Andrew, Christopher, MI 5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdiensts. Aus dem Englischen von Gebauer, Stephan/Heinemann, Enrico/Juraschitz, Norbert. Ullstein/Propyläen. Berlin 2010. 912 S., 82 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Andrew, Christopher, MI 5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdiensts. Aus dem Englischen von Gebauer, Stephan/Heinemann, Enrico/Juraschitz, Norbert. Ullstein/Propyläen. Berlin 2010. 912 S., 82 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Wiewohl Geheimdienste bekanntlich davon leben, dass sie ihre Aktivitäten im Geheimen entfalten, und diese Geheimhaltung eine geradezu unverzichtbare Voraussetzung für die erfolgreiche Erfüllung ihrer Aufgaben darstellt, fordern freie und offene Gesellschaften - wenn auch aus den vorgenannten strukturellen Gründen oft mit nur mäßigem Erfolg - zunehmend eine strenge demokratische Kontrolle der Dienste und ihrer Aktivitäten. Es liegt daher im elementaren Interesse jener Institutionen, wenn Jonathan Evans, gegenwärtig Generaldirektor des britischen Security Service (MI5), in seinem Vorwort zur vorliegenden Studie seine Bereitschaft zur Transparenz bekundet und herausstreicht, dass es für den Erfolg eines Geheimdienstes „unabdingbar ist, dass die Gesellschaft seine Tätigkeit versteht und unterstützt“ (S. 7). Um vorweg den Geruch amtlich sanktionierter Hofberichterstattung zu vermeiden, wurde dem Verfasser, Christopher Andrew, Professor für neuere Geschichte und Zeitgeschichte in Cambridge und spätestens seit seinem Bestseller „Das Schwarzbuch des KGB“ (1999) auch einer breiten Öffentlichkeit als Experte für Geheimdienstfragen ein Begriff, bei seiner Arbeit in aufwändigen Freigabeverfahren großzügig Zugang zu brisanten Materialien eröffnet und Unabhängigkeit in seinen Schlussfolgerungen garantiert. Grenzen seien angeblich nur dort gesetzt worden, wo eine mögliche Gefährdung der nationalen Sicherheit offenkundig gewesen sei. Zum hundertjährigen Gründungsjubiläum des MI5 im Jahr 2009 erschien das Buch schließlich in London unter dem englischen Originaltitel „The Defence of the Realm. The Authorized History of MI5“.
Christopher Andrew breitet die Geschichte dieses britischen Geheimdienstes auf über 700 Druckseiten laufendem Text, ergänzt um über 100 Seiten Nachweise und Anmerkungen sowie 82 interessante Fotografien, aus und gliedert seine Ausführungen - den großen weltgeschichtlichen Zäsuren westlicher Perspektive folgend - in sechs große Abschnitte, die durch unterschiedliche Bedrohungsbilder gekennzeichnet sind. Maßgebend für die Etablierung des MI5 war vor und während des Ersten Weltkriegs die Furcht vor deutscher Spionage im eigenen Land. In der Zwischenkriegszeit war der Schwerpunkt der Operationen auf die Abwehr der „Roten Gefahr“, also des Sowjetkommunismus, gerichtet, bis im Zweiten Weltkrieg wieder Deutschland als Gegner erste Priorität gewann. Die Frühphase des Kalten Krieges war dann zugleich die Zeit der sowjetischen Infiltration, verkörpert in Person der „Magnificent Five“, aber auch der Demontage des British Empire, wogegen in dessen Spätphase ab den 1970er Jahren der Kampf gegen den Terror (Naher Osten, Nordirland) zur zentralen Aufgabe heranwuchs und auch in der Zeit nach dem Sturz des osteuropäischen Kommunismus unter veränderten Vorzeichen – Stichwort Islamismus – bis in die unmittelbare Gegenwart dominierend blieb. Diese Wandlungen in den Anforderungen wurden von der Organisation nicht immer friktionsfrei bewältigt, und über den gesamten Zeitraum gesehen agierte der MI5 mit wechselndem Erfolg: Großer Effizienz gegenüber der deutschen Bedrohung während der beiden Weltkriege stehen Misserfolge in Auseinandersetzung mit der Sowjetmacht und eine zwiespältige Bilanz des Nordirland-Engagements gegenüber. Christopher Andrew bringt das grundlegende Problem der Leistungsbilanz auf den Punkt, wenn er festhält, dass der Erfolg eines Geheimdienstes „sich eher an den Ereignissen, die nicht eintreten (und sich zwangsläufig nicht quantifizieren lassen), (bemisst), als an einem faktischen Geschehen“ (S. 723).
Wirft man einen näheren Blick auf seine detailreiche Darstellung, so wird man festhalten können, dass sich die Narration im Wesentlichen aus der Aneinanderreihung einer Vielzahl größerer und kleinerer geheimdienstlicher Operationen ergibt, die weitgehend im internen Kontext der Geheimdienste abgebildet werden. Dies ist für eine Jubiläumsschrift durchaus zulässig. Zulässig ist aber auch, sich von einem Buch, das die Bilanz eines der renommiertesten und weltweit erfolgreichsten Abwehrdienste aufbereitet, vertiefte Analysen in grundsätzlichen Fragen zu wünschen. Bereits im Vorwort des Generaldirektors des Security Service ist zu lesen, dass erst „im Jahre 1989 […] die Tätigkeit des MI5 mit der Verabschiedung des Security Service Act erstmals in seiner Geschichte auf eine gesetzliche Grundlage gestellt (wurde)“ (S. 13) – eine Feststellung, die zu denken gibt und Fragen aufwirft. Auch wenn es erfreulich ist zu hören, dass der Dienst mittlerweile seine Stellen über eine offizielle Website ausschreibt, wäre in diesem Zusammenhang eine rechtliche und demokratiepolitische Argumentation eher gefragt gewesen.
Anknüpfungspunkte für kritische juristische Exkurse böte die Darstellung allerorten; als illustratives Beispiel sei eine Episode aus dem Zweiten Weltkrieg angeführt: Leiter des Verhörzentrums Lager 020 des MI5 war damals ein gewisser Captain Robin „Tin-eye“ Stephens; der mit nationalen Vorurteilen stark behaftete Offizier „hatte 14 Jahre in der British Indian Army und in der politischen Verwaltung in Indien verbracht und zuletzt bei der Militärstaatsanwaltschaft gearbeitet. Nach seiner Rückkehr nach England trat er in die Anwaltskammer Lincoln’s Inn ein. Obwohl er (aus unbekannten Gründen) als Anwalt keine Zulassung erhielt, trat er als Mitverfasser juristischer Werke auf […]“. Nachdem ein Geheimdienstoffizier des MI9 einen als Doppelagenten anzuheuernden, festgenommenen deutschen Spion in dessen Zelle mit einem Kinnhaken attackiert hatte, wurde wegen der „Gestapo-Methoden“, die „auf lange Sicht erfolglos bleiben“, gegen den Offizier Meldung an vorgesetzter Stelle erstattet. „Stephens widersetzte sich auch künftig jedem Einsatz von körperlicher Gewalt bei Verhören. (Dieser Grundsatz wurde vom Security Service nach dem Krieg erneut festgeschrieben) […] Dagegen glaubte Stephens fest an die Nützlichkeit von psychischem Druck […]. Potentielle Doppelagenten wurden vor die Wahl gestellt, für die Briten zu arbeiten oder vor Gericht gestellt und hingerichtet zu werden. Von den 440 Gefangenen, die im Lager 020 landeten, endeten nur 14 vor dem Henker – zur Enttäuschung von Stephens nicht mehr“ (S. 270ff.). Obwohl diese - einen „gelernten“ Juristen betreffende - Passage gleichsam nach einer eingehenden rechtlichen Interpretation schreit, bleibt eine solche aus.
Im Anhang des Buches finden sich unter anderem zehn Organigramme des Security Service zu unterschiedlichen Zeitpunkten (1914, 1916, 1931, 1941,1953, 1968, 1976, 1988, 1991, 1994); sie weisen seit 1931 einen direkt beim Generaldirektor installierten Rechtsberater aus, dessen Agenden und dessen Wirksamwerden ebenfalls der näheren Betrachtung wert gewesen wären. Und dann bleibt da noch die Frage, welche und wie viele Vorgänge überhaupt und aus welchen Gründen auch immer eine solche Brisanz aufweisen, dass eine Veröffentlichung von vornherein nicht zur Diskussion stand, eine Unwägbarkeit, worunter diese „wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes“, allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz, stets leiden wird. Oder, wie ein Leser der englischen Ausgabe im Internet treffend bekundete: „The main problem with this book is that you don‘t know what’s been left out.”
Kapfenberg Werner Augustinovic