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Birndorfer, Franz, Der erstinstanzliche Prozessalltag von 1938 bis 1949 anhand der Ehescheidungsakten des Landgerichts Amberg zu § 55 EheG 1938 und § 48 EheG 1946 (= Rechtskultur Wissenschaft 11). Edition Rechtskultur, Regenstauf 2013. 443 S. Zugleich Diss. jur. Regensburg 2013. Besprochen von Werner Schubert.

Birndorfer, Franz, Der erstinstanzliche Prozessalltag von 1938 bis 1949 anhand der Ehescheidungsakten des Landgerichts Amberg zu § 55 EheG 1938 und § 48 EheG 1946 (= Rechtskultur Wissenschaft 11). Edition Rechtskultur, Regenstauf 2013. 443 S. Zugleich Diss. jur. Regensburg 2013. Besprochen von Werner Schubert.

 

Untersuchungen zur Ehescheidungspraxis der Landgerichte zwischen 1938 und 1948 insbesondere zu § 55 EheG (§ 48 EheG 1946) liegen bisher kaum vor, so dass es zu begrüßen ist, dass sich Birndorfer in seiner Regensburger Dissertation dieser Thematik für das Landgericht Amberg angenommen hat. Grundlage der Untersuchungen sind die nahezu vollständig erhalten gebliebenen Prozessakten des Landgerichts Amberg zur Zerrüttungsscheidung (55 Verfahren für die Zeit bis Kriegsende). Im ersten Teil der Untersuchungen geht Birndorfer auf die Entstehungsgeschichte des § 55 EheG ein (S. 24-39; hierzu auch die Quellen bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen, Paderborn 1993, S. 120ff.). Es folgt ein Abschnitt über „Einflussnahme und Gleichschaltung“ (S. 40-63) und über den „Umgang mit dem neuen Recht“ (S. 64-80) durch das Reichsgericht, das in seiner grundsätzlichen Entscheidung vom 17. 4. 1939 „die Nichtbeachtung des Widerspruchs“ nicht als „Ausnahme von einer in § 55 Abs. 2 zu suchenden Regel, sondern vielmehr die Rückkehr zur Regel des ersten Absatzes“ sah (RGZ 160, 144, 147). Allerdings verfolgte das Reichsgericht keine einheitliche Linie (hierzu Kathrin Nahmmacher, Die Rechtsprechung des RG und der Hamburger Gerichte zum Scheidungsgrund des § 55 EheG 1938 in den Jahren 1938 bis 1945, 1999, S. 115ff., 127ff.) insbesondere in späteren Entscheidungen, so dass sich die Instanzgerichte an eine konsequente Anwendung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von § 55 Abs. 1 zu § 55 Abs. 2 S. 2 EheG gebunden fühlten.

 

Auf den Seiten  81-228 befasst sich Birndorfer detailliert mit der Judikatur des Landgerichts Amberg mit den auf § 55 EheG gestützten Ehescheidungsklagen. Amberg hatte 1939 rund 28.900 Einwohner, von denen 81,1% katholisch, und 17% evangelisch waren. Die Entfernung zu Nürnberg (hier das zuständige Oberlandesgericht) beträgt ca. 60 km. Hilfreich wäre es gewesen, wenn Birndorfer noch einige Details zum Landgericht Amberg gebracht hätte (Gerichtspräsidenten, Kammern und deren Zusammensetzung). Im Einzelnen geht Birndorfer im Abschnitt über die „statistischen Erhebungen“ zu den Scheidungsverfahren u. a. auf die Entwicklung der Verfahrenszahlen und der Scheidungsquote, die Verteilung der ausgesprochenen Scheidungen nach den §§ 49, 47, 47/49 und 55 EheG und auf die Verfahrensdauer ein. Im Durchschnitt wurden 17% der Scheidungsklagen auf § 55 EheG gestützt, denen ganz überwiegend stattgegeben wurde. Die Analyse der Verfahren und Urteile zu § 45 EheG befasst sich u. a. mit den Parteien, dem Armenrechtsverfahren und Sühneverfahren, der Anzahl der mündlichen Verhandlungen und geladenen Zeugen, dem Umfang der Akten und der Urteile sowie der Einlegung von Rechtsmitteln. Kernpunkt der Untersuchungen ist die Entwicklung der Judikatur des Landgerichts Amberg zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des § 55 EheG (Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft, unheilbare Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft, Zulassung und Beachtlichkeit des Widerspruchs sowie der Umgang mit NS-Ideologie und Argumentation in den Verfahren). Nach Birndorfer wurde in der überwiegenden Zahl der Urteile eine nationalsozialistische Terminologie verwendet, so dass – unabhängig davon, ob die Richter überzeugte Nationalsozialisten waren oder nicht – das Landgericht Amberg auch insoweit ein „integraler Bestandteil“ des nationalsozialistischen Regimes war. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zumindest in drei Verfahren wohl „Gefälligkeitsurteile“ ergingen, von denen eine Entscheidung zugunsten eines „scheinbar gut vernetzten NSDAP-Mitglieds“ erfolgte (vgl. S. 167).

 

Im zweiten Teil des Werks (für die Zeit von 1945-1949) geht Birndorfer zunächst ein auf die gesellschaftliche Entwicklung nach dem Flüchtlingsstrom und auf die Entnazifizierung der Nürnberger Juristen im Allgemeinen und auf den Wiederaufbau der Justiz (S. 230-264). Auch hier vermisst man einen Abschnitt über die Reorganisation des Landgerichts Amberg. Entsprechend der Gliederung im ersten Teil resümiert Birndorfer zunächst die höchstrichterliche Judikatur zum Zerrüttungstatbestand des § 48 des EheG von 1946, der bis auf dessen Abs. 3 mit § 55 EheG (1938) übereinstimmt. Das Ehescheidungsverfahren wurde nicht mehr als „gezieltes Instrument der Bevölkerungspolitik“ angesehen und die verschuldensunabhängige Scheidung gegenüber der NS-Zeit eingeschränkt, bis sie der Bundesgerichtshof „praktisch unmöglich“ machte (S. 283). Der umfangreiche Abschnitt über die Scheidungsverfahren vor dem Landgericht Amberg zwischen 1946 und 1949 folgt der Gliederung der Darstellung für die NS-Zeit (S. 285-344). In den Verfahren zu § 48 EheG spielte die „Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft“ eine nicht unerhebliche Rolle. Entgegen der obergerichtlichen Judikatur, die zu einer „Klageabweisung bei Erhebung des Widerspruchs“ tendierte (S. 430), hielt das Landgericht Amberg 19 Widersprüche (bei insgesamt 34 Widersprüchen) für unbeachtlich. Im dritten Teil geht es um das persönliche Verhalten der Juristen (Richter und Rechtsanwälte) im Untersuchungszeitraum (S. 348-412). Bedauerlich ist, dass Birndorfer hinsichtlich der Auswertung der Personalakten die Anonymisierung der Richter vorgegeben war (S. 347), wodurch die Anschaulichkeit der Darstellung beeinträchtigt wird. Das Prozessverhalten wurde nur für vier Anwälte ausgewertet, die am häufigsten in den Verfahren nach § 55 (48) EheG (in 161 Verfahren) aufgetreten sind. Eine Einsicht in die Rechtsanwaltskammer-Akten dieser Rechtsanwälte war nicht möglich (S. 347); stattdessen konnte Birndorfer die einschlägigen Spruchkammer-Akten auswerten. Am „Anfang und Ende des Untersuchungszeitraums“ war die Landgerichtskammer mit „jeweils drei Richtern“ besetzt. Bei dieser Besetzung wurde die Entscheidung dem Vorsitzenden zugerechnet (S. 348). Detailliert untersucht wird das persönliche Verhalten (Persönliches, dienstliche Beurteilungen, Spruchkammerentscheid, Prozessverhalten in der NS-Zeit und Arbeitsweise in der Nachkriegszeit) von acht Richtern, deren Personalakten erhalten geblieben sind (sechs von ihnen waren auch in der Nachkriegszeit in Scheidungsprozessen nach § 48 EheG am Landgericht Amberg beteiligt). Die Untersuchung wird abgeschlossen mit einer detaillierten „Zusammenfassung und Wertung“ (S. 415-440). Auf der Seite 423 stellt Birndorfer fest, dass die Verfahren, die in der NS-Zeit geführt worden seien, „in der Form nicht außerhalb dieser Diktatur geführt werden können“ (S. 423), zumal nur in einem kleinen Teil der Urteile keine nationalsozialistische Terminologie verwendet wurde.

 

Birndorfer hat eine sehr detaillierte und profunde Analyse der Ehescheidungsverfahren des Landgerichts Amberg nach § 55 (48) EheG für den gewählten Zeitraum vorgelegt. Bei der Kleinteiligkeit der Darstellung wäre es instruktiv gewesen, wenn Birndorfer wichtige Verfahren auch zusammenhängend dargestellt hätte. Auch wenn aus Gründen einer Stoffbeschränkung eine Ausdehnung der Urteilsanalysen auf die umfangreiche Judikatur des Landgerichts Amberg zu § 49 EheG notwendig war, hätte der Verfasser  gleichwohl noch zumindest im Überblick auch auf die Judikatur des Reichsgerichts und vielleicht ansatzweise auch noch auf die des Landgerichts Amberg zu § 49 (Verschuldensscheidung) eingehen sollen, da die Judikatur die Tatbestandsmerkmale des § 49 EheG zunehmend dem Zerrüttungstatbestand annäherte, womit der Kläger sein Scheidungsbegehren leichter als nach § 55 EheG durchsetzen konnte (hierzu ausführlich Vesta Hoffmann-Steudner, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dem Scheidungsgrund des § 48 EheG [1938] in den Jahren 1938-1945, S. 225ff.). Insgesamt verdeutlicht das Werk von Birndorfer aus rechtshistorischer Sicht die Notwendigkeit von Untersuchungen von erstinstanzlichen Verfahren zu den Scheidungsgründen des Ehegesetzes, da sich in den oberlandesgerichtlichen und den reichsgerichtlichen Urteilen die Rechtswirklichkeit der Ehescheidungspraxis nur teilweise widerspiegelt.

 

Kiel

Werner Schubert