Fischer, Sandra, Juristen in Westfalen im 19. Jahrhundert - Soziale Herkunft und Karrieren (= Ius vivens, B, 24). LIT, Münster 2012. XII, 171 S. Besprochen von Werner Schubert.
Fischer, Sandra, Juristen in Westfalen im 19. Jahrhundert - Soziale Herkunft und Karrieren (= Ius vivens, B, 24). LIT, Münster 2012. XII, 171 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das Werk Sandra Fischers bringt eine „Kollektivbiographie“ der westfälischen Justizjuristen (Richter, Assessoren, Rechtsanwälte, Notare) der Geburtsjahrgänge von 1820 bis 1889. Unter einer Kollektivbiographie ist nach W. H. Schröder, Kollektive Biographien in der historischen Sozialforschung, S. 8, zu verstehen die „theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Personenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder“ (zitiert von Fischer, S. 1). Zu diesem Zweck hat Fischer rund 350 im Landesarchiv NRW Abt. Westfalen, von denen 201 Akten verwertbare Ergebnisse aufwiesen, eingesehen (113 Richter [davon 21 Gerichtspräsidenten und 7 OLG-Räte], Rechtsanwälte und Notare sowie Assessoren und Referendare). Bei der Auswertung der ermittelten Juristendaten liegt ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Untersuchung „der sozialen Zusammensetzung der Gruppe der westfälischen Juristen, wobei als Merkmal der sozialen Herkunft der Vaterberuf dient“ (S. 2). Die Untersuchung umfasst als „Stichprobe“ (S. 8) rund ein Fünftel bis ein Viertel des westfälischen Justizpersonals; für Rechtsanwälte und Notare liegt der Anteil erheblich niedriger. Im Abschnitt über den „sozialgeschichtlichen Rahmen“ (S. 8ff.) befasst sich Fischer insbesondere mit der juristischen Ausbildung, der Justizreform von 1849/1851 sowie mit der Einführung der Freien Advokatur (Inkrafttreten der Rechtsanwaltsordnung von 1878). Die Datenauswertung bringt zunächst einen Abschnitt über die örtliche Herkunft der westfälischen Juristen und deren Schulbildung. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit dem Universitätsstudium der westfälischen Juristen, den Ergebnissen der Staatsprüfungen (ab 1869 Abschaffung des Auskultoriats), der Assessorzeit, dem Einfluss der Staatsexamensnoten auf Einstellung und Beförderung, mit der Konfessionszugehörigkeit und sehr detailliert mit der Herkunft der Juristen (S. 93-153).
Als Ergebnis ist u. a. festzuhalten, dass entsprechend der konfessionellen Verteilung die katholischen Justizjuristen den größten Anteil unter dem Justizpersonal Westfalens ausmachten, wobei die katholischen Rechtsanwälte und jüdischen Juristen überrepräsentiert waren. Das Abitur legten die späteren Juristen im Durchschnitt mit 19 Jahren ab. Ein Zusammenhang zwischen der Abiturdurchschnittsnote und den Examensnoten ließ sich nicht feststellen. Die meistbesuchten Universitäten waren Bonn und Berlin. Nach durchschnittlich mindestens zwei Hochschulwechseln legten die Juristen das erste Staatsexamen in der Regel nach dem 6. oder 7. Semester ab. Die Durchschnittsnote war überwiegend „ausreichend“, wobei die Note „befriedigend“ erst 1923 eingeführt wurde (S. 51). Die unbezahlte Assessorenzeit betrug durchschnittlich 4,60 Jahre; nach 1879 entschieden sich Assessoren verstärkt für die Rechtsanwaltschaft. Der größte Teil der westfälischen Juristen rekrutierte sich aus dem Bildungsbürgertum; Adlige strebten wohl primär eine Stelle in der Verwaltung an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sank der prozentuale Anteil der Bildungsbürger unter den Juristen, die sich verstärkt aus dem alten und neuen Mittelstand rekrutierten. Die Ergebnisse der Untersuchungen beruhen auf einer Vielzahl von anschaulich präsentierten Tabellen (Verzeichnis S. XII). Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 155ff.) bringt Fischer eine Einordnung der Väterberufe (S. 160f.) und ein Verzeichnis der benutzten Personalakten (leider ohne Namensangaben insbesondere für die Gerichtspräsidenten und Oberlandesgerichtsräte). Hinsichtlich der Staatsanwaltschaft konnte nur eine Personalakte berücksichtigt werden. Soweit möglich vergleicht Fischer die für Westfalen ermittelten Daten der „Kollektivbiographie“ mit Daten für Gesamtpreußen. Es ist zu wünschen, dass der erfreulich knapp gehaltenen und gut geschriebenen Arbeit von Fischer weitere Untersuchungen für das Justizpersonal von Oberlandesgerichtsbezirken folgen, etwa für die Rheinprovinz, das Oberlandesgericht Breslau und den Kammergerichtsbezirk.
Kiel
Werner Schubert