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Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, hg. v. Frisch, Wolfgang/Jakobs,  Günther/Kubiciel, Michael u. a. Mohr (Siebeck) Tübingen 2015. VIII, 281 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.

Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, hg. v. Frisch, Wolfgang/Jakobs,  Günther/Kubiciel, Michael u. a. Mohr (Siebeck) Tübingen 2015. VIII, 281 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.

 

Für die Betrachtung der Rechtsgeschichte und damit auch der Strafrechtsgeschichte gibt es – etwas vergröbert – zwei Linien, die im geglückten Fall zwar unterschieden, aber nicht getrennt werden, nämlich die in der Regel allmähliche, nur gelegentlich (z. B. aufgrund von Gesetzesakten) sprunghafte Verschiebung von Strukturen einerseits, die Kristallisierung von Entwicklungen in Personen und ihren Einflüsse auf jene Strukturen andererseits, kurz: das, was Theodor Schieder 1962 in seinem berühmten und damals epochemachenden Aufsatz zu dem Binom „Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte“[1] komprimiert hat.

 

In letzter Zeit scheint in der Strafrechtsgeschichte wieder einmal ein Trend zur Untersuchung der Rolle von Persönlichkeiten vorherrschend. Das hier besprochene Buch steht in einer Linie mit einem bereits erschienenen Werk über Feuerbach[2] und mit in nächster Zeit zu erwartenden Bänden über Hegel, Franz von Liszt und Karl Binding; in Italien hat der 250. Jahrestag des Erscheinens von „Dei delitti e delle pene“ eine ganze Kaskade von Veranstaltungen und zu erwartenden Tagungsbänden über dieses Werk und seinen Schöpfer Cesare Beccaria hervorgebracht[3].

 

Nun also Hans Welzel. Ob er an Bedeutung es mit den gerade genannten Kriminalisten aufnehmen kann, wird man – wenn auch mit einigem Zögern – bejahen können, wenn man davon absieht, dass die Auswirkungen jener Autoren über den engeren Bereich der Strafrechtsdogmatik hinausreichten und – im Guten wie im weniger Guten – kriminalpolitische Prozesse beeinflussten, was man, zumindest auf den ersten Blick, bei Welzel wohl nur mit Blick auf wenige Materien (Schuldtheorie, Vorsatzakzessorietät der Teilnahme), und auch dort nur mit Einschränkungen, sagen kann.

 

Es ist daher kein Zufall, dass der Hans Welzel gewidmete Band – anders als z. B. derjenige über Feuerbach – im Wesentlichen Fragen der Strafrechtsphilosophie, Strafrechtstheorie und Strafrechtsdogmatik behandelt. Auf dieser Ebene ist er ein Kompendium der mit Hans Welzel zusammenhängenden (bzw. von ihm ausgehenden) Fragen und der von ihm ausgelösten Wirkungen. Mehrere Beiträge enthalten schon in ihren Überschriften Stichworte, die jeder in der Strafrechtsdogmatik halbwegs Bewanderte sogleich mit diesem Autor in Verbindung bringt: die (angeblichen) „sachlogischen Strukturen“ (Kurt Seelmann), die finale Handlungslehre (Björn Burckhardt), die „Sozialadäquanz“ (Manuel Cancio Meliá); weitere Beiträge behandeln Welzels (wechselnde und teilweise widersprüchliche) Auffassung von der Legitimierung des Strafrechts (Michael Pawlik) und die Schwierigkeiten der finalen Handlungslehre mit den Fahrlässigkeitsdelikten (Hirokazu Kawaguchi), die Beteiligungslehre (Uwe Murmann). Welzels Einfluss auf die spanischsprachige (Bernardo José Feijoo Sánchez), die italienische (Luigi Cornacchia) und die ostasiatische (Makoto Ida) Strafrechtsdogmatik widmen sich drei weitere Beiträge.

 

Wiederum drei Beiträge behandeln die inländischen Wirkungen: Ulfried Neumann betrachtet den Einfluss Welzels auf die Strafrechtsdogmatik und Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik, d. h. bis zum Ende der 60er Jahre; sein Fazit geht dahin, dass in dieser Zeit die finale Handlungslehre die strafrechtliche Grundlagendiskussion in Deutschland fast vollständig beherrscht habe – nicht im Sinne einer inhaltlichen Übernahme, sondern im Sinne einer Formulierung von Themen, mit denen man sich auseinandersetzen musste. Seit den Siebzigerjahren habe ihre Bedeutung zusehends abgenommen. Die sich anschließende Zeit behandelt Wolfgang Frisch, der mit dem Untertitel seines Beitrages („Zwischen subjektivistischer Verschärfung und normativistischer Kritik“) die Koordinaten der Debatte formuliert. Die Frage, wie es denn sein konnte, dass eine Reihe von Welzels Positionen von der herrschenden Meinung übernommen wurde, jedoch nicht deren Begründung, beantwortet er dahin, dass Welzel ein „gutes Judiz“ gehabt und es verstanden habe, die dem Rechtsempfinden entsprechenden Ergebnisse in angeblich „ontische Strukturen“ zu verpacken, während letztlich auch bei ihm Wertungen den Ausschlag gegeben hätten. Frischs provokanter Schluss: „Erfolgreich und akzeptanzfähig war nicht der Finalist, sondern der Normativist Welzel!“ (255).

 

Den Schlusspunkt setzt Welzels Bonner Lehrstuhlnachfolger Günther Jakobs mit Ausführungen über „Welzels Bedeutung für die heutige Strafrechtswissenschaft“ (257ff.). Im Grunde ist sein Beitrag derjenige, auf den der Buchtitel am direktesten zutrifft. Anhand einiger Werke der frühen und mittleren Schaffensperiode Welzels setzt er sich kritisch mit dessen Thesen auseinander und unterzieht die wichtigsten Aspekte der Welzelschen Lehre – Kausalität, Handlungslehre, Sozialadäquanz, Rechtsgutverletzung, Schuld, Handlungssteuerung und Antriebssteuerung, Beteiligung, Fahrlässigkeit und Sachlogische Strukturen („Es geht um Gesellschaftslogik, nicht um Sachlogik“) – einer kritischen Bestandsaufnahme. Gut hegelianisch, aber auch gut historisch erfasst er Welzels Lehre als „das in Gedanken gefasste Strafrecht bis weit in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts“, das seine Zeit gehabt habe, so wie der heute leitende Begriff seine Zeit gehabt haben werde (275).

 

Zwei bis hierher noch nicht genannte Beiträge möchte der Rezensent ganz persönlich besonders hervorheben, ohne den Wert der anderen Beiträge schmälern zu wollen.

 

Wer vor der Aufgabe gestanden hat, Studenten in einer Vorlesung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts die Spuren der finalen Handlungslehre im Straftatsystem zu erklären, weiß um die Schwierigkeit dieser Aufgabe, und er wird dem Beitrag von Carl-Friedrich Stuckenberg („Vorsatz, Unrechtsbewusstsein, Irrtumslehre“; 87ff.) hohe Anerkennung als didaktische Leistung zollen. Er macht die Strukturen und Probleme in einer Weise transparent, dass man ihn jedem Studenten zur Lektüre empfehlen möchte.

 

Ruft der Beitrag Stuckenbergs die Wertschätzung des Strafrechtsdogmatikers (und Strafrechtslehrers) hervor, so gilt dasselbe für den Beitrag Michael Kubiciels aus der Sicht des Rechtshistorikers („Welzel und die Anderen“[4]. Positionen und Positionierungen Welzels vor 1945; 135ff.). Er macht deutlich, dass die Position Welzels im Kontext des Umfeldes der NS-Herrschaft nicht linear beschrieben werden kann, sondern in einem Geflecht von Einflüssen wissenschaftlicher und politischer Art, von langfristigen, über die Zeit dieser Herrschaft in beiden Richtungen hinausreichenden Entwicklungslinien, von persönlichen Positionierungen innerhalb gegebener Spielräume und von Einschmelzungen verschiedener Positionen „der Anderen“ ermittelt werden muss, dass aber eine solch differenzierende Betrachtung, die auch zwischen der Bewertung der Person und der Bewertung ihrer objektiven Auswirkungen unterscheidet, sich einer kritischen Stellungnahme nicht zu enthalten braucht. Kubiciels Fazit lautet: „Welzel war […] vor 1945 weder ein wissenschaftlicher Solitär noch in einer hoffnungslosen Minderheitenposition gefangen. Vielmehr war [er] spätestens Ende der 30er Jahre zu einem der führenden Köpfe in der Strafrechtswissenschaft avanciert. […] Er verfügte über ein reiches philosophie- und ideengeschichtliches Wissen, mit dessen Hilfe er verbrechenstheoretische oder dogmatische Positionen auf philosophische Grundlagen zurückführen und ihnen systematischen Halt verleihen konnte. Doch war Welzel nicht nur Systematiker. Er war auch […] ein kunstvoll arbeitender Eklektiker. [Er wählte] seine Grundlagenkonzeptionen so aus, dass sich diese – und mit ihnen Verbrechenslehre und Dogmatik – in das gesellschaftliche und politische Großklima einfügten“ (154).

 

War das nun die von Eberhard Schmidt formulierte „Kontinuität echter Strafrechtswissenschaft“? Oder war es eine eher problematische Kontinuität, welche Fragen an die Gegenwart herausfordert? Der Beitrag Kubiciels kann als Ausgangspunkt für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser für die Strafrechtswissenschaft wichtigen Frage dienen.

 

Hagen                                                            Thomas Vormbaum

[1]     Theodor Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Historische Zeitschrift. Band 195, Heft JG (Dezember 1962) 265 ff.

[2]     S. dazu Arnd Koch u.a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts. Tübingen 2014. S. dazu meine Besprechung in Z:I:E.R. 5 (2015): http://www.koeblergerhard.de/ZIER-HP/ZIER-HP-05-2015/FeuerbachsBayerischesStrafgesetzbuch.htm

[3]     S. auf Deutsch vorerst die Beiträge in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 16 (2015); als Tagungsband bereits erschienen derjenige der Veroneser Tagung: Giovanni Rossi / Francesca Zanuso (Hrsg.), Attualità e storicità del „Dei delitti e delle pene“ a 250 anni dalla pubblicazione. Neapel (Esi) 2015.

[4]     Eine hübsche Analogie zum Titel des Beitrages von Gigliola Di Renzo Villata, Beccaria e gli altri. Noterelle sulla criminalistica del tardo Settecento, in dem o. Fußn. 3 zitierten Veroneser Tagungsband, S. 41ff.