehorcht, sondern die die Wirkungen des systemimmanenten Handelns auf andere Systeme und die Gesellschaft als ganze berücksichtigt“ (S. 162f.). Die Kompetenz, eine solche übergreifende Systemverantwortung zu institutionalisieren, liege immer noch beim Staat, der aber die nötige Kraft zur Durchsetzung aufbringen müsse.
Während drei, um die Themen Freiheit, gute Taten und das Jenseits kreisende Predigten am Ende des Bandes (zu Lukas 16, 19-31, Matthäus 25, 31-46 und Römer 8, 18-25) den einer evangelischen Theologenfamilie entstammenden Verfasser auch als praktizierenden Christen outen, sind die drei weiteren, noch offenen Beiträge seinem ureigenen Metier, der Rechtswissenschaft, verpflichtet. Die Rede „Jurist sein“, im Juni 2013 im Zuge einer Fakultätsabschlussfeier gehalten, richtet sich wohl in erster Linie an Studierende der Rechtswissenschaften. Juristen, erfährt man, seien Generalisten der Problemlösung, dabei verpflichte sie ihr Ethos nicht nur der Gerechtigkeit, sondern dieses müsse „den Systemen und Institutionen des positiven Rechts gelten und darauf gehen, dass diese der Entfaltung der Gerechtigkeit Raum geben“ (S. 183), womit jene Juristen der Weimarer Republik, die sich dem aufkommenden Nationalsozialismus nicht entgegengestellt hätten, nicht nur ihrer politischen, sondern auch ihrer juristischen Verantwortung nicht genügt hätten. Entschuldbare Nachlässigkeiten im juristischen Berufsleben fänden dort eine klare Grenze, wo die Integrität der jeweiligen Institution gefährdet oder beschädigt werde. Der Vortrag „Die Objektivität des Rechts und die Subjektivität des Richters“ sowie die Schrift „Abschied von der Dogmatik“ konstatieren eine bedenkliche, an der aktuellen Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts ablesbare, zunehmende Tendenz zur Politisierung des Rechts in Gestalt jeweils einer „politische(n) Reaktion auf die politische Situation“ (S. 204). Von übergeordneten, internationalen Gerichtsinstanzen gerügt, von untergeordneten ignoriert, hätten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts merklich an Autorität eingebüßt. Als Hauptursache identifiziert Bernhard Schlink dessen zunehmende Abkehr von der traditionellen Dogmatik und deren Aushöhlung durch eine Kasuistik, der hierzulande eine dem US-amerikanischen Prinzip des stare decisis vergleichbare Bindung fehle. Darunter litten die Neutralität und die Verlässlichkeit des Rechts. Da „nur dogmatische Theorien ein Rechtsgebiet der Esoterik der Spezialisten (entheben)“, werde es in Zukunft zum einen immer schwieriger werden, Verfassungsrecht zu lehren und zu lernen, zum anderen aber auch, verlässliche Prognosen für ein bundesverfassungsgerichtliches Urteil über einfach-gesetzliche Regelungen zu erstellen. Wohl sei es dem Verfasser „um die Verfassungsrechtswissenschaft als eine dogmatische Wissenschaft leid“, aber die Entwicklung weg vom Dogma sei nicht aufzuhalten und auch nicht zu denunzieren; sie böte immerhin die Chance des Gewinnens einer größeren Nähe zu und einer kritischeren Auseinandersetzung mit dem „allgemein gesellschaftlichen und politischen Diskurs“ (S. 227ff.).
So beleuchten die in präziser und klarer Sprache abgefassten Texte Bernhard Schlinks scharfsinnig essentielle Probleme unserer Zeit ebenso wie Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens, der Moral und des Rechts. Sie erweisen ihren Verfasser als unerschrockenen Diagnostiker, dessen Überzeugungen und Standpunkte nicht nur als inspirierende Lektüre taugen, sondern auch Orientierung liefern können für einen rechtlich wie moralisch vertretbaren Umgang mit den herausfordernden Krisen der Gegenwart.
Kapfenberg Werner Augustinovic