Moll, Martin, Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandesums Überleben 1914-1918 (= Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43). Styria premium, Wien 2014. 261 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Moll, Martin, Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914-1918 (= Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43). Styria premium, Wien 2014. 261 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Pünktlich zum 100-Jahr-Jubiläum des Beginns des Ersten Weltkrieges wird nun auch die Steiermark in einer einschlägigen Darstellung gewürdigt. Verfasser der kompakten Studie ist der Grazer Dozent für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte Martin Moll, der zu diesem Zweck auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen konnte. Für Stefan Karners im Jahr 2000 publiziertes Großprojekt „Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur“ hat Moll dereinst den Zeitraum von 1900 bis 1918 intensiv beackert, 2003 folgte seine Habilitationsschrift, mit der er 2007 unter dem Titel „Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900-1918“ den geschichtswissenschaftlichen Buchmarkt bereichern konnte. Im Zuge seiner Recherchen haben sich die im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz verwahrten Aktenbestände der für die Besorgung der Reichsverwaltung im Kronland Steiermark zuständigen, von Manfred Graf Clary-Aldringen (1852 – 1928) geführten k. k. steiermärkischen Statthalterei als ein besonders wertvolles Quellenmaterial erwiesen. Ihr Behördenverkehr vor allem mit den nachgeordneten Dienststellen, in erster Linie den Bezirkshauptmannschaften, eröffnet einen plakativen Einblick in die Problemlagen, mit welchen sich das damalige Herzogtum Steiermark in den Kriegsjahren herumzuschlagen hatte.
Diese Probleme waren keine genuin-militärischen, denn bekanntlich fanden in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs keine Kämpfe statt, wodurch das Land auch von entsprechenden Zerstörungen verschont geblieben ist. Wie sehr der Waffengang als solcher die steirische Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen hat, bleibt daher bislang unerforscht und weitgehend außen vor, sieht man von den Hinweisen ab, die der Verfasser in seiner Bilanz des Weltkrieges geben kann. Ungesicherten Angaben Hans Pircheggers aus den 1930er Jahren folgend, „wäre einer von 70 Steirern, unabhängig von Alter und Geschlecht, an direkten Kriegseinwirkungen, also im Kampf, gefallen“, über „die Zahl der Verwundeten und dauerhaft Invaliden […] ebenso wie über die Zahl der zivilen Kriegsopfer“ fehlten gar „jegliche Angaben“ (S. 174).
Dass die Last des Krieges die Menschen dennoch bis an den Rand des Erträglichen (und oft auch darüber hinaus) beansprucht hat, rührt daher vor allem aus den strukturellen Voraussetzungen, wie sie für das Kronland Steiermark gegeben waren. Eine Politik der serbophoben Hysterie verprellte schon zu Kriegsbeginn das in der Untersteiermark quantitativ dominierende, gute Drittel der Steirer slowenischer Sprache, das, von wenigen radikalen Elementen abgesehen, damals noch durchaus loyal zur Monarchie stand. Schwerer als diese national motivierte Bruchlinie wogen die Herausforderungen, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, die durch den Zuwachs „ungewollte(r) neue(r) Landesbewohner“ (S. 62) (Verwundete, Kranke, Flüchtlinge, Internierte, Kriegsgefangene, Einquartierte) vermehrte Bevölkerung eines stark industriell geprägten Landes, das nicht die Ressourcen besaß, sich autark mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hinreichend zu ernähren und zugleich zu einer massiven Steigerung des kriegswirtschaftlichen Ausstoßes anzuhalten. Der Verfasser kann zeigen, dass die Behörden in der Steiermark mit dieser Aufgabe, bei deren Bewältigung sie vom Gesamtstaat - die ungarische Reichshälfte weigerte sich bekanntlich beharrlich, Cisleithanien im notwendigen Ausmaß mit landwirtschaftlichen Erträgen zu beteilen – weitgehend im Stich gelassen wurden, von Anfang an überfordert waren. So folgte dem Chaos bei Kriegsbeginn zwar zunächst eine Phase der relativen Konsolidierung, doch zeigt sich ab 1916 ein kontinuierlicher Abwärtstrend, der schließlich 1918 im Kollaps des Staatswesens gipfeln sollte. Insgesamt acht, nach Beendigung des Krieges praktisch wertlose Kriegsanleihen, für deren Zeichnung sich unter anderem der bekannte steirische Heimatdichter Peter Rosegger propagandistisch ins Zeug geworfen hat, sorgten als „ungedeckte Wechsel auf die Zukunft“ zumindest dafür, dass „der Staat stets in der Lage (war), das von ihm bestellte Kriegsmaterial zu bezahlen“ (S. 130).
Obwohl sich der Großteil des vorliegenden Bandes unter Anführung zahlreicher markanter Beispiele mit der konkreten Lebenssituation der betroffenen Menschen, ihren Reaktionen und den Maßnahmen der Behörden – vor allem mit den ebenso verzweifelten wie unzureichenden Versuchen, dem allgegenwärtigen Hunger Abhilfe zu schaffen (so wurden etwa die Schulen im Mai 1916 von der Statthalterei zur „Sammlung von Maikäfern für Futterzwecke“ angehalten, um den Fehlbedarf an Futtermitteln auszugleichen, S. 108) – beschäftigt, hat es der Verfasser nicht verabsäumt, auf eine rechtliche Einrahmung der entsprechenden Vorgänge zu achten. Unter dem Titel „Recht und Verwaltung“ werden „die Organisation der staatlichen Verwaltung, die Kompetenzverteilung auf eine Reihe von Behörden und Organen wie auch die Rolle der Selbstverwaltung in den Gemeinden und autonomen Städten, den Bezirken und im Land“ (S. 21) knapp erläutert, mithin die Institutionen der Statthalterei, des Landeshauptmanns, des Landtags und des aus ihm hervorgehenden Landesausschusses, der Bezirkshauptmannschaften, der Gemeindeausschüsse mit den Gemeindevorständen und diverse Fachverwaltungen. Als „legistische(s) Instrument der Kriegführung“ fungierte § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung von 1867, der „unbehindert von parlamentarischen Querschüssen […] schon vor Kriegsbeginn zum ausschließlichen Regierungsinstrument (wurde)“ (S. 39). Besondere Beachtung wird ferner den revolutionären Vorgängen zuteil, die den Systemwechsel im Oktober/November 1918 initiierten und begleiteten, insbesondere der Rolle des auf einem breiten politischen Konsens etablierten 24-köpfigen Wohlfahrtsausschusses und seines 12-köpfigen Exekutivkomitees, deren Spitzen Arnold Eisler und Viktor Wutte als sodann von Ministerpräsident Max Hussarek von Heinlein offiziell ernannte Wirtschaftskommissäre „die Kompetenzen der Statthalterei“ übernahmen und „solcherart das Vakuum, das die Ohnmacht des Zentralstaates geschaffen hatte, durch eine Initiative aus dem Lande“ selbst ausfüllten (S. 159). Die am 6. November 1918 konstituierte Provisorische Landesversammlung des Landes Steiermark war sich offensichtlich schon darüber im Klaren, dass die vom Ende Oktober gegründeten „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS) beanspruchte Untersteiermark nicht im Land zu halten war, indem sie „mit der gewählten Gebietsdefinition zugleich ein(en) Verzicht auf die mehrheitlich von Slowenen bewohnten Territorien zum Ausdruck“ brachte und „die Bewahrung der Landeseinheit somit als Ziel aufgegeben worden (war)“ (S. 170). Über die weitere Entwicklung urteilt der Verfasser, dessen familiäre Wurzeln, wie er in seinem persönlich gehaltenen Vorwort darlegt (S. 7ff.), in der ehemaligen Untersteiermark liegen, mit merklicher Verbitterung: „Der gravierendste, niemals wettzumachende Verlust resultierte aus der im Frieden von St. Germain 1919 paktierten Abtrennung der Untersteiermark, als deren Folge das nunmehrige Bundesland Steiermark rund ein Drittel seiner früheren Fläche einbüßte; sein Territorium ging vom Vorkriegsstand von 22.426 km² auf die heutigen 16.401 km² zurück. Im abgetrennten südlichen Landesteil hatten vor dem Krieg knapp eine halbe Million Menschen gewohnt, von denen allerdings etliche tausend deutschsprachige Steirer, die nicht im nunmehrigen SHS-Königreich leben wollten oder konnten, nach 1918 in den Norden übersiedelten. Jene Deutschsteirer, die in ihrer Heimat verblieben, sahen sich mit einem abrupten Rollenwechsel konfrontiert: von einer bis dato politisch führenden und ökonomisch starken (auf die ganze Steiermark gesehen) Mehrheit zu einer im SHS-Staat unerwünschten und drangsalierten Minderheit herabgestuft. Abgesehen von diesen menschlichen Schicksalen wogen die ökonomischen Folgen der Teilung des Landes schwer. […] Aus der neuen Grenze zogen die südlich und nördlich davon lebenden Menschen keinerlei Nutzen; im Gegenteil. Sie mussten freilich bis zum EU-Beitritt Sloweniens 2004 warten, bis wenigstens diese jahrzehntelang spürbare Folge des Ersten Weltkriegs im Nebel der Geschichte verschwand“ (S. 176).
Mit Martin Molls „Steiermark im Ersten Weltkrieg“ liegt somit erstmalig eine monographische Aufarbeitung dieses Themas im spezifisch regionalen Kontext vor, deren Schwerpunktsetzung im Bereich der sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Krieges weitgehend von den verfügbaren Quellen geleitet ist und dabei Raum für zukünftige, anderweitig akzentuierte Betrachtungen lässt. Abgesehen vom Wert, den dieses vom Verlag mit hochwertigem Papier, zahlreichen Illustrationen – darunter mehreren ganzseitigen Tafeln in Farbdruck – und den üblichen wissenschaftlichen Nachweisen üppig ausgestattete Werk für die steiermärkische Landesgeschichte entfaltet, ist wohl ein weiteres, nicht minderes Verdienst darin zu sehen, dass es deutlich aufmerksam macht auf den häufig marginalisierten Umstand, dass sich im Ersten Weltkrieg - wie wohl in allen modernen Kriegen - neben den in die Kampfhandlungen unmittelbar involvierten Soldaten auch die Zivilbevölkerung abseits der Fronten einem ausgeprägten Leidensdruck ausgesetzt fand.
Kapfenberg Werner Augustinovic