Lang, Hubert, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848-1953). Verlag des Biographie-Zentrums, Leipzig 2014. 992 S., 300 Abb. Besprochen von Werner Schubert.
Lang, Hubert, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848-1953). Verlag des Biographie-Zentrums, Leipzig 2014. 992 S., 300 Abb.
Leipzig hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die deutsche Justiz- und Rechtsgeschichte eine herausragende Stellung, die insbesondere auf den hervorragenden Rechtswissenschaftlern an der Universität Leipzig und auf dem Reichsoberhandelsgericht/Reichsgericht beruhte. In diesem Zusammenhang spielten auch die jüdischen Justizjuristen und Rechtsanwälte am Reichsgericht und bei der Reichsanwaltschaft eine nicht unerhebliche Rolle. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Lang in seiner unter Lingelbach entstandenen Jenaer Dissertation des Jahres 2013 den Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig zwischen 1848 und 1953 angenommen hat. Lang geht aus von 289 Einzelschicksalen, die durch ein „zusammenfassendes Band erst von außen in diesen Personenkreis hineingetragen“ wurden, „nämlich durch Antijudaismus und Antisemitismus, so wie die Reaktionen der Betroffenen auf diese andauernde Ausgrenzung“ (S. 1). Untersucht wird, wie sich diese Ausgrenzung „für die Berufsgruppe der Juristen auswirkte“: Hierbei waren die regionalen Besonderheiten Leipzigs, die aus der hervorgehobenen Stellung in der Wirtschaft (Messe, Rauchwarenhandel, Verlage), in der Wissenschaft (Juristenfakultät) und in der Rechtsprechung (Reichsgericht) resultierten, zu beachten. Darzustellen waren auch „die Rückwirkungen, die sich aus der Ausgrenzung der Juristen jüdischer Herkunft für die Justiz und die Rechtswissenschaft selbst ergaben“ (S. 6) Damit handelt es sich „im Kern“, um eine Personengeschichte (S. 6). die erschlossen wird in sieben Abschnitten und einer Auswertung der Biogramme. Erfasst werden neben Justizjuristen, Rechtsanwälten und Notaren auch Juristen in anderen Berufen (S. 181ff.). Berücksichtigt werden nicht nur Juristen mit zweitem Staatsexamen, sondern auch Juristen, die 1933 ihre Ausbildung nicht mehr fortsetzen konnten (u. a. Entlassung von Referendaren). Auch Juristen, die als sog. Mischlinge ersten und zweiten Grades galten, werden in die Untersuchungen mit einbezogen.
Dem Abschnitt über die juristische Ausbildung (S. 11-50) ist zu entnehmen, dass sich zwischen 1825 und 1838 die Immatrikulation vierer Studenten jüdischer Herkunft nachweisen lässt (S. 21). Der prozentuale Anteil der jüdischen Studenten betrug zwischen 1878 und 1933 7,14% der Immatrikulationen an der Leipziger Juristenfakultät und blieb damit „weit hinter den Verhältnissen in Berlin zurück“ (S. 24). Von den 289 erfassten Juristen jüdischer Herkunft waren 216 promoviert (74,7%). Auch nach 1933 erfolgten noch Promotionen von Juristen jüdischer Herkunft (S. 43ff.). Im Abschnitt „Akademiker“ (S. 51-62) geht es um die Juristen an der Leipziger Juristenfakultät (hierzu auch die Anlage H, S. 904f.). Der erste Jurist jüdischer Herkunft an der Fakultät war der angesehene Kirchenrechtler Emil Friedberg (S. 51). Insgesamt konnten 15 Habilitationen ermittelt werden (insbesondere des Prozessrechtlers Albert Mendelssohn Bartholdy und von Ernst Rabel, Edwin Jacobi, Walter Jellinek, Eugen Rosenstock und von Andreas Bertalan Schwarz sowie von Guido Kisch [bei Adolf Wach] sowie von Hermann Heller [Umhabilitation]). Einige der Habilitanden gehörten dem von Ludwig Mitteis begründeten Kreis junger Gelehrter an. Gegner des Nationalsozialismus waren u. a. der Konkursrechtler Ernst Jaeger und Heinrich Siber (S. 56). Karl Pollak, der 1933 als Referendar am Kammergericht entlassen wurde, bekam 1948 einen Lehrstuhl für allgemeine Staatslehre sowie für Staats- und Völkerrecht an der Leipziger Juristenfakultät (S. 545f.). Zum Abschnitt „Justizjuristen und Rechtsanwälte am Reichsgericht“ (S. 63-91) ist darauf hinzuweisen, dass am Reichsoberhandelsgericht/Reichsgericht zwischen 1870 und 1945 38 Räte/Senatspräsidenten und zehn Rechtsanwälte jüdischer Herkunft tätig waren, allen voran Eduard von Simson, der erste Präsident des Reichsgerichts (S. 69, 599f.). Aus dem Abschnitt „Advokaten/Rechtsanwälte und Notare“ (S. 93-162) ergibt sich, dass für diese Personengruppe 95 Juristen jüdischer Herkunft ermittelt werden konnten (für die Zeit von 1834 bis 1848 vier Zulassungen). Bedrückend zu lesen sind die Passagen über die Ausschaltung der Rechtsanwälte und Notare jüdischer Herkunft ab 1933, die spätestens 1938 ihre Zulassung verloren. Einem Großteil von ihnen gelang die Emigration, von denen einige wenige aus der Emigration in die sowjetische Besatzungszone und in die Gebiete der späteren Bundesrepublik zurückkehrten und hier neue Zulassungen erhielten. Erwähnt sei Martin Drucker – ein Elternteil war jüdischer Abstammung –, der von 1924 bis 1932 Präsident des Deutschen Anwaltvereins war und 1933 das Notariat verlor, jedoch trotz zahlreicher Behinderungen die Anwaltstätigkeit weiter ausüben konnte, bis er 1944 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde (S. 308f.; Wiederzulassung bereits 1945).
Der VI. Abschnitt befasst sich mit den Justizjuristen am Amts- und Landgericht Leipzig (S. 163-180). Wie bei der Zulassung jüdischer Rechtsanwälte wurde die Ernennung jüdischer Richter, und zwar auch nach 1918, sehr restriktiv gehandhabt (S. 163). Dem Abschnitt über Juristen in anderen Berufen (Verwaltung, Kunst und Kultur, S. 181ff.) kann man entnehmen, dass der promovierte Jurist Alwin Kronauer das Leipziger Alte Theater zu „einer der führenden Bühnen Deutschlands“ machte (S. 439f.). S. 186ff. beschreibt Lang das Verhalten und das Schicksal von sechs nicht jüdischen Juristen in Mischehen. Im VIII. Kapitel erfolgt die Auswertung der Biogramme (S. 197-244), bei der Lang auch auf „Ehe und Familie“ der Juristen jüdischer Herkunft eingeht (S. 203ff.). Ferner wird auch die Tätigkeit von jüdischen Juristen in den Leipziger Religionsgemeinden und die Mitgliedschaft in den politischen Parteien (vornehmlich in liberalen, sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, S. 234) behandelt. In den 289 Biogrammen werden auch die Juristen berücksichtigt, die in Leipzig nur zeitweise beruflich tätig waren. Die Juristen, die nur in Leipzig studiert und/oder promoviert haben, sind in der chronologischen Promotionsliste (S. 645ff.) und in der alphabetischen Liste der Studenten jüdischer Herkunft an der Leipziger Juristenfakultät aufgeführt (S. 678-881; mit zahlreichen Hinweisen auf deren Biografie in den Fußnoten). Es folgen u.a. chronologische Verzeichnisse der in Leipzig zugelassenen Rechtsanwälte und Notare jüdischer Herkunft (S. 887ff.) und der Justizjuristen jüdischer Herkunft (S. 899ff. für das Amts- und Landgericht Leipzig; S. 904 für das Reichsoberhandelsgericht/Reichsgericht) sowie der Juristen jüdischer Herkunft an der Juristenfakultät Leipzig (S. 904ff.) und die in den Biogrammen erfassten Juristen hinsichtlich „Ehe und Familie“ (S. 906-914).
Bei den überaus reichhaltigen Biogrammen trifft man u. a. auf Hans von Dohnanyi, der von 1938-1941 RG-Rat war und wegen seiner Beteiligung an der Vorbereitung des nicht erfolgten Attentats auf Hitler durch v. Schlabrendorff und H. v. Treskow 1945 im KZ Sachsenhausen ermordet wurde (S. 305), auf Levin Goldschmidt (Handelsrechtler; Mitglied der BGB-Vorkommission), der sich in Heidelberg habilitierte, auf Leo Rosenberg, der von 1932-1934 den prozessrechtlichen Lehrstuhl seines Vorgängers Richard Schmidt innehatte (S. 559) und auf den Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der 1933 noch das zweite juristische Staatsexamen ablegte (1948-1953 Inhaber von literaturgeschichtlichen Lehrstühlen in Leipzig; S. 497 f.). Aus den Biogrammen ergibt sich, dass außer den Hochschuljuristen insbesondere auch die jüdischen Rechtsanwälte schriftstellerisch tätig waren. Das Werk wird abgeschlossen mit einem umfangreichen Personenregister, zu dem noch das alphabetische Studentenregister mit zu berücksichtigen ist. Die chronologische Promotionsliste ist leider nicht alphabetisch erschlossen.
Mit seinem Werk hat Lang die Geschichte der in Leipzig tätig gewesenen Juristen jüdischer Herkunft für die Zeit zwischen 1848 und 1953 – weitgehend narrativ mit einer Vielzahl von Tabellen (Verzeichnis S. VII) – rekonstruiert und damit einen wichtigen Beitrag auch zur deutschen Justiz- und Rechtsgeschichte der Kaiserzeit, Weimarer Zeit und vor allem der NS-Zeit erbracht. Es ist zu wünschen, dass vergleichbar breite Untersuchungen über die jüdischen Juristen in weiteren deutschen Großstädten wie Hamburg, München oder Köln in Angriff genommen werden.
Kiel
Werner Schubert