Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Bd. 4 Einzelgrundrechte I. C. F. Müller, Heidelberg 2011. XL, 1543 S. Besprochen von Tilman Repgen.
Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Bd. 4 Einzelgrundrechte I. C. F. Müller, Heidelberg 2011. XL, 1543 S. Besprochen von Tilman Repgen.
Inzwischen ist mehr als die Hälfte der geplanten Bände des „Handbuchs der Grundrechte“, dem Nachfolgeunternehmen zu dem von Bettermann, Neumann und Nipperdey ins Leben gerufenen Handbuch, erschienen. Den allgemeinen Grundrechtslehren in Band 2 und 3 des Handbuchs folgt der erste Band mit „Einzelgrundrechten“ in Deutschland. Er betrifft den „eigentlichen Schlüssel für das Ganze“, nämlich eine umfangreiche Darstellung der Menschenwürde (Art. 1 GG) (§ 87 des Gesamtwerks, S. 3-135). Die Verfassung hat die Grundrechte nicht systematisiert. Das schloss aber nicht aus, sie für den Zweck der Darstellung zu ordnen. Band 4 behandelt außer der Menschenwürde die Grundrechte, die Individuum und Familie schützen. Da geht es um den Schutz des Individuums (§ 88 – Recht auf Leben, S. 137-157; § 89 – Persönlichkeitsschutz, S. 159-231; § 90 – informationelle Selbstbestimmung, S. 233-289; § 91 – Schutz der Wohnung, S. 291-334; § 92 – Brief- und Fermeldegeheimnis, S. 335-388), die Freiheit der Person und ihrer Bewegung (§ 93 – Freiheit der Person, S. 389-415; § 94 – Freizügigkeit, S. 417-511; § 95 – Bewegungsfreiheit, S. 513-539), die religiösen, geistigen und kulturellen Freiheiten (§ 96 – Schutz der Religion, S. 541-615; § 97 – Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 617-662; § 98 – Gewissensfreiheit, S. 663-697; § 99 – Wissenschaftsfreiheit, S. 699-765; § 100 – Autonomie der Universitäten, S. 767-800; § 101 – Kunstfreiheit, S. 801-873), den Schutz kommunikativen Handelns (§ 102 – Meinungsfreiheit, S. 875-963; § 103 – Informationsfreiheit, S. 965-1017; § 104 – Presse- und Filmfreiheit, S. 1019-1064; § 105 – Rundfunkfreiheit, S. 1065-1116; § 106 – Versammlungsfreiheit, S. 1117-1212; § 107 – Vereinigungsfreiheit, S. 1213-1247) und schließlich den Schutz von Ehe, Familie und Schule (§ 108 – Ehe und Familie, S. 1249-1278; § 109 – Erziehungsrecht, S. 1279-1311; § 110 – Schulische Grundrechte, S. 1313-1361).
Ob man etwa das Autonomieversprechen gegenüber den Universitäten als ein Individualgrundrecht begreifen soll, wie es die Gliederung des Handbuchs nahelegt, ist zwar fraglich, aber letztlich nicht entscheidend, stehen doch die einzelnen Paragraphen des Handbuchs genretypisch für sich.
Das juristisch wohl schwierigste Thema ist das Grundlegende: die Würde des Menschen, von der Josef Isensee mit Recht meint, der Jurist nähere sich ihr „nur mit großer Vorsicht“. Zwar lehre ein naturrechtlicher Instinkt den Inhalt, doch dieser entziehe sich leicht einem methodisch präzisen, juristischen Zugriff (§ 87 Rn. 2). Der Indikativ des ersten Satzes von Art. 1 GG zeige „sich als die schärfste Form des Imperativs“, indem er das, was sein soll, als bereits seiend bezeichne (Rn. 4). Der Interpretation des Begriffs stellen sich jenseits weltanschaulicher Grundannahmen eine Reihe spezifischer Schwierigkeiten. So fehle, fährt Isensee fort, Art. 1 Abs. 1 GG „juridische Klarheit“, Operationabilität, ja die Menschenwürde sei ein Begriff, der zunächst der Religion und philosophischen Ethik entstamme. Der überpositive Begriffshintergrund begegne erkenntniskritischen Einwänden (Rn. 7). Ein wichtiger Schritt zur juristischen Bändigung dieses sperrigen Gegenstands ist die Differenzierung zwischen der überpositiven Idee der Menschenwürde und dem räumlich begrenzten Anwendungsbereich des Grundgesetzes, das nur im Rahmen des deutschen Staates Gültigkeit hat (Rn. 9).
Diesem Problemaufriss lässt Isensee in Abschnitt B Überlegungen zum Verhältnis von Positivität der Form und Überpositivität der Menschenwürde in Art. 1 GG folgen (Rn. 10-44). Dabei bedient er sich vor allem einer historischen Einordnung, auch wenn die rechtliche Verankerung der Menschenwürde keine lange Tradition kenne. Präzise werden ältere Verfassungstexte herangezogen. Die Vorgeschichte des Grundgesetzes findet Platz. Und diese Vorgeschichte ist dadurch gekennzeichnet, dass der Parlamentarische Rat zwar die Überpositivität der Menschenwürde sah, aber ihren positivrechtlichen Gehalt nicht diskutiert hat, sondern sie als „nicht interpretierte These“ (Rn. 19) aufgenommen hat, mehr vom Gegenbild eines Systems, das die Würde missachtet. Die zentrale Funktion von Art. 1 GG ist die einer gemeinsamen Zielrichtung der folgenden Grundrechte. Die Menschenwürde sei, so Isensee, „teleologischer Kompaß“ (Rn. 21).
Im Anschluss an seine Ausführungen zur Positivität der Grundrechte in Band II (§ 26) betont Isensee noch einmal, dass im Grundgesetz kein überpositiver Geltungsgrund anerkannt werde (§ 87 Rn. 22). In Band II lautete die Bilanz zur (Nicht-)Begründung der Menschenrechte: „Die Menschenrechte sind stark genug, ohne ein philosophisches Fundament auszukommen, solange sie nur von breiter praktischer Affirmation getragen werden, … Noch einmal: Menschenrechte sind nicht das Werk philosophischer Spekulation, sondern reale[r] Schmerzerfahrung…“ (Bd. II, § 26 Rn. 22; dazu meine Rezension in: ZRG 129 [2012], 940-944, hier S. 941). Das gilt nach Isensee auch für die Menschenwürde. Sie ist „ein Prinzip, das der Verfassungsgeber annimmt, aber nicht setzt.“ Sie ist „positivrechtlicher Grund der Grundrechte. Als solcher ist sie ihrerseits nicht mehr begründbar. … Gleichwohl erhebt sich der Satz des Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu überpositiver Rechtsgeltung. … Das Naturrecht kommt hier also nicht als Rechtsquelle in Betracht“ (§ 87 Rn. 25). Auch interpretatorisch ist die Menschenwürde nicht beliebig auf unterschiedliche philosophische Naturrechtslehren beziehbar, sondern nur auf das „Sinnpotential, das die Autoren des Grundgesetzes in dem Begriff Menschenwürde vorgefunden“ haben, „… jene Traditionen des europäischen Geistes, denen die modernen Menschenrechte entwachsen und die mit diesen vereinbar sind“ (§ 87 Rn. 28). Es bleibt also eine innere Spannung zwischen der „nur“ positiven Geltung der Menschenwürde und ihrer überpositiven Herkunft. Der Begriffsinhalt ist vor allem historisch zu erschließen, bleibt aber nach Isensee unter einem „Schleier des Geheimnisses“ (Rn. 30). Es entsteht ein Dilemma: „Der vorrechtliche Begriff der Würde will sich nicht schulmäßig definieren lassen. Als Rechtsbegriff ist er aber auf Definition angewiesen“ (Rn. 46). Eine pragmatisch positivistische Deutung des Begriffs durch Rückgriff auf andere Grundrechtsnormen oder Völkerrecht oder Rechtsvergleichung weist Isensee als unzureichend zurück (Rn. 34-44). Den Ausweg aus dem Dilemma sucht Isensee zunächst durch Beschreibung der Wortbedeutung von Würde (Rn. 48) im Sinne von „Rang“, von würdigen äußeren Verhältnissen, im Sinne einer Grundlage für Rechte und Pflichten, schließlich im Sinne der subjektiven Leistung des Trägers der Würde. Die eigentliche Entfaltung der Idee der Menschenwürde unternimmt Isensee durch einen gekonnten Rückgriff auf die Ideengeschichte (Rn. 55-84). Zwar sei nicht „jedwede historische Äußerung zum Thema, jede literarische Trouvaille rechtlich relevant“ (Rn. 55), aber doch erscheint die Ideengeschichte als Erkenntnisquelle für das, was der Verfassungsgeber mit „Menschenwürde“ gemeint hat. Die einzelnen Schritte von der alttestamentlichen Imago-Dei-Lehre bis zum Grundgesetz sind hier nicht nachzuzeichnen, aber einmal mehr zeigt sich an dieser Stelle die unmittelbare Relevanz der (Rechts-)Geschichte für die Verfassungsinterpretation. Untrennbar verbunden mit der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit stehen die Werte von Freiheit und Gleichheit (Rn. 61 und 63). Wenn Isensee im Anschluss an die Ideengeschichte die dogmatischen Folgerungen zieht, so betont er, dass sich der Verfassungsgeber nicht mit bestimmten Richtungen und Ausprägungen der Idee der Menschenwürde identifiziert habe (Rn. 85), aber ohne die Vordenker aus dreitausend Jahren sei Art. 1 GG auch nicht entstanden. „Vorrechtliches Gedankengut kann nur Aufnahme finden, wenn und soweit es sich für das Verfassungsrecht aufbereiten läßt und sich in seinen Kontext einfügt“ (Rn. 91). Nach welchem Maßstab diese Aufbereitung geschehen muss, bleibt unausgesprochen.
Auf die dogmatischen Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Isensee verficht die Position, dass Art. 1 Abs. 1 GG „nur“ objektivrechtlichen Gehalt als oberstes Prinzip des positiven Rechts habe, nicht aber zugleich auch Individualgrundrecht sei (Rn. 103ff.). Sonst, so Isensee, verkomme die Würde zur kleinen Münze; sie werde banalisiert und ins Triviale hinabgezogen (Rn. 110). Die Menschenwürde sei vielmehr der Grund oder die Quelle aller anderen Grundrechte (Rn. 111ff.), nicht Rechtssatz, sondern „Rechtsgrundsatz“ (Rn. 114), Legitimation für positivrechtliche Konkretisierungen und „Maßstab seiner Kritik, soweit es ihr widerspricht“ (Rn. 131). Genau an dieser Stelle verschränken sich nun die Kategorien. Um als Maßstab der Kritik zu taugen, muss die Menschenwürde auch rechtlich „begriffen“ werden. Der entscheidende Anker dieser Rechtskritik ist die Ideengeschichte. Als Rechtsbegriff habe sich aber, so Isensee, die Menschenwürde „von den kontingenten Umständen der Entstehungszeit“ abgelöst (Rn. 163). Isensee entfaltet diesen Begriff dann aus verschiedenen Perspektiven, die aus dem unbedingten Achtungsanspruch folgen, der seinerseits aus Würde als Wesenseigenschaft eines jeden Menschen resultiert (Rn. 161-191). Umfangreich geht Isensee auf die heutigen Konfliktsituationen insbesondere im Zusammenhang mit bioethischen Fragen insbesondere am Anfang und am Ende des Lebens ein (Rn. 192-224).
Im folgenden Abschnitt von Udo Fink geht es thematisch nahe weiter um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (§ 88), das zwar in den älteren Reichsverfassungen kein Vorbild hatte, aber schon in der Virginia Bill of Rights angesprochen worden ist. Die Entstehungsgeschichte hält Fink äußerst knapp (Rn. 1-3). Wie Isensee sieht Fink in der Menschenwürde zwar die zentrale Sinnstiftung des Grundrechtskatalogs, lehnt aber eine Identität der Rechtsgüter oder der Rechtsfolgen von Art. 1 und Art. 2 GG ab.
In § 89 behandelt Christoph Enders den Schutz der Persönlichkeit und der Privatsphäre. Mit Recht sieht er in der Soraya-Entscheidung (BVerfGE 34, 269) aus dem Jahr 1973 einen Wendepunkt, da hier das aus dem Zivilrecht bekannte allgemeine Persönlichkeitsrecht „zum eigentlichen Gewährleistungsgegenstand“ des Art. 2 I GG avanciert (Rn. 5, 18). Gerade für die Privatrechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist damit ein Zentralthema angesprochen, das noch kaum wahrgenommen wird. Die historische Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht wird von Enders freilich nur eher am Rande behandelt (Rn. 14-16, 22 f.). Einschlägige Arbeiten aus dem zivilrechtlichen Bereich werden leider nicht herangezogen. Interessant sind die Bemerkungen zur Beweislastverteilung, die eine gesonderte Befassung verdienen.
Walter Rudolf schreibt in § 90 über das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, das erst durch das Volkszählungsurteil vom 15. 12. 1983 als Grundrecht anerkannt worden ist. Der rechtliche Schutz persönlicher Daten ist selbstverständlich eine alte Einrichtung, zu denken ist nur an die Berufsgeheimnisse von Ärzten oder Priestern. Die Ausweitung und dogmatische Entwicklung hin zu einem Grundrecht ist freilich wohl auch eine Konsequenz der technischen Möglichkeiten des modernen Staates. Innerlich verwandt mit dem neuen Grundrecht ist das in Art. 13 GG geregelte Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Hans-Jürgen Papier, § 91). Der Abschnitt verzichtet leider auf jede historische Einordnung dieses Rechts. Anders geht Rupert Stettner in § 92 mit dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis um, dessen verhältnismäßig junger historischer Hintergrund in den Rn. 1-8 beleuchtet wird. Die erste verfassungsrechtliche Verankerung fand dieses Recht im Kurfürstentum Hessen 1831 (Rn. 3), gefolgt von der belgischen Verfassung im selben Jahr. Eine bedeutsame Veränderung erfuhr das Grundrecht 1968 im Zusammenhang mit einer Neugestaltung der Rechte des Verfassungsschutzes (Rn. 64ff.). Bedenkt man die neuerlichen Entwicklungen der Ausspähung privaten elektronischen Postverkehrs in die USA, so gewinnt das Grundrecht ganz neue Aktualität.
Nach dem Schutz des Individuums behandelt das Handbuch in einem Abschnitt die Freiheit der Person und die freie Bewegung. Christoph Gusy schreibt über die „Freiheit der Person“ (§ 93) und berührt damit wiederum ein Kernthema der Rechtsordnung, das hier insbesondere im Sinne von Art. 2 II GG in der Tradition der Habeas-corpus-Rechte interpretiert wird, also vor allem auf die Bewegungsfreiheit abzielt. Als eine spezielle Ausformung dieses Freiheitsrechts erscheint die in Art. 11 GG geregelte Freizügigkeit, die Detlef Merten in § 94 analysiert. Es folgt ein eigener § 95 zur Bewegungsfreiheit aus der Hand desselben Autors. Es geht um den Schutzbereich „zwischen“ der Freiheit der Person (Artt. 2 II, 104 GG) im Sinne körperlicher Bewegungsfreiheit und der Freizügigkeit im Sinne der Bewegungsfreiheit im Bundesgebiet (Art. 11 GG). Es hätte freilich nahegelegen, die Themen der §§ 93-95 gemeinsam abzuhandeln; die Rn. 3-21 enthalten vieles, was bereits zuvor zu lesen war.
Der nächste große Abschnitt des Bandes betrifft die „kulturellen“ Freiheiten und die Kommunikationsrechte. Stefan Muckel bearbeitet den Schutz von Religion und Weltanschauung (§ 96). Er beginnt mit entstehungsgeschichtlichen „Aspekten“, einsetzend im Reformationszeitalter (Rn. 1-15). Auf den ersten Blick ist das zwar naheliegend, doch damit ist es kaum möglich, zu einem echten Verständnis der Beziehung von Religion und Staat vorzudringen, die sich im Christentum aus antiken Wurzeln entwickelt hat und in der Religionsfreiheit heutiger Prägung ausdrückt (dazu lesenswert: Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte - Gegenwart - Zukunft, Freiburg 2012). – In § 97 untersucht Stefan Korioth die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften. – Matthias Herdegen schreibt in § 98 über die Gewissensfreiheit. Der „geschichtliche Hintergrund“ wird in zwei knappen Randnummern (10 f.) allenfalls angedeutet. Hier fehlt jeder Rückgriff auf die Ideengeschichte.
Etwas breiteren Raum nehmen die historischen Erwägungen bei Wolfgang Löwer ein, der die Freiheit von Forschung und Lehre beschreibt (§ 99, Rn. 4-10) und die Ursprünge dieses Grundrechts im 19. Jahrhundert verortet. Eng damit verknüpft ist die Autonomie der Universitäten, die Max-Emanuel Geis in § 100 bearbeitet, der in großer Nüchternheit auch die Veränderungen politischer Vorgaben für die Organisation der Universitäten jenseits aller Autonomie zusammenfasst (Rn. 1-6, 48-61). Die Einführung von (unzureichenden) Globalhaushalten usw. hat die Universitäten in eine Falle nur scheinbarer Autonomie gelockt. Die Ministerien achten offenbar mehr denn je auf „Steuerung“.
Friedhelm Hufen schreibt über die mit der Wissenschaftsfreiheit verwandte Kunstfreiheit (§ 101), deren historische Grundlagen in Rn. 3-12 angedeutet werden, wobei Hufen auf den Gegenpol in Form staatlicher und später auch kirchlicher Zensur seit der Antike aufmerksam macht. Aus der Geschichte leitet Hufen „den Auftrag des Verfassungsrechts, die Kunstfreiheit nicht durch verengte Kunstdefinitionen … zu gefährden“ ab (Rn. 12). Einmal mehr gestehen die Fachleute aber zugleich, dass sie den juristischen Inhalt von Kunst nicht zu definieren vermögen: „Es steht dem Juristen eben nicht zu, ‚Kunst von Nichtkunst‘ zu unterscheiden“ (Rn. 19). Trotz aller Offenheit des Kunstbegriffs bleibt letztlich doch eine Wertung des Gerichts, was alles als Kunst gelten kann.
Größere Klarheit herrscht beim Schutz des kommunikativen Handelns, der vor allem durch die Meinungsfreiheit erreicht wird (Matthias Jestaedt, § 102). Mit der Meinungsfreiheit korrespondiert die Informationsfreiheit (Dieter Dörr, § 103). Freilich ist hier neben dem individuellen Schutzzweck auch über die demokratietheoretische Bedeutung dieses Grundrechts als allgemeinem Zweck nachzudenken. Dörr sieht diesen Punkt eher kritisch (Rn. 75-95). – Hans-Heinrich Trute behandelt in § 104 die Freiheit von Presse und Film. Die geschichtlichen Hintergründe werden in Rn. 1 allenfalls angedeutet. Komplementär ist die Rundfunkfreiheit (Christoph Degenhart, § 105). – Wolfgang Hoffmann-Riem kehrt in § 106 zu einem Thema seiner Zeit am Bundesverfassungsgericht zurück: Versammlungsfreiheit. Historische Hintergründe werden Rn. 5-12 thematisiert. Das ist anders im Beitrag von Jan Ziekow zur Vereinigungsfreiheit (§ 107), die gleichsam geschichtslos daherkommt. Im bürgerlichen Recht hatte sie jedenfalls im 19. Jahrhundert doch deutliche Spuren hinterlassen.
Der dritte und letzte große Abschnitt dieses Bandes betrifft „Ehe, Familie und Schule“. Dies alles sind gesellschaftspolitisch geradezu ständig behandelte Themen. Insbesondere der Schutz von Ehe und Familie (Udo Steiner, § 108) ist im Fahrwasser des ideologischen gender mainstreaming in den Mittelpunkt politischer Aufmerksamkeit gerückt – freilich mit einer destruktiven Richtung. Steiner betont – und das hat Aktualität -, nur die vom Gesetzgeber näher ausgeformte Verbindung von Mann und Frau sei eine Ehe (Rn. 9). Die inzwischen weithin vollzogene Gleichsetzung der sogenannten Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlicher Personen mit den für die Ehe gültigen Regeln vermag nicht die Bedeutung der Besonderheit des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG zu erklären. – Martin Burgi behandelt in § 109 das elterliche Erziehungsrecht, auch dies ein Gegenstand, der zunächst einmal privatrechtlich ausgestaltet war. Insgesamt nimmt das Handbuch die Perspektive auf das Privatrecht zu selten ein. – Am Schluss steht ein Beitrag von Wolfgang Loschelder zu den schulischen Grundrechten und der Privatschulfreiheit (§ 110). Das bemerkenswerte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (Az. 6 C 6/12) vom 30. Januar 2013 konnte natürlich noch keine Berücksichtigung finden, hat aber durch die Offenhaltung monoedukativer Schulformen einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Schulfreiheit geleistet.
Das technisch einmal mehr mustergültige Handbuch der Grundrechte ist auch mit dem ersten Band zu den Einzelgrundrechten eine gelungene Summe der Grundrechtsdogmatik, welche die Schwächen und Stärken dieses Gebiets des Verfassungsrechts reflektiert. Das Werk tritt nicht an, rechtshistorische Aufklärung zu leisten, aber es ist für alle, die sich mit der juristischen Zeitgeschichte beschäftigen eine wertvolle Fundgrube, da hier ein verlässlicher Zugang zu zahlreichen Grundfragen der heutigen Rechtsordnung eröffnet wird.
Hamburg, 21. Juni 2013 Tilman Repgen