Das „Dritte Reich“ 1933-1945, hg. v. Wollstein, Günter (= Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe Neuzeit 9). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 463 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Das „Dritte Reich“ 1933-1945, hg. v. Wollstein, Günter (= Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe Neuzeit 9). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 463 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Günter Wollsteins Idee einer repräsentativen Zusammenstellung von Quellen zum politischen Denken in der Ära des Nationalsozialismus reicht über drei Jahrzehnte zurück. Bereits 1980 hat der bis 2004 Neuere Geschichte in Köln lehrende Historiker dem Verlag entsprechendes, von ihm zusammengetragenes Dokumentenmaterial präsentiert; dass damals eine Veröffentlichung nicht zustande kam, soll in erster Linie daran gelegen haben, dass „vor allem viele willige Helfer und unentbehrliche Stützen des ‚Dritten Reichs‘ oder deren Erben sich auf den in der Bundesrepublik geltenden Autorenschutz beriefen, Abdruckrechte verweigerten und damit eine repräsentative Edition verhinderten“, was der Herausgeber noch heute „als einen empörenden Eingriff in seine Rechte als Autor an(sieht), der sich mit dieser Edition verpflichtet fühlt, in innovativer Weise die Kenntnisse über die NS-Zeit auszubauen“ (S. 52). Die aktuelle, über 150 Einzeldokumente unter 125 Nummern verzeichnende Materialsammlung sei nun „eine völlige Neufassung“, obwohl, wie ihre Durchsicht zeigt, die Schatten der Vergangenheit auch vor der Gegenwart nicht haltmachen: So durften die aus dem Sommer 1933 datierenden, unter den laufenden Nummern 18b bzw. 18c aufgenommenen Aufsätze der katholischen Theologen Mirgeler und Adam, da nicht zum Wiederabdruck freigegeben, aber vom Herausgeber als zentral wichtig erachtet, nur in Form paraphrasierender Zusammenfassungen abgedruckt werden.
Die Edition folgt der Überlegung, dass unter dem Nationalsozialismus „Aktionen gleichermaßen wie politisches Denken, das in Absichtserklärungen oder theoretischen Erörterungen zum Ausdruck kam, die praktizierte totalitäre Politik formten, setzte doch politisches Handeln stets auch gedankliche Impulse zur weiteren Gestaltung der Politik frei, wie umgekehrt die jeweiligen politischen Analysen als Handlungsanweisung und als Eröffnung neuer Aktionen galten“. Gerade weil die NS-Weltanschauung als solche kein logisch durchdachtes, in sich konsistentes System darstelle, seien ihre Vertreter in ihrem rastlosen Aktionismus „auf vielfältige gedankliche Hilfen von außen angewiesen“ gewesen: „Zum einen schöpften sie beim Aufbau ihrer politischen Leitvorstellungen inklusive Rasse-Raum-Programm umfassend aus gedanklichen Vorlagen von Denkern des 19. Jahrhunderts. Zum anderen ließen sie sich in ihrer ‚Kampfzeit‘ wie in den Jahren der Hitler-Diktatur vielfach tragen von parallelen gedanklichen Erwartungen bürgerlicher Intellektueller mit entsprechenden Akklamationen“ (S. 20).
Um den Rahmen seiner Dokumentensammlung nachvollziehbar zu definieren, versucht Günter Wollstein mit Hilfe einer knapp 40 Seiten umfassenden Einleitung jene historisch-politischen Entwicklungen herauszuarbeiten, die später den Erfolg des Nationalsozialismus begünstigten und möglich machen sollten. Er verweist vor allem auf die Defizite in der politischen Kultur des Kaiserreiches, sodass „um die Jahrhundertwende ein Epochenwechsel und Modernisierungsschub anstand, der letztendlich zeitgenössisch nicht bewältigt wurde“. Die dabei generierten „Ängste vor einer ungewissen Zukunft, verbunden mit politischen und ideellen Erklärungsnöten in einer kompliziert erscheinenden Welt […] machten die Jahre um die Jahrhundertwende und vor dem Weltkrieg zur Krise“ (S. 24). Als besonders schädlich sollte sich in diesem Zusammenhang das Phänomen einer „auffälligen Milieu- und Lagerbildung“ in Deutschland erweisen: „Bürger, bisweilen in der Gesellschaft selbstbewusst und aktiv auftretend, verkrochen sich geradezu in ihren Milieus, hinter denen nicht selten die Parteien standen, ausgerichtet auf die Interessen der jeweils eigenen Klientel und mit wenig Verantwortungsgefühl ausgestattet. […] Gewonnen werden sollte jene Ruhe und Geborgenheit, die ‚draußen‘ eine pluralistische Zeit mit unheimlich anmutenden Veränderungen nicht bieten konnte. Zur Legitimierung und Gestaltung der Milieus wurden allenthalben historische Reminiszenzen verwendet […]. Die Angehörigen solcher Milieus wurden selten zu selbständigen Staatsbürgern, verharrten vielmehr in der Position von Hintersassen, die zu vermeintlich schützenden Partei- oder Verbandsführern aufschauten. […] In der Weimarer Republik […] wurde es […] Mode, nach Schuldigen an der Misere zu suchen sowie […] nach von außen kommenden Rettern und Heilsbringern“ (S. 32). Von dieser mangelnden demokratischen Reife profitierend, konnte der Nationalsozialismus entsprechende Angebote legen, die vor allem bürgerlichen Kreisen mehr Identifikationspotential boten als die bedrohliche Alternative des radikalen Bolschewismus. Der Kenner der Materie wird im Hintergrund dieser Überlegungen die traditionellen wissenschaftlichen Faschismustheorien wahrnehmen, ohne dass diese vom Herausgeber ausdrücklich angesprochen werden.
Die hier angedeutete Breite des Ansatzes bedingt zwangsläufig, dass sich Günter Wollstein in der dokumentarischen Aufnahme des politischen Denkens der nationalsozialistischen Epoche nicht allein auf entsprechende Zeugnisse der Machthaber beschränken konnte, sondern im Dienst eines umfassenden Bildes auch das Spektrum kollaborierender wie Widerstand artikulierender Gruppen abzudecken sucht. Die ersten vier der chronologisch geordneten Dokumente (Programm der NSDAP, Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“, seinem „Zweiten Buch“ sowie aus Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“) stammen aus der Zeit vor der Machtergreifung, alle weiteren aus den Jahren der NS-Herrschaft. Hier kommen Funktionäre und Systemvertreter aller Ebenen – an der Spitze neben Hitler vor allem Himmler und Goebbels – zu Wort, ferner Proponenten der konservativen Rechten, der Kommunisten und der Sozialdemokratie. Besondere Aufmerksamkeit wird den Themenfeldern der Jugend, des Sportes, der Frauen, der christlichen Religionen, von Kunst und Wissenschaft mit dem Fokus auf Schriftstellern und Historikern zuteil, weitere Texte entstammen dem Widerstand, dem Exil und dem bedrängten Judentum. Enorm ist die Vielfalt der präsentierten Textsorten, die eine Bandbreite vom Gedicht bis zum Manifest, vom Hirtenbrief bis zur Buchrezension und vom Armeebefehl Mansteins bis zu den Flugblättern der Weißen Rose aufweist. Ihre Aufmachung umfasst jeweils die laufende Nummer des Dokuments im Rahmen der Edition, die Nennung der Textsorte, des Verfassers oder des Mediums, ein inhaltliches Regest, den Quellennachweis in Kurzform, die Datierung und den auszugsweise oder vollständig abgedruckten Text. Weitere Aufschlüsse liefert das Dokumentenregister in Verbindung mit dem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personenverzeichnis.
Die in den Band aufgenommenen Schriften von speziell rechtsgeschichtlicher Bedeutung sind spärlich und weitgehend hinlänglich bekannt. Es handelt sich dabei zunächst um einen zweiseitigen Auszug aus Ernst Forsthoffs „Der totale Staat“ aus 1933 (Dok. 7). Carl Schmitt erscheint, jeweils ungekürzt, erst mit seinem Schlusswort auf der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“ vom 4. Oktober 1936 (Dok. 45), ferner mit einem etwa vierseitigen, „Die Raumrevolution“ betitelten Artikel der Zeitschrift „Das Reich“ vom 29. September 1940 (Dok. 81); in der mit einer zusätzlichen Seite Umfang besonders ausführlichen Anmerkung zu Letzterem wird ergänzt und durch ein ausführliches Textzitat belegt, dass Schmitt „bereits in einem Vortrag an der Kieler Universität am 1. 4. 1939 an den Reichsgedanken anknüpfende Großraumideen vertrat und Grundzüge eines entsprechenden, auf das ‚Großdeutsche Reich‘ zugeschnittenen Völkerrechts entwarf“ (S. 324f., Fußnote 74). Da es der Herausgeber grundsätzlich unterlässt, Kommentare zu den Verfassern der edierten Texte zu placieren, unterbleibt aber jeglicher Hinweis auf die von Angriffen der SS gegen ihn gekennzeichnete, nicht unangefochtene Position Schmitts im NS-Staat. Kernelemente des nationalsozialistischen Strafrechts erläutert der in der „Deutsche(n) Justiz“ 1938 veröffentlichte Aufsatz Roland Freislers „Vom Schutzzweck der Strafrechtspflege gegenüber Volksschädlingen“, der auf drei Druckseiten in geraffter Form wiedergegeben ist (Dok. 55). Ebenfalls gekürzt und ungefähr im selben Umfang findet sich schließlich die am 20. Juli 1942 an der Münchener Universität gehaltene Rede Hans Franks mit ihrem Plädoyer für die Beibehaltung einiger essentieller rechtsstaatlicher Standards (Dok. 99), die „seine Entbindung von allen parteiinternen Ämtern“ (S. 367, Fußnote 92) zur Folge haben sollte.
Diese Edition fügt sich in ihrer Gesamtheit organisch ein in eine Reihe bereits publizierter Quellenbände der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zur NS-Zeit unter dem Dach der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Sie dokumentieren die Innenpolitik 1933 – 1939 (Bd. 33, Günter Wollstein 2001), die Außenpolitik 1933 – 1939 (Bd. 34, Friedrich Kießling 2000), die Geschichte des Zweiten Weltkrieges (Bd. 34a, Michael Salewski 1998) und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Dritten Reichs (Bd. 39 in 2 Teilbänden, Walter Steitz 2000); noch nicht realisiert, aber vom Herausgeber mit Hinblick auf Hitlers Selbstverständnis als Künstler für wünschenswert erachtet ist zudem ein eigener Band zur NS-Kulturpolitik.
Kapfenberg Werner Augustinovic