Vossius, Oliver, Auf den Spuren des Bösen. Vorstudien zur vorsorglichen Rechtspflege im Dritten Reich (= Schriften zum Notarrecht 35). Nomos, Baden-Baden 2013. 111 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Vossius, Oliver, Auf den Spuren des Bösen. Vorstudien zur vorsorgenden Rechtspflege im Dritten Reich (= Schriften zum Notarrecht 35). Nomos, Baden-Baden 2013. 111 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der Verfasser des schmalen Bändchens, Oliver Vossius, outet sich als „jetziger Amtsinhaber“ des Notariats München V, das sich „eine führende Stellung gerade im Handels- und Gesellschaftsrecht in München erarbeitet“ habe (S. 18). In dieser Funktion findet ein Arisierungsfall sein Interesse, der seinerzeit von dem dem Notariat München V assoziierten Notariat München XVII abgewickelt wurde; auf Basis der überlieferten Urkunden wird der Vorgang im Detail kritisch analysiert und im mehr als die Hälfte des Gesamtumfanges der Arbeit umfassenden, 19 (leider nicht optimal reproduzierte) Belege präsentierenden Anlagenteil dokumentiert.
Eingebettet ist die Fallstudie in die von Hans-Peter Haferkamp gestellte Grundsatzfrage, „inwieweit einzelne Notare im Rahmen der sog. ‚Arisierung‘ und Ausplünderung von Juden beteiligt waren und damit mittelbar von diesen Vorgängen profitierten“. Nachdem das Dritte Reich in Selbstbetrachtungen der Zunft zunächst ausgeblendet worden war, erschien der Notar schließlich als Opfer von Verfolgung. Wie es um den „Notar als Täter“ steht, will der Verfasser abklopfen, indem er „methodische Kriterien für die Analyse von Urkunden und sonstigen Vorgängen der vorsorgenden Rechtspflege“ zu entwickeln und zu erproben sucht, „Indizien, anhand derer man erkennen kann, ob eine Urkunde ‚faul‘ ist“, wobei es „für eine Entscheidung über Verurteilung oder Freispruch […] noch zu früh“ sei, sei man doch „noch nicht einmal in der Beweisaufnahme“ (S. 5f.). Es müsse im Vorfeld eine „flächendeckende Durchforstung von Archiven“ einsetzen, sodass man „im Idealfall […] zu jeder Urkunde die zugehörige Grund-, Nachlass-, Vormundschafts- und Handelsregisterakte und noch dazu die entsprechenden Akten der Genehmigungsbehörden und der Devisenstellen“ beischaffen könne (S. 46).
Bei dem dargestellten Fall handelt es sich konkret um die Veräußerung der damals im Eigentum der jüdischen Familie Braun stehenden (heute nicht mehr existierenden) Liegenschaft Theatinerstraße 52 in bester Münchner Stadtlage mittels notariellen Kaufvertrags vom 28. Juli 1941 an die Ehegattin des „Inhaber(s) einer heute noch bundesweit bekannten Fabrik für Modeartikel“ (S. 19). Wie historische Forschungen ergeben haben, war dieser Rechtsakt Folge einer Vereinbarung zwischen den Eigentümern und der Münchner Arisierungsstelle: Der gegenständliche Verkauf wurde unter der Bedingung angeboten, dass man im Gegenzug das ebenfalls im Eigentum der Familie Braun stehende Objekt Maria-Theresia-Straße 23 (das sogenannte Hildebrandhaus, das insgeheim auch mehreren vom Regime verfolgten Juden Zuflucht bot) behalten dürfe und dass dessen Bewohner unbehelligt blieben, was auch schriftlich zugesagt wurde. Nachdem sich herausstellen sollte, dass die Behörde sich mitnichten an diese Absprache gebunden fühlte, widerrief Elisabeth Braun, inzwischen bereits verhaftet, per Schreiben an das Notariat V/XVII vom 17. August 1941 unter drastischer Schilderung des auf sie beim Vertragsabschluss ausgeübten Zwanges ihre Zustimmung zum Kaufvertrag und focht diesen an; eine Reaktion des Notariats ist indessen aktenmäßig nicht greifbar. „Am 18. November 1941 stellt ein Gerichtsvollzieher […] Elisabeth Braun eine rückwirkende Verfügung der Gestapo-Leitstelle vom 15. Oktober 1941 zu, wonach ihr gesamtes Vermögen nach dem Gesetz vom 14. Juli 1933 dem Deutschen Reich verfällt. Das Grundbuchamt schreibt das Eigentum an der Theatinerstraße 52 aufgrund Eintragungsersuchens der Gestapo auf das Reich um“ (S. 40). Elisabeth Braun wird nach Litauen deportiert und am 25. November 1941 durch Angehörige des SS-Einsatzkommandos 3 erschossen, ihre Angehörigen kommen, soweit bekannt, ebenfalls zu Tode.
Die Unregelmäßigkeiten, die der Verfasser an der Beurkundung und ihren Rahmenbedingungen feststellen kann, berühren mehrere Bereiche. Immer wieder betont er, die Beteiligten hätten es „mit der Beurkundung sehr eilig“ (S. 24) gehabt, die Urkunde sei „im Notariat unter hohem Zeitdruck“ (S. 25) abgefasst worden, verschiedene Flüchtigkeitsfehler, handschriftliche Ergänzungen und nachgetragene Korrekturen sprächen „für die große Eile, in der die Beurkundung durchgeführt wurde“ (S. 29). Die Käuferin ließ sich vollmachtlos vertreten, „ein probates Mittel, sich direkten Verhandlungen mit der anderen Seite zu entziehen“, weshalb wohl „das Gezerre über den Kaufpreis nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen der Käuferin […] und der Arisierungsstelle stattfand“ (S. 39f.). Dieser erreichte „nur gut 2/3 des tatsächlichen Wertes“ (S. 27); der „ins Blaue hinein“ erklärte Schuldbeitritt der Käuferin in Anbetracht in der Höhe noch nicht feststehender Forderungen sei nur dadurch erklärbar, dass „das Risiko höherer Verbindlichkeiten bei einem solchen ‚Schnäppchen‘ von untergeordneter Bedeutung“ gewesen sei. Eine „Entlassung der Verkäufer aus der persönlichen Haftung“, die außerdem „über den Kaufpreis keine Verfügungsgewalt“ erlangten, fehle ebenso (S. 28). Die Urkunde enthalte auch keinen Vollzugsauftrag, der Notar habe „einen potenziellen Haftungsfall produziert“, denn der Verkäufer hafte „weiter für die gesicherten Verbindlichkeiten, obwohl er sein Eigentum verloren hat“ (S. 33). Das Standesrecht verbot dem Notar zudem die im gegenständlichen Fall sinnvolle „Hinterlegung des Kaufpreises auf Notaranderkonto“ als eine Form der unzulässigen „Betreuungstätigkeit für Juden“ (S. 33ff.). Wie erwähnt, verhinderte das Einschreiten der Gestapo letztendlich den Urkundenvollzug. In den Empfehlungen und Vorschriften der Reichsnotarkammer, den allgemeinen Verordnungen zum jüdischen Vermögen sowie in der Instrumentalisierung des Devisenrechts erblickt Oliver Vossius insgesamt „ein gutes Beispiel für die in der Forschung beschriebene Radikalisierung des NS-Regimes von oben nach unten“ (S. 37). Mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, die für Juden den automatischen Vermögensverfall zugunsten des Reichs festschrieb, wenn sie ihren Aufenthalt (auch unfreiwillig per Deportation) ins Ausland verlegten, fiel die damit keiner vertraglichen Grundlage mehr bedürfende Arisierung schließlich aus dem notariellen Aufgabenbereich heraus.
Welchen Profit der zuständige Notar, der überzeugte Nationalsozialist Dr. Ernst Schmidhuber, aus dem Vorgang persönlich ziehen konnte, geht aus den Ausführungen des Verfassers nicht hervor. Festzustehen scheint jedenfalls nach Lage der Dinge, dass er bzw. sein amtlich bestellter Vertreter, Theobald Petri, den Versuch unterlassen haben, diesem offensichtlichen Fall von „rassenideologisch verbrämte(m) Raub“ (S. 46) mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln Einhalt zu gebieten. Dass dies möglich war, expliziert der Band an einem weiteren - allerdings sachlich etwas anders gelagerten - Fall aus Potsdam, in dem ein Urkundenvollzug gelingen und die Gestapo den Kürzeren ziehen sollte: „Die Art, wie der Notar die für die Genehmigungserteilung nach der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens relevanten günstigen Tatsachen nachgerade ‚mundgerecht‘ aufbereitete, zeigt […], dass hier ein Notar helfen wollte – Reichsnotarkammer hin oder her“ (S. 41). Besonders vorbildlich verhielten sich die Notare in Belgien, die dem Druck und den Anordnungen des Militärbefehlshabers mit Obstruktion begegneten; dadurch wurden „von den erfassten 1.449 jüdischen Grundstücken in Belgien (ohne Antwerpen) […] nur 76 verkauft“, der „Widerstand der belgischen Justiz einschließlich der Notare“ habe „eine Erfolgsquote von fast 95 %“ erreicht (S. 15). So bemerkenswert und fast unglaublich diese Zahlen sein mögen, muss doch festgehalten werden, dass die erwähnten Aktivitäten in den Rahmen einer allgemeinen, nicht nur philosemitisch motivierten Widerstandshaltung gegen ein feindliches Besatzungsregime gestellt werden müssen und somit mit den Voraussetzungen im Deutschen Reich nicht unmittelbar verglichen werden können.
Obwohl repräsentative Studien bislang ausstehen, wird man vermuten dürfen, dass sich unter den Notaren die Verteilung zwischen entschiedenen Vertretern des Systems, abwartenden Mitläufern und passiven wie aktiven Widerstand Leistenden kaum gravierend von jener in der Gesamtbevölkerung oder auch von der in anderen Rechtsberufen unterschieden haben dürfte. Dem Autor, der gelegentlich zu einer etwas ungewöhnlichen, emotionsbeladenen Bildersprache neigt (S. 27: „Wie ein Wolfsrudel pirscht sich die arische Nachbarschaft heran und wartet auf ihre Chance“; S. 37: „Beim Jüngsten Gericht wird uns der Heiland vorhalten: ‚Ich bin nackt gewesen, und Du hast mich nicht bekleidet.‘“) und dem einige kleine Fehler unterlaufen sind (Notar Dr. Ernst Schmidhuber erscheint auf S. 39, FN 105 als „Dr. Schmidbauer“, auf S. 48 wiederum als „Dr. Erich Schmidhuber“), kommt das Verdienst zu, mit der vorliegenden Schrift auf eine Sektion der Rechtsberufe aufmerksam gemacht zu haben, deren Wirken bislang nur unzureichend ins Visier der rechtsgeschichtlichen Forschung genommen worden ist.
Kapfenberg Werner Augustinovic