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Strafrecht und juristische Zeitgeschichte. Symposium anlässlich des 70. Geburtstages von Thomas Vormbaum, hg. v. Asholt, Martin/Eisenhardt, Ulrich/Sachsen-Gessaphe, Karl-August Prinz von u. a. Nomos, Baden-Baden 2014. 162 S.  Besprochen von Werner Augustinovic.

Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte. Symposium anlässlich des 70. Geburtstages von Thomas Vormbaum, hg. v. Asholt, Martin/Eisenhardt, Ulrich/Prinz von Sachsen Gessaphe, Karl-August/Zwiehoff, Gabriele. Nomos, Baden-Baden 2014. 162 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der Begriff der Juristischen Zeitgeschichte vereinigt, wie der ihm übergeordnete der allgemeinen Rechtsgeschichte, in sich programmatisch sowohl die rechtswissenschaftliche als auch die historische Disziplin. Die Beherrschung beider Felder und ihrer spezifischen Instrumentarien kennzeichnet somit das Idealprofil eines Forschers auf diesem Gebiet, dem der Jubilar, dem die vorliegende Sammelschrift gewidmet ist, geradezu in mustergültiger Weise gerecht wird: Mit seinen Promotionen zum Dr. jur. und Dr. phil. hat Thomas Vormbaum von Anfang an ein breites und stabiles Fundament für die grenzüberschreitende Ausrichtung seines facettenreichen Schaffens gelegt, das sein Hagener Kollege Ulrich Eisenhardt im Vorwort knapp zu umreißen sucht. Das Werk Thomas Vormbaums umfasst demnach neben mehreren privatrechtsgeschichtlichen Abhandlungen vor allem zahlreiche Studien zur Strafrechtsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Strafrechtswissenschaft und zum modernen Straf- und Strafprozessrecht. Sein Interesse für den Niederschlag des Rechts in literarischen Texten und seine profunden Kenntnisse des Italienischen haben den zuletzt an der Fern-Universität Hagen wirkenden Gelehrten, wo 2007 unter seiner Ägide das „Journal der Juristischen Zeitgeschichte“ (JoJZG) aus der Taufe gehoben wurde, unter anderem nicht nur zur Übersetzung zahlreicher italienischer Schriften zum Strafrecht, sondern auch von Dante Alighieris „Commedia“ ins Deutsche bewogen. Zwei aus dem Kreis der aktuellen Herausgeber, Gabriele Zwiehoff und Martin Asholt, waren seine Habilitanden, die Anzahl seiner Dissertanten ist Legion und nimmt in der vorliegenden Schrift drei eng bedruckte Seiten in Anspruch.

 

Die acht ausschließlich männlichen Verfasser der einzelnen Beiträge können auf den zur Verfügung stehenden, knappen 150 Textseiten nur feine Streiflichter auf das breite Betätigungsfeld des Geehrten werfen. Da sie nirgendwo im Band vorgestellt werden, sei dies hier getan. Nicht von ungefähr handelt es sich mit nur zwei Ausnahmen durchweg um internationale und nationale Vertreter der Strafrechtswissenschaften: Massimo Donini wirkt als Ordinarius für Strafrecht in Modena, Francisco Muños Conde als ebensolcher an der Universität Sevilla; beide haben mit Thomas Vormbaum Projekte betrieben und sich unter anderem mit der Problematik des Feindstrafrechts auseinandergesetzt. Der 1946 in Wien geborene Hegel-Kenner Wolfgang Schild lehrt seit mehr als drei Jahrzehnten Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte und Rechtsphilosophie in Bielefeld, sein nur wenig jüngerer Kollege Michael Hettinger ist Lehrstuhlinhaber (ohne Rechtsphilosophie) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von den vier dem Kollegium der Beiträger angehörigen Emeriti teilen ebenfalls zwei die Fachrichtungen mit Wolfgang Schild: Wolfgang Naucke, der zunächst in Kiel, dann bis 1998 in Frankfurt am Main gelehrt hat und dessen rechtsdogmatischer Ansatz zur Begrenzung des Strafrechts vom Jubilar aufgegriffen und weitergeführt worden ist, sowie der einst in Frankfurt am Main tätige Klaus Lüderssen, der mit seiner Schrift „Produktive Spiegelungen. Recht und Kriminalität in der Literatur“ (1991) ein näheres Interesse an dieser Metaebene des Juristischen geweckt hat. Dieser Kreis wird ergänzt durch zwei „Exoten“ – gemeint sind damit zwei Nicht-Strafrechtler, die als Kollegen Thomas Vormbaums in anderen Fächern an der Fern-Universität Hagen tätig waren, nämlich Mitherausgeber Ulrich Eisenhardt, der dort bis 2002 das Bürgerliche Recht und das Unternehmensrecht vertreten hat, sowie der erst jüngst in den Ruhestand getretene Historiker, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und älteste Kanzlersohn Peter Brandt. Alle Genannten haben mehr oder weniger kleine Kostbarkeiten aus ihren bevorzugten Forschungsbereichen als Ehrengabe beigesteuert.

 

Zunächst stellt Wolfgang Naucke eine Revisionsentscheidung des Reichsgerichts aus 1942 (RGSt 76, S. 316f.) vor: Die Revision einer jüdischen Frau, die von ihrer Schwester Brillantgeschenke angenommen hat und dafür zu vier Monaten Gefängnis, einer Geldstrafe von 2000 Reichsmark und zum Ersatz der Verfahrenskosten bei Einziehung der geschenkten Gegenstände verurteilt worden ist, wurde als unbegründet verworfen. Naucke durchleuchtet den Fall rechtsdogmatisch und kommt zum Schluss: „Die Entscheidung ist falsch. Und sie war 1942/43 falsch“, Sie sei „das Ergebnis einer rechtstheoretisch akzeptierten, jedoch falschen Erzeugung von strafenden Regeln und einer rechtstheoretisch akzeptierten, jedoch falschen Auffassung über den möglichen Inhalt strafrechtlicher Regeln“ (S. 15f.). Diese Art der Jurisprudenz, die dieses offensichtlich falsche Urteil erst 1998 durch Verfahrenseinstellung aus der Welt zu schaffen imstande war, sei laut dem Verfasser des Beitrags keineswegs eine „tüchtige oder unangenehm zeitgemäße“, sondern eine „hochmoderne, tief beunruhigende“ (S. 26f.), was sich für den Rezensenten als fundamentale Kritik an gegenwärtigen Entwicklungstendenzen im Strafrecht liest. Ähnlich kritisch und illusionslos analysiert anschließend Michael Hettinger das Verhältnis von Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsprechung, wobei er, andere Auffassungen im Kontrast referierend, stark auf Thomas Fischers Ausführungen in der Festschrift zu Rainer Hamms 65. Geburtstag (2008) rekurriert. Nach Fischer erstarre „die Strafrechtswissenschaft in Selbstbetrachtung und Geschwätzigkeit, wenn sie ihren Gegenstand nicht mehr in der Wirklichkeit suche. Man müsse die Aufmerksamkeit ‚auf das Gemeinsame beider Welten‘ richten, das Recht. Dieses werde auf der einen Seite fallbezogen, auf der anderen theoriebezogen bearbeitet. Es gehe aus Sicht des Rechts, empirisch wie normativ, um Folgen-Verantwortung“ (S. 45f. - Kursivsetzungen im Originaltext). Massimo Donini erläutert unter anderem, weshalb die Generalprävention, jene „primäre Ursache der Ausdehnung des Strafrechts“ (S. 48), als Strafzweck dem Gesetzesvorbehalt, dem Prinzip der Verantwortlichkeit für die eigene Tat und dem Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen widerspricht. Es gehöre „zur Kultur und zum Auftrag der Strafrechtswissenschaft als ‚Garantiewissenschaft‘ [entsprechend Thomas Vormbaums „Strafbegrenzungswissenschaft“, W. A.], die Generalprävention im Bereich der politischen und soziologischen Funktionen der Strafe, die etwas [a]nderes sind als die Zwecke der angewandten Strafe, zu begrenzen“. Folgerichtig müsse „die heutige Tendenz, nämlich ‚Strafrecht für alle und Strafe vor allem für dieselben‘ nur in eine Richtung verändert werden: weniger Strafrecht für alle“ (S. 59ff.). Im vierten, strafrechtsdogmatisch ausgerichteten Beitrag prüft Wolfgang Schild, wie viel Hegel der Straftheorie von Karl Larenz (1903 – 1993, dereinst Ordinarius für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Kiel), wie sie dieser in seinem Aufsatz „Vom Wesen der Strafe“ (1936) niedergelegt hat, innewohnt. Er konstatiert dabei zwar einen gemeinsamen Ausgangspunkt, doch gelange Larenz über eine Verengung und Verkennung des Hegelschen Rechtsbegriffs und durch Aufgabe „der Rechtspersonalität aller als Fundament“ (S. 142) zu falschen und inhumanen Schlussfolgerungen. Obwohl „mitnichten […] ‚Kronjurist‘ des Dritten Reiches“ (S. 126), hat Larenz „seine eigene Rechts- und Straftheorie auf ein ursprüngliches Leben eines rassistisch und schicksalhaft aufgefassten Volkes aufgebaut, in der die Rassefremden keinerlei Rechtsstellung haben und haben können“ (S. 153).

 

Während somit die Hälfte aller vertretenen Beiträge einen Schwerpunkt in der Strafrechtsdogmatik setzt, ist die zweite Hälfte durchaus heterogen gehalten. In die Dogmatik des Zivilrechts führen Ulrich Eisenhardts Untersuchungen zur Rechtsgeschäftslehre des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten 1794 (ALR) und des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1896 (BGB). Er kann einmal mehr aufzeigen, wie sehr Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) als einer der maßgeblichen Vordenker des Bürgerlichen Gesetzbuchs und sein über die führenden Pandektisten weitergetragener römisch-rechtlicher Purismus zum Teil bis heute den Blick auf die Leistungen der Aufklärung mit ihrer Naturrechtslehre und dem Vernunftrecht verstellt haben, ohne welchedie im römischen Recht unbekannte, aber im Allgemeinen Landrecht vorgeformte und im BGB zentrale Theorie der Willenserklärung nicht denkbar ist. Dass die allen Gesetzgebungswerken generell ablehnend gegenüberstehende Autorität Savigny diese im ALR manifesten Einflüsse unterschlage, ließe „keinen Zweifel daran, was er vom ALR hält, nämlich nichts“ (S. 111). Francisco Muñoz Condes Abhandlung zum Schicksal des umstrittenen ehemaligen spanischen Richters Baltasar Garzón Real, der 1998 den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet mit einem Auslieferungsgesuch in London festsetzen ließ und 2006 in Spanien Untersuchungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Franco-Diktatur initiierte, bevor er selbst zum Beschuldigten in mehreren Prozessen wurde, die 2012 zu seiner Verurteilung wegen vorsätzlicher Rechtsbeugung und zum Verlust seines Richteramts führten, ist stark historisch akzentuiert und in den größeren Kontext der unvollkommenen Transition der spanischen Diktatur zu einer Demokratie eingebunden. Peter Brandt versucht sich an einer differenzierten Standortbestimmung der Tradition des 1947 formell aufgelösten Preußen in der doppeldeutschen Nachkriegsgeschichte und ihres Wertes für die Gegenwart, der er – ohne dies allerdings im Einzelnen zu präzisieren - eine „wesentliche Bedeutung für den politisch- und kulturell-nationalen Selbstfindungs- und Selbstverständigungsprozess der heutigen deutschen Gesellschaft“ (S. 97) beimisst. Den ungewöhnlichsten und originellsten Beitrag dieses Bandes verdanken wir schließlich Klaus Lüderssen, der unter dem Titel „Das Kunstwahre im Film“ in sehr bildhafter Sprache Inhalte, Interpretationen und persönliche Impressionen zum Streifen „In jenen Tagen“ wiedergibt, den er „1948 im sowjetisch besetzten Wernigerode in den Schloß-Lichtspielen […] und jetzt wieder, fünfundsechzig Jahre später, als DVD“ (S. 114) gesehen hat. Er habe „diese vier Geschichten ausgewählt, weil sie übereinstimmen in der Tendenz, dass politische Perversion, wenn sie das private Leben ergreift, dieses auch dort schwieriger macht, wo sie sich nicht unmittelbar auswirkt. Die mittelbaren Wirkungen sind Resignation oder Heroismus, oder beides zusammen“ (S. 118).

 

Mit diesem Gedanken schließt sich der Kreis. Wollte man alle Beiträge unter einen Hut bringen, so könnte man vielleicht sagen, dass sie ihren gemeinsamen Fluchtpunkt - ganz im Sinne Thomas Vormbaums - in jener kritischen Zurückhaltung in Bezug auf eine Obrigkeit haben, die zunehmend dazu neigt, insbesondere unter dem Titel der allgemeinen Gefahrenabwehr die Grenzen des Strafrechts über Gebühr auszudehnen und dessen Qualität einer ultima ratio zu konterkarieren. Es wird insbesondere der Anspruch an die Juristische Zeitgeschichte sein, dem Beispiel der oben angeführten Ausführungen Wolfgang Nauckes folgend mit Gefährdungspotential versehene Strukturen offenzulegen und der kritischen Diskussion zuzuführen.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic