Lemberg, Joseph, Der Historiker ohne Eigenschaften – eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen (= Campus Historische Studien 71). Campus, Frankfurt am Main 2015. 518 S. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.
Lemberg, Joseph, Der Historiker ohne Eigenschaften – eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen (= Campus Historische Studien 71). Campus, Frankfurt am Main 2015. 518 S. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.
Die Studie, die einen Mittelalterhistoriker (1890-1972) behandelt, dessen wissenschaftliches Leben zwischen 1920 und 1972 in drei unterschiedliche Systeme fiel, wurde als Dissertation 2015 an der Humboldt-Universität in Berlin bei Michael Borgolte abgeschlossen. Bezeichnend für die Art der Darstellung ist bereits die Abbildung auf dem Titelblatt. Baethgen wird nicht mit einem möglichst wirkungsvollen Porträt abgebildet, sondern es zeigt einen Blick in das Präsidentenbüro der Monumenta Germaniae Historica. Wer bei diesem Buch eine Lebensschilderung vom Beruf des Großvaters bis zur Anzahl der Sargträger bei der ehrenvollen Bestattung erwartet, wird enttäuscht, ausnahmsweise ist das Todesdatum (18. Juni 1972) genannt (S. 233). Im Übrigen mag der Leser diese Daten, nach der vertretbaren Ansicht des Verfassers, den Nachrufen anderer Fachkollegen entnehmen. Stattdessen folge er dem Autor auf dem Weg eines normal begabten Historikers, der ohne geniale Entwürfe dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechende Veröffentlichungen liefert und dadurch bei jedem der Systeme als der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort betrachtet wird. Wenn die Geschichte der Päpste zu einem Forschungsaufenthalt in Rom führen kann, so entzieht er sich nicht dem Opfer und forscht zu Cölestin V. und Bonifaz VIII.
Die Ostforschung und ihre Problematik fesseln ihn an der „Aufstiegsuniversität“ Königsberg (ab 1929) ebenso wie Forschungen zu Karl dem Großen und Friedrich II. Sie erlauben ihm, sich als Schilderer des Reichsmythos zu qualifizieren. Gleichzeitig bereitet er mit seiner Mitarbeit bei der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft die Ausbildung für Nachwuchskräfte, die nur wenige Jahre später in den annektierten Gebieten Osteuropas ihre Kenntnisse verwerten können. Hierbei weiß er sich deutlich von den Systemnahen abzusetzen und als einen Vertreter der ‚reinen‘ Wissenschaft darzustellen. Im Februar 1939 erreicht er gegenüber den fachlich qualifizierteren H. Heimpel und P. E.Schramm das begehrte Ordinariat in Berlin. In dem Berufungsverfahren konnte der NS-Dozentenbund die Reihenfolge der Berufungsliste der Fakultät zugunsten Baethgens drehen und das Reichserziehungsministerium zu seiner Berufung bringen. Erstaunlich an diesem Vorgang ist, daß Baethgen nicht, wie viele seiner Kollegen, der Karriere wegen der NSDAP beigetreten war; auch ohne förmliche Mitgliedschaft war es ihm gelungen, sich als überzeugten Unterstützer des neuen Systems darzustellen. An seiner Person war gut herauszuarbeiten (S. 363), dass in der gesamten Diskussion um eine Systemnähe zahlreicher Wissenschaftler in der Zeit zwischen 1933 und 1945 der Aspekt zu selten untersucht wurde, ob eine Person institutionell zu einschlägigen Organisationen des Nationalsozialismus gehört hat oder ob und in welchem Maße die Person informell Beziehungen zu derartigen Organisationen hatte. Der institutionelle Ansatz folgte dem Fragebogensystem der Entnazifizierung, während die informelle Nähe später die Behauptung erlaubte, den geistigen Anfechtungen mannhaft widerstanden zu haben.
Die Passagen des Berufungsverfahrens in Berlin sind so gut belegt und begründet, dass sie als ein Musterbeispiel für Universitätsberufungen der NS-Zeit gelesen werden sollten. Selten ist in neueren Studien zum Thema „NS und Universität“ ein Blick in den ‚Intrigantenstadl‘ zwischen Universität, Parteiorganisationen und Ministerium so anschaulich beschrieben worden (S. 232-254). Die beiden Unterlegenen darbten nach dieser Niederlage nicht: Heimpel durfte nur kurz danach an der Universität Straßburg ‚wertvolle‘ Aufbauarbeit leisten und Schramm konnte während seines Kriegsdienstes 1943-1945 bei der Führung des Kriegstagebuches des Wehrmachtsführungsstabes seine editorischen Fähigkeiten zeigen. Baethgen war jedoch damit, wie schon lange angestrebt, an der „Endstationsuniversität“, in deren Umfeld eine exzellente und vielfältige Forschungslandschaft ebenso wartete wie die Möglichkeit zu angesehenen Vertretern der Wissenschaft, aber auch der Politik, in engen Kontakt zu kommen. Als Mitglied der „Mittwochsgesellschaft“ stand er in enger, fachübergreifender Verbindung zu einem Kreis, der sich den Anschein einer politikfernen Diskussionsrunde gab. Bereits hier vermochte er, sein Bild eines Mannes von habituell verinnerlichten Fähigkeiten und Tugenden, das später viele Nachrufverfasser heranzogen, zu zeigen.
Als Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften gelang es ihm in einer bemerkenswerten Aktion 1947 Präsident der Monumenta Germaniae Historica zu werden und ihren Sitz nach München zu verlegen. Leider wird diese Zeit in der Arbeit nicht intensiv beleuchtet. Erst bei der Schilderung der Verdienste der ihm nachfolgenden Präsidenten Grundmann und Krause wird deutlich, wie wenig Bleibendes Baethgen hinterlassen hat. Im Sammeln weiterer Ehrenämter wurde er Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Lemberg gelingt es überaus deutlich die geringe Produktivität in den Jahren nach 1947 zu dokumentieren. Neben Nachrufen auf Historikerkollegen war es im Wesentlichen die wenig veränderte Neuausgabe von ‚Europa im Spätmittelalter‘, die nach der Erstveröffentlichung (1940) im Jahre 1951 separat vorgelegt wurde. Gerade die Tatsache, dass er den Text nur mit geringfügigen Änderungen weiter verwerten konnte, zeigt seine Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Zeitläufe.
Leider verlieren Formulierungen, die wie ‚Buchbindersynthesen‘ (Sammelbände) oder ‚geistiges Bad Harzburg‘ (Vereinigung Geistesverwandter über Grenzen hinweg) bei der ersten Erwähnung originell wirken, den Reiz bei der dritten Erwähnung. Die zahlreichen Verweise auf benutzte Quellen und Archive (S. 449f.) belegen ebenso wie die umfangreiche Literaturliste (S. 451-512), dass der Verfasser die erreichbaren Möglichkeiten gut genutzt hat, um seine überaus interessante Sicht auf die Person des Titels, und damit auch auf andere Historiker seiner Generation, überzeugend und in erfreulicher sprachlicher Gestaltung vorzulegen. Ein gutes Personenregister erschließt die Arbeit.
Neu-Ulm Ulrich-Dieter Oppitz