Raichle, Christoph, Hitler als Symbolpolitiker. Kohlhammer, Stuttgart 2014. 473 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Raichle, Christoph, Hitler als Symbolpolitiker. Kohlhammer, Stuttgart o. J. [2014]. 473 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
So traumatisch und tiefgreifend Adolf Hitler die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, so zahlreich sind die Studien, die seine Persönlichkeit, seine Motive, Absichten und Handlungen sezieren und zu erklären suchen. Ungeachtet der Flut des bereits Vorhandenen regt die dunkle Aura des Diktators immer wieder Forscher an, das bisher Bekannte wenn schon nicht durch eine spektakuläre Neuinterpretation (eine solche Möglichkeit erscheint unter Berücksichtigung des bis dato generierten Wissens wenig realistisch) zu ersetzen, so doch um weitere, bislang zu kurz gekommene Gesichtspunkte anzureichern und dadurch das bestehende Bild in seinen Gewichtungen zu verschieben und neu zu akzentuieren. Vor nunmehr über 40 Jahren hat der Publizist und Hitler-Biograph Joachim C. Fest den Blick der Fachwelt eindringlich auf die symbolträchtige Inszenierung Hitlers und des Nationalsozialismus gelenkt und damit dem heute als communis opinio geltenden Verständnis der Hitler-Herrschaft als einer Manifestation charismatischer Herrschaft im Sinne Max Webers die Bahn gebrochen. Der Verfasser des vorliegenden Werks, Christoph Raichle, weist darauf hin, dass trotz der jahrzehntelangen Tradition dieses Forschungsansatzes der Art und Weise, in der Hitler selbst aktiv sein Charisma gepflegt und symbolpolitisch realisiert habe, bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Um dieses Defizit zu beheben, hat er seine nunmehr abgeschlossene, in zehnjähriger Arbeit in Stuttgart unter Betreuung des Hindenburg-Biographen Wolfram Pyta und des wissenschaftlichen Leiters der Forschungsstelle Ludwigsburg Klaus-Michael Mallmann erstellte Dissertation in den Dienst dieser Frage gestellt.
Die Arbeit beschäftigt sich nicht mit der sogenannten „Kampfzeit“, dem Aufstieg Hitlers bis 1933, sondern konzentriert sich, geleitet von der den Konzepten des Charismas und der Symbolpolitik zugrunde liegenden Theorie, auf bestimmte Schwerpunkte während der Zeit der NS-Herrschaft. Im Fokus steht zunächst Hitlers Etablierung als Staatsmann, systematisch herbeigeführt durch seine bewusste Positionierung in den identifikationsfördernden Rollen als Vertrauter und logischer Nachfolger Hindenburgs - größte Symbolkraft hat hier bekanntlich der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 entfaltet - , Einiger des Volkes und friedliebender, aber kompromisslos durchsetzungsfähiger Außenpolitiker. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs sei Hitler dann zunächst zum „Ersten Soldaten“ mutiert, der sich – als bewusst gesetzter Kontrapunkt zum Auftreten Kaiser Wilhelms II. und seiner militärischen Entourage während des Ersten Weltkriegs - gleichsam als „Führer zum Anfassen“ inszeniert habe, indem er, einer möglichen Lebensgefahr nicht achtend, die Soldaten an der Front aufsuchte und eine auffallende persönliche Bescheidenheit zur Schau trug. Spätestens mit dem Abschluss des siegreichen Frankreichfeldzuges 1940 stand eine grundlegende Modifizierung und Erweiterung dieser Rolle an: Hitler habe es nun geschickt verstanden, die Früchte der Arbeit anderer - nämlich des Planers Manstein und der Führung des Heeres - zu ernten und an seine Fahnen zu heften. Als fortan unangefochtener Feldherr sei er weder bereit gewesen, den Siegeslorbeer mit seinem einstigen Vorbild Mussolini zu teilen, noch mit Generälen wie dem Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch oder dessen Stabschef Franz Halder; um letztere aus dem Feld zu schlagen, habe er sich durch eine repressive Personalpolitik an unauffälliger, aber entscheidender Stelle (Wehrmachtpropaganda, Heeresarchive und militärische Geschichtsschreibung) die Deutungshoheit gesichert. Mit seinem geschickt inszenierten Auftritt im historischen Salonwagen zu Compiègne anlässlich der Kapitulation Frankreichs „verband […] Hitler ganz persönlich die beiden Daten des 11. November 1918 und des 21. Juni 1940. Einmal mehr erschien Hitler als die Verkörperung, das Symbol der Geschicke der Nation“ (S. 305). Als schließlich der Untergang des Dritten Reichs offenkundig wurde, habe er sein Hauptquartier „Wolfschanze“ als Vermächtnis hinterlassen, mit der Funktion, über die Niederlage hinaus als monumentaler Zeuge in Beton symbolisch für alle Zeiten von diesem „heldenhaften Endkampf“ zu künden.
Der Charisma-Begriff, den der Verfasser bei der Betrachtung dieser Vorgänge als maßgebliches methodisches Werkzeug einsetzt, verdient nähere Aufmerksamkeit. Denn während Max Weber Charisma schwerpunktmäßig aus den Eigenschaften des Führers erklärt und an dessen fortgesetzten Erfolg knüpft, weshalb solche Herrschaft ihrem Wesen nach labil sei, vertritt die vorliegende Arbeit im Rückgriff vor allem auf weiterführende Überlegungen Arthur Schweitzers („The Age of Charisma“, 1984) und Hans-Ulrich Wehlers („Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, Bände 3 und 4, 1995 bzw. 2003) eine kultursoziologische Interpretation. Dieser zufolge sei es „im wesentlichen nicht die Person selbst, die die Anhänger in den Bann schlägt, sondern die Fähigkeit des Führers, einen Ausweg aus der Krise aufzuzeigen und dazu eine Mission zu formulieren, welche die tieferliegenden Bedürfnisse und Erwartungen der Gefolgschaft auf seine Person hin bündelt, so daß sie in seiner Person symbolisch zum Ausdruck kommen“ (S. 18f.). Mit Hilfe von Symbolen - im politischen Prozess „Katalysatoren der Kommunikation […], aber auch ‚Sinngeneratoren‘ mit handlungsleitender Kraft“ (S. 15) - gelinge es „dem Charismatiker und seiner Gefolgschaft, sich über die Inhalte der charismatischen Mission zu verständigen, diese in kommunikativer Interaktion aus dem Sinnspeicher der Soziokultur zu bergen“; durch deren Verwendung als „Kommunikationsmaterialien für Außeralltägliches und Außergewöhnliches“ werde „Charisma, das Gefühl der außergewöhnlichen Sendung eines ungewöhnlich begnadeten Genies in einer außeralltäglichen Krise, zu einer dauerhaften sozialen Beziehung, zur charismatischen Herrschaft“ (S. 21). Letztere sei im Hinblick auf die „von Anhängern und Führer leidenschaftlich geteilte (durch Erfolge lediglich bestätigte) Mission als die eigentliche Legitimationsgrundlage des Charismatikers“ (S. 24) – in Abweichung von Webers Ansatz – potentiell stabil. Bei der konkreten Analyse spiele dem Verfasser zufolge „sowohl die kulturelle Verfaßtheit der Gesellschaft eine grundlegende Rolle als auch die ausgesprochene Fähigkeit eines Politikers, ein überzeugendes Angebot einer Mission zur ‚Rettung‘ aus der allgemeinen Krise zu formulieren und diese Lösung in seiner Person zu repräsentieren. Nicht jeder kann ein solches Angebot überzeugend formulieren und es auf seine Person beziehen! Erst die konsequente Pflege seines Charismas und der beständige Wille und die Fähigkeit zu einer gelungenen Selbstdarstellung erklärt, warum gerade Hitler und nicht irgendjemand sonst zum charismatischen Führer aufstieg; sie ist daher als bedeutsame politische Leistung anzusehen, die sich nicht von selbst oder im Blick auf die Anhängerschaft […] erklärt“ (S. 25). Symbolpolitik definiert sich damit allgemein als „Gebrauch politischer Symbole zur Erlangung machtpolitisch verwertbarer Herrschaftsressourcen“ (S. 15).
Es wäre nun gänzlich falsch aus diesen Ausführungen zu schließen, die vorliegende Studie sei theorielastig und schwer verständlich – das Gegenteil ist der Fall. An Hand seiner Quellen, die er systematisch und kritisch auswertet, zeichnet der Verfasser auf temperamentvolle Art (man beachte seine Vorliebe für das Ausrufezeichen) ein lebendiges Bild von Hitlers erfolgreichen Bestrebungen, mittels der explizierten Symbolpolitik als Führer eine in jeder Hinsicht unantastbare Monopolstellung zu erlangen, zu behaupten und potentielle Konkurrenten, deren Leistungen diese Exklusivität hätten in Frage stellen können, kaltzustellen. Besonders gut gelingt dieser Nachweis im Hinblick auf die in Polen und Frankreich so erfolgreiche Führung des Heeres, die ihr Wirken auch ins rechte Licht gerückt haben wollte, was Hitler, der den Feldherrnruhm für sich allein reklamierte, mit Hilfe seiner Parteigänger, Reichspressechef Otto Dietrich, Propagandaminister Joseph Goebbels und dem willfährigen Oberkommando der Wehrmacht (OKW), systematisch untergrub. Im Ergebnis dieser Demontage der Heeresführung büßte Walther von Brauchitsch nicht nur die Kompetenz ein, eine von Goebbels‘ Propagandakompanien unabhängige Berichterstaffel des Heeres zu unterhalten, er verlor darüber hinaus auch seine eigenständige, vom umtriebigen Oberstleutnant Kurt Hesse geleitete Abteilung für Heerespropaganda im Rahmen der Wehrmachtpropaganda (OKW/WPr V) und letztendlich seine Stellung als Oberbefehlshaber des Heeres. Als Hitler es nach Abschluss des Frankreichfeldzuges nicht mehr vermeiden konnte, Brauchitsch am 19. Juli 1940 zum Generalfeldmarschall zu machen, tat er dies im Rahmen einer entwertenden Massenbeförderung, wobei zunächst Hermann Göring zum Reichsmarschall und anschließend nicht weniger als zwölf Generalfeldmarschälle und 20 Generaloberste ernannt wurden. „Diese Art der Ehrung des höchsten Soldaten des Heeres, der im Grunde zusammen mit Halder die Position einnahm, die Hindenburg und Ludendorff innegehabt hatten, war keine Ehrung – vielmehr stellte sie auf den zweiten Blick durchaus nichts anderes dar als eine bewußte Beleidigung und Herabstufung Brauchitschs und Halders“ (S. 342). In ähnlich ignoranter Weise war der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, von Hitler schon im Oktober 1939 anlässlich der Verleihung des Ritterkreuzes – im Verein mit 13 anderen Offizieren! - abgefertigt worden. Indem er so die Generalität gleichsam zur Gruppe nivellierte, habe Hitler jedes Aufwachsen einer eigenständigen Größe verhindert; er konnte es stattdessen stets seinem Gutdünken anheimstellen, Persönlichkeiten zu fördern oder fallen zu lassen. Gegenüber diesen gut nachvollziehbaren Kausalitäten fallen die Passagen im Kapitel zu Hitlers „Frontfahrten“ im Dienst seiner Profilierung als „Erster Soldat“ etwas ab; vor allem die Überlegungen, welcher Gefahr der „Führer“ bei diesen Fahrten nun tatsächlich ausgesetzt gewesen sei, führen zu keinem objektiven, unanfechtbaren Ergebnis. Die dabei spürbare Tendenz, Stimmen, die eine bestehende Gefahr hervorheben, gegenüber solchen, die von einer geringen Bedrohung ausgehen, weniger Glaubwürdigkeit zuzuschreiben, könnte den Vorwurf manipulativer Interpretation nach sich ziehen und erweist der Sache nicht wirklich einen Dienst. Wahrscheinlich ist bei realistischer Betrachtung mit einiger Sicherheit ohnehin, dass Hitler im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung mit den „Frontfahrten“ ein kalkuliertes Risiko eingegangen ist, das sich für ihn lohnte und sich dabei in einem kontrollierbaren Rahmen bewegte. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass der Mythos seiner Allgegenwart zu dieser Zeit keine wirkliche Neuerung mehr darstellte und von Hitler schon viele Jahre zuvor abseits vom militärischen Kontext mit seinen „Deutschlandflügen“ im Zuge der Wahlkämpfe intensiv gepflegt worden ist.
Mit der Betonung der im Begriff der Mission verorteten Interessenskongruenz von Führer und Gefolgschaft hat der Verfasser ein taugliches Instrument sowohl zur Untersuchung von Prozessen charismatischer Herrschaft generell als auch zur Aufarbeitung spezifischer Probleme der NS-Diktatur eingeführt. Einiges Erklärungspotential bietet dieses Modell nach Auffassung des Rezensenten beispielsweise für die Täterforschung oder (wie auch vom Verfasser angedeutet) in der Frage der ungewöhnlichen Stabilität der NS-Herrschaft in der von militärischen Katastrophen gekennzeichneten Niedergangsphase des Regimes. Somit geht von der vorliegenden Arbeit durchaus ein methodisch fruchtbarer Impuls aus, der in dieser Form nicht von jeder Dissertation zu erwarten ist und auf entsprechende Folgearbeiten hoffen lässt.
Als kleiner Wermutstropfen sind dem Verfasser leider einige Fehler in der Textverarbeitung unterlaufen; auch heißt es irrtümlich auf S. 344, Moltke habe einst den Posten des Generalstabschefs des Heeres „begleitet“ (statt richtig: bekleidet). Antiquiert wirkt der Umstand, dass der Text in der „alten“ Orthographie abgefasst worden ist und nicht den aktuellen, schon vor längerer Zeit reformierten amtlichen Regeln der Rechtschreibung folgt. Des Weiteren wäre es benutzerfreundlicher, den Anhang (Abkürzungen, Quellen, Literatur) in einem etwas größeren und damit besser lesbaren Druckbild wiederzugeben.
Kapfenberg Werner Augustinovic