Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, hg. v. Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian. Nomos, Baden-Baden 2014. 849 S. Besprochen von Werner Schubert.
Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, hg. v. Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian. Nomos, Baden-Baden 2014. 849 S. Besprochen von Werner Schubert.
Mit dem von Eckhard Jesse und Sebastian Liebold herausgegebenen Band bekommt der Leser einen detaillierten Einblick in die Entwicklung der Politikwissenschaft seit Beginn der Bundesrepublik. Behandelt werden 50 Hochschulpolitologen nach folgendem, grundsätzlich eingehaltenem Schema. Nach einem „Vorspann“ von wenigen Zeilen über die Bedeutung des jeweiligen Wissenschaftlers behandelt der einzelne Beitrag folgende Fragen: „Vita – Forschungsschwerpunkt – Schulgründung und Wissenschaftsmanagement – Kritische Würdigung – Rezeption im Fach und in der Öffentlichkeit“ (S. 9); zum Schluss folgt eine Auswahlbibliografie der Primärliteratur und Sekundärliteratur. In ihrer umfangreichen Einleitung „Politikwissenschaftler und Politikwissenschaft in Deutschland“ (S. 9-84) stellen die Herausgeber Jesse und Liebold, die auch im biografischen Teil mit je einem Beitrag – Jesse über Hans-Peter Schwarz, Liebold über Dieter Oberndörfer – vertreten sind, fest, dass Sorge dafür zu tragen war, „dass nicht gleichsam 50 Festschriftbeiträge entstehen“: „Insofern musste jede Form der Apotheose unterbleiben. Ausgewogenheit war und ist die Maxime. Die Texte waren deshalb so zu gestalten, dass einerseits das Format deutlich wird, dessentwegen die Person Berücksichtigung findet, andererseits sollten Eigenarten, gegebenenfalls Schwächen zur Sprache kommen, damit kein hagiographischer Charakter durchschlägt“. Die Texte sollten sowohl lexikalischen als auch essayistischen Charakter haben. Nach einem Überblick über den Forschungsstand zu den deutschen Politikwissenschaftlern (S. 11-17) gehen die Herausgeber breit auf die Auswahl der zu berücksichtigenden Wissenschaftler ein (S. 17-31). Hauptkriterien waren „fachliche Kompetenz, erfolgreiches Wissenschaftsmanagement samt – jedenfalls ansatzweise – Bildung einer meinungsprägenden Schule, öffentliche Sichtbarkeit“ (S. 18). Weiteres Kriterium war für noch lebende Wissenschaftler ein Mindestalter von 70 Jahren (Ausnahmen nur für Herfried Münkler und Manfred G. Schmidt). Mit herangezogen für die Auswahl wurden mehrere Ratings; die niedrige Einordnung der Politikwissenschaftler in einer Umfrage von 2013 (Cicero Heft 1/213) bezeichnen die Herausgeber als „deprimierend“ (S. 26).
Die Herausgeber berücksichtigen alle großen Teilgebiete der Politikwissenschaft und in diesem Zusammenhang die drei Generationen von Politikwissenschaftlern. Zu den Gründungsvätern des Faches rechnen sie u. a. Walter Abendroth, Arnold Bergstraesser, Carl Joachim Friedrich, Erik Voegelin und Ossip K. Flechtheim. Die zweite Generation umfasst die Geburtsjahrgänge von 1921-1931, zu denen Hans Meier, Hans-Peter Schwarz, Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis und Kurt Sontheimer zählen. Der dritten Generation der deutschen Politikwissenschaftler (geb. von 1933 bis Kriegsende) gehörten an Peter Graf Kielmansegg, Volker Rittberger und Heinrich Oberreuter. Von der ersten Nachkriegsgeneration werden behandelt Münkler (geb. 1951) und Manfred G. Schmidt (geb. 1948). In den weiteren Abschnitten der Einleitung gehen die Herausgeber ein auf die „Geschichte der deutschen Politikwissenschaft und Politikwissenschaftler im Spiegel ihrer Fachvertretung(en)“ (S. 35ff.), die „Struktur eines diachronen Vergleichs politikwissenschaftlicher Gegenstände“ (S. 44-47), die „Konjunkturen im Fach – Vergleich 50 Œuvres“ (S. 47-62), die alternativen Ideengeschichte des Faches „Synthesen und Tabus“ (S. 62-70) und auf die „Perspektiven“ der Politikwissenschaft (S. 66-70). Zum Abschluss bringen die Herausgeber ein Verzeichnis der Festschriften für die porträtierten Politikwissenschaftler (S. 77-84) und ein Verzeichnis der Literatur zu den deutschen Politikwissenschaftlern (S. 77-84).
Die Beiträge über die einzelnen Wissenschaftler (S. 85-810) sind alphabetisch angeordnet und beginnen mit der Werkbiografie über Wolfgang Abendroth, dessen unter Sinzheimer angefertigte Dissertation unvollendet blieb. Nach seiner Rückkehr aus der britischen Kriegsgefangenschaft legte Abendroth die zweite juristische Staatsprüfung in der sowjetischen Besatzungszone ab und erhielt nach seiner Habilitation an der Universität Halle-Wittenberg eine Professur in Leipzig und später in Jena. Nach seiner Flucht 1948 in die Westzonen erlangte er 1952 den politikwissenschaftlichen Lehrstuhl an der Universität Marburg. Außer Abendroth verfügen weitere Politikwissenschaftler über rechtswissenschaftliche Studienabschlüsse und Promotionen (u. a. Thomas Ellwein, Theodor Eschenburg, Ossip K. Flechtheim, Ernst Fraenkel, Peter Graf Kielmansegg und Volker Rittberger). Mit Interesse zu lesen waren besonders die Beiträge - außer über Abendroth und Bergstraesser - über Klaus von Beyme, Karl Dietrich Bracher, Theodor Ellwein, Graf Kielmansegg, Richard Loewenthal, Hans Meier, Hans-Peter Schwarz, Kurt Sontheim, Dolf Sternberger und Erik Voegelin. Von den in die USA emigrierten Politologen (Flechtheim, Bergstraesser, Fraenkel, Friedrich und Voegelin) hatten auch die meisten der im vorliegenden Band behandelten Politikwissenschaftler durch Stipendien und Forschungsaufenthalte in den Vereinigten Staaten von Amerika Anschluss an die internationale, von den USA dominierte Forschung gefunden. Ein Großteil von ihnen veröffentlichte nicht wenige englischsprachige Aufsätze und Werke. Während Jesse/Liebold die deutsche Politikwissenschaft im internationalen Vergleich in der Mitte der 1980er Jahre „als eher positiv“ beurteilten, fällt ihr Urteil 2010 „skeptischer aus, gerade mit Blick auf die Rezeption im Ausland“: „Die Politikwissenschaft wird in aller Bescheidenheit damit leben müssen, dass Nicht-Politologen wie Habermas und Luhmann die herausragenden Ausnahmen von international rezipierter ‚grand theory“‘ aus Deutschland geblieben sind“ (S. 12). Das Werk nicht weniger Politikwissenschaftler ist für die Staats- und Verfassungsrechtler von erheblicher Bedeutung. Wer sich über die Themenvielfalt und Themenbreite der politikwissenschaftlichen Werke unterrichten will, sei auf das umfangreiche Schlagwortregister hingewiesen, in dem sich u. a. Nachweise finden für Bundesverfassungsgericht, Demokratischer Rechtsstaat, Grundgesetz, Institutionen/institutionelle Verfasstheit, Mehrheitswahlrecht, Notstandsdebatte/ Notstandsrecht, Rechtsstaat, Rechtswissenschaft, Staatsrechtslehre sowie Staatswissenschaft/Staats- und Verwaltungswissenschaften. Von besonderer Wichtigkeit ist der vorliegende Band auch für den Rechtshistoriker, der bei der Beschäftigung mit den oft auch historisch ausgerichteten Werken der Politikwissenschaftler zahlreiche Anregungen für sein Arbeitsgebiet finden kann.
Kiel
Werner Schubert