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Clark, Christopher, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert. 10. Aufl. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013. 895 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Clark, Christopher, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert, 10. Aufl. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013. 895 S. Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Die Protagonisten von 1914 (waren) Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten“ (S. 718). Mit diesem stark metaphorisch aufgeladenen Diktum setzt der Verfasser der vorliegenden Studie einen tönenden Schlussakkord und fasst noch einmal wirkmächtig zusammen, worum es ihm in seiner Arbeit geht: Um das Erfassen und Darlegen der Komplexität einer spezifischen historischen Gemengelage, deren Explosivität aus zahlreichen, schwer zu überschauenden und kaum kalkulierbaren Interdependenzen resultierte. Nicht primär Machtgier und böser Wille, sondern Vorurteile, mangelnde Empathie, ein den Erfordernissen der Zeit nicht mehr adäquates Denken und Handeln hätten die Staaten, vertreten durch ihre oft überforderten Akteure, in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs gleichsam taumeln lassen. Ein differenzierter Blick auf das Ganze mache somit deutlich, dass man den Weg dorthin mitnichten als eine Einbahnstraße wahrnehmen dürfe, aus der es kein Zurück gegeben hätte; die Katastrophe sei vielmehr „nicht gewolltes, auch vermeidbares Ergebnis einer dichten Folge von Ereignissen und Entscheidungen in einer durch vielfältige Beziehungen und Konflikte verflochtenen Welt“ (Umschlagtext) gewesen.

 

Kennern der Materie wird die erhebliche Brisanz eines solchen Gedankenganges nicht entgangen sein, der mit Sicherheit nicht ohne Auswirkung auf die Beantwortung der Kardinalfrage bleiben kann, die Politiker wie Historiker seit jeher umgetrieben hat: Wem ist die Schuld an diesem Krieg zuzuschreiben? Die oktroyierte Antwort, die der umstrittene Artikel 231 des Versailler Vertrages bereithielt, der das Deutsche Reich und seine Bündnispartner als Alleinverantwortliche in die Pflicht nahm, war ein Taktgeber auf dem Weg in die Diktatur und in einen weiteren Weltkrieg, dessen Ergebnis umso mehr jene Positionen zu stärken schien, die in der in den 1960er Jahren von Fritz Fischer und seinen Schülern ventilierten These vom systematisch geplanten deutschen Griff nach der Weltmacht ihren prononciertesten Ausdruck finden und nach heftiger Kontroverse in abgeschwächter Form bis heute die Sichtweise des historiografischen Mainstreams prägen sollte. Wer daran zweifelte, setzte sich gleichsam automatisch dem Verdacht aus, einer Rechtfertigung der imperialistischen Züge des preußischen Militarismus das Wort zu reden. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich mit Christopher Clark kein deutscher, sondern ein angelsächsischer Vertreter des Fachs an dieses Tabu heranwagt und durch neue Perspektiven Bewegung in eine lange erstarrte Denkfront gebracht hat.

 

Erfreulich ist dabei, dass die Studie an keiner Stelle den Eindruck vermittelt, es gehe ihrem Verfasser um einen Tabubruch um des Tabubruchs willen. Der aus Australien stammende Professor für Modern European History in Cambridge ist durch seine bisherigen Arbeiten, insbesondere durch seine Biographie Wilhelms II. („Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers“, 2008) und seine Geschichte Preußens („Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947“, 2007), sowie als Mitglied der Preußischen Historischen Kommission als vorzüglicher Kenner der deutschen und auch der europäischen Diplomatie der betreffenden Epoche ausgewiesen und hat mit bewundernswertem Fleiß und höchstem Sachverstand Material aus britischen, französischen, russischen, serbischen, belgischen, niederländischen, deutschen und österreichischen Archiven gesichtet. Die Kriegsschuldfrage umschifft er mit kriminalistisch-juristischem Vokabular pragmatisch, nicht ideologisch, wenn er fragt: „Ist es wirklich nötig, dass wir ein Plädoyer gegen einen einzigen, schuldigen Staat halten oder eine Rangordnung der Staaten nach ihrem jeweiligen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch aufstellen? […] Eine Darstellung, die sich in erster Linie mit der Schuldfrage befasst, ist nicht deswegen problematisch, weil sie am Ende eventuell der falschen Partei die Schuld gibt, sondern weil ein schuldorientiertes Untersuchungsmodell oft mit Vorurteilen einhergeht [… und] zu der Prämisse (neigt), dass in konfliktreichen Interaktionen ein Protagonist letztlich Recht und der andere Unrecht haben muss. […] Ferner hat dieser anklägerische Ansatz den Nachteil, dass das Blickfeld eingeengt wird, indem man sich auf das politische Temperament und die Initiativen eines bestimmten Staates konzentriert, statt auf einen multilateralen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung. Dann stellt sich das Problem, dass die Ermittler bei der Schuldsuche dazu neigen, die Aktionen der Entscheidungsträger als geplant und von einer kohärenten Absicht getrieben zu konstruieren. Man muss den Beweis erbringen, dass jemand den Krieg wollte und darüber hinaus verursachte. In der Extremform bringt diese Vorgehensweise Konspirationsnarrative hervor […]. Die moralische Befriedigung, die dieser Ansatz bereitet, ist nicht zu bestreiten, und es ist natürlich logisch gesehen nicht ausgeschlossen, dass der Krieg im Sommer 1914 auf diese Weise zustande kam, aber hier wird die Ansicht vertreten, dass die vorliegenden Quellen eine derartige Argumentation nicht erhärten“ (S. 715f.). So habe man denn auch, um tatsächlich zu Erkenntnissen zu gelangen, methodisch zunächst und in erster Linie nach dem Wie zu fragen, woraus sich dann gegebenenfalls Rückschlüsse auf ein Warum ziehen ließen.

 

Der sich über mehr als 700 Druckseiten erstreckende, gelegentlich durch Illustrationen - mit Masse Porträtbilder relevanter Akteure - aufgelockerte Textfluss „zeichnet die Pfade zum Krieg in einem mehrschichtigen Narrativ nach, das die wichtigsten Entscheidungszentren in Wien, Berlin, St. Petersburg, Paris, London und Belgrad umfasst, mit kurzen Exkursionen nach Rom, Konstantinopel und Sofia“ (S. 18). Dabei charakterisiert der erste von insgesamt drei Teilen der Darstellung Serbien („Serbische Schreckgespenster“) und Österreich-Ungarn („Das Reich ohne Eigenschaften“) als die konfliktauslösenden Streitparteien, der zweite und gleichzeitig umfangreichste die europäische Bündnispolitik 1887/1907 („Polarisierung“) und die Verwicklungen, Chancen und Gefahren auf dem Balkan. Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 und die folgende, dem Krieg vorausgehende Julikrise - laut Verfasser das „komplexeste Ereignis der Moderne“ (S. 717) - sind Gegenstand des letzten Abschnitts.

 

Seine grundsätzliche Position bringt der Verfasser unmissverständlich im folgenden Satz zum Ausdruck: „Kein einziges der Anliegen, für die die Politiker von 1914 stritten, war die darauffolgende Katastrophe wert“ (S. 717). Ohne hier auf weitere Einzelheiten näher eingehen zu wollen, lässt die Darstellung in ihrer Gesamtheit Verständnis für berechtigte Satisfaktionsansprüche Österreich-Ungarns gegenüber den serbischen Provokationen erkennen, denen jedoch seinerzeit von den Großmächten, den kolportierten, sich selbst erfüllenden politischen Mythen vom „absterbenden Imperium“ und der unausweichlichen Automatik der Bündnisse aufsitzend, jegliche Unterstützung versagt wurde. Als etwa der französische Staatspräsident Raymond Poincaré vom 20. bis zum 23. Juli 1914 seinen Staatsbesuch beim russischen Zaren Nikolaus II. in St. Petersburg absolvierte, ließen die Quellen „zu keiner Zeit […] darauf schließen“, dass die Gesprächspartner „überhaupt einen Gedanken daran verschwendeten, welche Maßnahmen Österreich-Ungarn eigentlich mit vollem Recht im Zuge der Morde treffen könnte“. Poincaré „blieb einfach auf dem Kurs, auf den er seit dem Sommer 1912 hingearbeitet hatte [… und] nannte das eine Politik des Friedens, weil er davon ausging, dass Deutschland und Österreich angesichts einer so unerschrockenen Solidarität wohl einen Rückzieher machen würden. Aber wenn alles schiefging, gab es Schlimmeres als einen Krieg an der Seite des mächtigen Russlands und der, wie man hoffte, Militär-, See-, Handels- und Industriemacht Großbritannien“ (S. 576f.). Auch diese unternahm in der Person Edward Greys, der „im Foreign Office in den Jahren vom Dezember 1905 bis Dezember 1916 das Sagen hatte“ und „zweifellos der einflussreichste Außenminister im gesamten Vorkriegseuropa“ (S. 266) war, „keine Prüfung oder Abwägung der österreichischen Anklagen gegen Serbien, ja er zeigte nicht das geringste Interesse daran, und das nicht etwa, weil er die serbische Regierung für unschuldig hielt, sondern weil er stillschweigend die französisch-russische Sichtweise akzeptiert hatte, dass die österreichische Drohung gegen Serbien lediglich […] ein ‚Vorwand‘ sei, um den casus foederis auszulösen“ (S. 636). Anhand dieser Beispiele wird auch deutlich, wie stark der Verfasser das Agieren „handlungsfähige(r) und –bereite(r) Entscheidungsträger“ (S. 17) auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Überzeugungen, deren Entstehung er akribisch herauszuarbeiten weiß, betont, ein besonderes bemerkenswertes Spezifikum dieses Buches. Der Hang zur Personifizierung verleiht dem fesselnd zu lesenden Werk zudem Spannung und Plastizität. Den Charakter der berühmten, zwischen den Cousins Wilhelm II. und Nikolaus II. auch im Zuge der drohenden russischen Generalmobilmachung ausgetauschten „Willy-Nicky-Telegramme“ setzt Christopher Clark ins rechte Licht: „Weder geheim […] noch privat“ seien diese gewesen, sondern lediglich „diplomatische Kurierpost in der Form privater Korrespondenz“, bei der die Monarchen „die Übermittler, nicht die Urheber der ausgetauschten Signale“ gewesen seien, und deren Existenz „die monarchische Struktur der europäischen Exekutiven wider(spiegelt), nicht die Macht der jeweiligen Monarchen, die Politik zu beeinflussen“ (S. 656).

 

Abschließend sei noch ein letztes typisches Merkmal der „Schlafwandler“ hervorgehoben, nämlich ihre zeitliche Offenheit. Mechanismen, wie sie in den Ersten Weltkrieg führten, sieht der Verfasser auch in gegenwärtigen Krisen am Werk, und vielleicht ist es der wertvollste Ertrag seiner Arbeit, für die Gefahren zu sensibilisieren, die womöglich kleine, isoliert erscheinende Krisenherde in einem komplexen Geflecht vielfältiger und unüberschaubarer Interessenslagen in sich bergen. Gedankenstränge verbinden die Welt von 1914 mit dem drohenden Atomkrieg (S. 717f.) ebenso wie mit der Eurokrise: „Alle wichtigen Protagonisten hofften, dass es nicht so weit kommen würde, aber neben diesem gemeinsamen Interesse hatten sie auch besondere – und widersprüchliche – eigene Interessen. In Anbetracht der Wechselwirkungen im ganzen System hingen die Konsequenzen jeder Maßnahme von den Reaktionen anderer ab, die wegen des undurchsichtigen Entscheidungsprozesses kaum im Voraus berechnet werden konnten“ (S. 709).

 

Angesichts des anhaltenden enormen Verkaufserfolgs des im englischen Original „The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914“ betitelten, seit 2013 auch in deutscher Übersetzung vorliegenden und nunmehr bereits in der zehnten Auflage gedruckten Werks hieße es Eulen nach Athen tragen, an dieser Stelle weiteres Lob auszubreiten. Stattdessen sei es erlaubt, mit der kritischen Frage zu schließen, welche Gründe die nun staunenden, etablierten opinion leaders der historischen Zunft bis dato daran gehindert haben könnten, längst das zu leisten, was im Lichte von Clarks jüngster Publikation als das Selbstverständlichste schlechthin erscheint: ein so zentrales, ohne Zweifel hoch komplexes Phänomen wie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs über den Tellerrand (national)staatlicher Verengung zu heben und unter multiperspektivischen europäischen Blickwinkeln neu zu erhellen?

 

Kapfenberg                                         Werner Augustinovic