Rieker, Stephan P., Das Ermächtigungsgesetz vom 24. 03. 1933 und die Konsequenzen des Grundgesetzes - Eine verfassungshistorische Untersuchung. Diplomica Verlag, Hamburg 2013. V, 113 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Rieker, Stephan P., Das Ermächtigungsgesetz vom 24. 03. 1933 und die Konsequenzen des Grundgesetzes - Eine verfassungshistorische Untersuchung. Diplomica Verlag, Hamburg 2013. V, 113 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Ohne Frage bezeichnet das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das eine Kompetenzverschiebung der Legislativgewalt zur Exekutive dergestalt vornahm, „ dass die Reichsregierung völlig selbständig förmliche Gesetze, und zwar auch verfassungsdurchbrechende Gesetze, beschließen kann, und der Reichskanzler bei der Ausfertigung der Gesetze an die Stelle des Reichspräsidenten tritt“ (S. 20), in verfassungsrechtlicher Hinsicht das Ende der längst durch die mangelnde Akzeptanz ihrer gesellschaftlichen Eliten und die Praxis der autoritären Präsidialregierungen ausgehöhlten demokratischen Weimarer Republik und den Beginn der nationalsozialistischen Diktatur. In diesem Zusammenhang interessieren nicht nur den Verfasser des vorliegenden Paperbacks, nach Umfang und Inhalt wohl seine Diplomarbeit (die Publikation gibt selbst dazu keine Auskunft, doch bietet Amazon auch eine als Masterarbeit bezeichnete Version des Münchener GRIN-Verlags mit nahezu identischem Titel und zum gleichen Preis an), vor allem zwei Gesichtspunkte: Welche Aussagen hinsichtlich Legalität und Legitimität der NS-Herrschaft sind unter dem Aspekt des Ermächtigungsgesetzes als zutreffend zu erachten, und welche Vorkehrungen wurden, Lehren aus dem Geschehen von 1933 ziehend, vom Gesetzgeber zur Einhegung überschießender, die Verfassung in ihrem Bestand elementar bedrohender Notstandsmaßnahmen in der Konzeption des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland getroffen?
Die dominante zeitgenössische juristische Methode der Staatsrechtslehre zur Auslegung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) war ein wertneutraler Rechtspositivismus, demzufolge es „keine Diskrepanz zwischen Recht und Gesetz“ geben konnte; folglich war „die Legalität eines Gesetzes […] ausschlaggebend für seine Legitimität“. Da die Weimarer Reichsverfassung aber keine materiellen Grenzen der Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung bestimmte, konnte dieser Auslegung zufolge „jede politische Richtung, die über die notwendige Mehrheit verfügte, […] die Verfassung auf jede Weise folgenlos durchbrechen, abändern oder sie sogar aufheben“, sofern nur die verfahrensrechtlichen Bestimmungen eingehalten wurden. Aus dieser (auf der einen Seite übrigens schon von Carl Schmitt kritisch hinterfragten, auf der anderen Seite den Rechtfertigungsstrategien der NS-Machthaber in die Hände spielenden) Perspektive erblickte man sodann im Ermächtigungsgesetz „keinen revolutionären Akt, der die alte Verfassungsordnung auf verfassungswidrige Weise beseitigt habe, die Frage der Verfassungsmäßigkeit wurde vielmehr ausdrücklich bejaht“ (S. 32).
Geradezu konträr stellt sich die Situation allerdings aus heutiger Sicht dar, sei doch mittlerweile erwiesen, dass das Ermächtigungsgesetz „an erheblichen Verfassungsmängeln (leidet), die seine Verfassungswidrigkeit bedingen“ (S. 32). Verstöße ortet Stephan P. Rieker insbesondere gegen Art. 22 (keine Chancengleichheit der Parteien bei den Märzwahlen), Art. 37 (Verletzung der Immunität durch Verhaftung der kommunistischen Abgeordneten), Art. 21 S. 2 (Ausübung von Druck auf die Abgeordneten vor der Abstimmung) und Art. 76 WRV (ungültiger Einspruchsverzicht des Reichsrats, da die preußischen Stimmen durch Reichsbeauftragte abgegeben wurden, was nach der WRV unzulässig war), weshalb, wie auch das Bundesverfassungsgericht in einer seiner Entscheidungen ausdrücklich feststellen sollte, das Ermächtigungsgesetz „gemessen an den Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung […] ungültig“ war und als „eine Stufe der revolutionären Begründung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angesehen werden“ muss (S. 34). Die eminente Bedeutung dieser bis Kriegsende insgesamt dreimal verlängerten und erst von den Alliierten kassierten Rechtsnorm für die Herrschaftspraxis erweist die Statistik: Nur sechs vom Reichstag verabschiedeten Gesetzen stehen im benannten Zeitraum insgesamt 883 Regierungsgesetze gegenüber.
Mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) wurde nach Vorarbeiten des Herrenchiemseer Verfassungskonvents vom Parlamentarischen Rat am 23. Mai 1949 ein Verfassungswerk in Kraft gesetzt, das „unter dem Eindruck beispiellosen Unrechts und Terrors im deutschen Namen alles daran setzte, die Fehler der Weimarer Reichsverfassung nicht zu wiederholen“ und deshalb „mit umfangreichen Sicherungen gegen Missbrauch und Funktionsversagen des politischen Systems“ ausgestattet wurde (S. 50f.). In bewusster Abgrenzung zur Wertneutralität des missbrauchten Weimarer Systems entstand „die abwehrbereite Republik des Grundgesetzes“, die „ihre Wehrhaftigkeit aus der ihr übergeordneten Wertorientiertheit ableitet“; im Mittelpunkt dieser Wertordnung und damit auch der gesetzten Normen steht nach dem Willen des Verfassungsgebers stets der „Mensch und Bürger“, nicht, wie dereinst in Weimar, der „Staat und seine Organe“ (S. 98).
In mehreren Abschnitten untersucht der Verfasser die Regelungen des Grundgesetzes, die im Kern den materialen Rechtsstaat konstituieren, die strukturellen Schwächen der Weimarer Reichsverfassung beheben, Wertorientierung und Wehrhaftigkeit schaffen, seinen Bestandschutz garantieren und die freiheitlich demokratische Grundordnung sichern, wobei er laufend komparatistisch die aktuelle Verfassungslage den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung kontrastierend gegenüberstellt. Seine detaillierten, in die einzelnen Normen gehenden Betrachtungen fördern im Wesentlichen (ein weiteres Mal) die weithin bekannten Charakteristika des deutschen Grundgesetzes zutage: etwa den qualifizierten Schutz der Menschenwürde durch die herausgehobene Stellung der Grundrechte; die strikte, mehrfach gesicherte Gewaltenteilung; die schwache Stellung des Bundespräsidenten und die zentrale Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts; die weitgehende Zurückhaltung in Bezug auf direktdemokratische Elemente; die komplexe, erheblichen Vorbehalten unterliegende Handhabung des Gesetzgebungsnotstandes gem. Art. 81 GG; die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG (die ihre Schutzfunktion nicht nur gegenüber dem „Verfassungsgegner“, sondern auch gegenüber dem „prinzipiell loyalen, aber gewissermaßen irrenden verfassungsändernden Gesetzgeber“ entfaltet, S. 77f.) und die repressiven Sicherungen, die „zum Zuge (kommen), wenn nicht Irrtum, sondern absichtsvoller Vorsatz Ursache für die Nichtbeachtung der Verfassung“ ist (S. 73), wie die Verwirkung von Grundrechten, die Möglichkeit des Verbots politischer Parteien, die Präsidentenanklage und die Richteranklage oder die Einrichtung einer Verfassungsschutzbehörde. Hinsichtlich der - Stichwort Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) - immer wieder besonders aktuellen Frage des Verbots verfassungsfeindlicher Parteien wird ausgeführt: „ Art. 21 Abs. 2 GG unterscheidet sich somit gegenüber der Weimarer Rechtslage in dreifacher Hinsicht: Erstens wurde mit ihm eine Spezialregelung auf Verfassungsebene getroffen, während in der Weimarer Zeit Parteiverbote entweder auf Spezialgesetze oder auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützt waren, zweitens ist ein Entscheidungsmonopol beim Bundesverfassungsgericht geschaffen worden, während in der Weimarer Republik Reichsbehörden und Landesbehörden nebeneinander oder nacheinander zuständig waren und drittens ist die in dem Verbotsverfahren getroffene Entscheidung endgültig, während die in der Weimarer Republik ergangenen Parteiverbote nur temporär waren“ (S. 91).
Besondere Hervorhebung, weil den Bereich der Justiz betreffend, verdienen die durch Art. 103 GG in den Verfassungsrang erhobenen Verfahrensgrundsätze audiatur et altera pars und ne bis in idem als „direkte Antwort des Parlamentarischen Rates auf die Auswirkungen des Ermächtigungsgesetzes“, da bereits wenige Tage nach dessen Inkrafttreten mit der sogenannten Lex van der Lubbe „durch Regierungsgesetz der in Art. 116 WRV festgeschriebene Grundsatz nulla poena sine lege aufgehoben“ worden war (S. 60). Mit Art. 98 Abs. 2 GG wird zudem „unter Einschränkung der in Art. 97 Abs. 2 GG gewährleisteten Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit der Richter die Möglichkeit eröffnet, der Gefahr entgegenzuwirken, die sich für die Geltung der Grundsätze des Grundgesetzes sowie für die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes und damit insbesondere für die freiheitliche Demokratie daraus ergeben kann, dass sich Richter gegen sie wenden“ (S. 94). Auch die sogenannte Treueklausel des Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG, welche die Freiheit der Lehre und die Verfassungstreue aneinander knüpft, fußt unmittelbar auf negativen Erfahrungen der Weimarer Zeit und soll einer neuerlichen Verächtlichmachung der demokratischen Einrichtungen unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Kritik wirksam vorbauen.
Zusammenfassend betont der Verfasser, der seine Erkenntnisse weitgehend aus der vom Deutschen Bundestag und dem Bundesarchiv herausgegebenen, vielbändigen Quellenedition der „Akten und Protokolle des Parlamentarischen Rats 1948-1949“ sowie aus der einschlägigen verfassungsrechtlichen Sekundärliteratur ableitet, das Grundgesetz habe sich „auch in Krisensituationen bewährt“; selbst unter dem terroristischen Druck der RAF in den 1970er Jahren „bediente sich die amtierende Bundesregierung ausschließlich rechtsstaatlicher Mittel, um den Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung abzuwehren, Macht ging auch in Krisensituationen nicht über Recht“ (S. 99). Es ist daher nur folgerichtig, dass sich der Geltungsbereich dieses ursprünglich als Provisorium intendierten, über mehr als sechs Jahrzehnte vielfach erprobten Verfassungswerks mittlerweile auf das gesamte wiedervereinigte Deutschland erstreckt. Die Arbeit, die nicht frei ist von sinnstörenden Unebenheiten (so beispielsweise: S. 67: „Verfassungsreferenten“ statt „Verfassungsreferenden“; S. 81: „Normativisiten“ statt „Normativisten“; Literaturverzeichnis S. 101: „Altenhorf“ statt „Altenhof“, S. 110: „Schmidt-Belibtreu“ statt „Schmidt-Bleibtreu“), stützt mit ihren Ergebnissen überdies die These, dass es durchaus möglich und auch sinnvoll ist, konkrete historische Erfahrungen zur Optimierung von Systemen zu nutzen.
Kapfenberg Werner Augustinovic