Kaufhold, Martin, Die Rhythmen politischer Reform im späten Mittelalter. Institutioneller Wandel in Deutschland, England und an der Kurie 1198-1400 im Vergleich (= Mittelalter-Forschungen 23). Thorbecke, Ostfildern 2008. 350 S. Besprochen von Alois Gerlich.

 

Nach einem Überblick über die Jahre von 1198 bis 1215 als Zeit politischer Umbrüche, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels greift Martin Kaufhold die Magna Carta 1215 in der Ausgestaltung von 1225 und das IV. Laterankonzil 1215 als zwei das gesamte 13. Jahrhundert mit ihren 62 Artikeln und 71 Kanones bestimmenden Ordnungen auf. Gegenübergestellt werden die Entwicklungen in England mit dem dort bestimmenden Gegensatz zwischen Königtum und einer Opposition von Adel und voranschreitendem Bürgertum und den im Deutschland des 13. Jahrhunderts eignen Doppelwahlen durch Fürsten, die in parteiischen Erhebungen jeweils einen Landfremden kürten, ehe man endlich 1273 zur Wahl des ‚reichseingesessenen‘ Rudolf von Habsburg kam. Eine Grundtendenz in dessen Regierung, die Wiedergewinnung von seit den letzten Jahrzehnten verlorenem Reichsgut, wird zutreffend gesehen als ein Agens für den Fortbestand des Dualismus zwischen Gewähltem und Wählern.

 

Zur Beurteilung der Abläufe in England, Deutschland und an der Kurie seien Vergleichszahlen eingeschoben: In den von Kaufhold ausgewählten beiden Jahrhunderten kannte England „nur“ 7 Könige, Deutschland aber 12, von denen 6 Gegenkönige, 2 zeitweilig auftretende Herrschersöhne waren, so dass hier im Unterschied zu den englischen Adelsfraktionen in Deutschland das Bild bestimmt wurde von Fürsten und deren Anhang mit nicht seltenem Parteiwechsel. Ganz wirr sind die Zahlen an den Kurien in Rom, Avignon, Pisa und abermals in Rom, mit insgesamt 31 Päpsten, zum Teil Schismatikern oder Anspruchspäpsten. Es gab mithin sehr unterschiedliche Zahlen von Vakanzen und Herrschaftsantritten und in solchen Konstellationen die Notwendigkeit der Legitimationen. Dabei musste immer wieder auf Vorgänge in älterer Zeit zurückgegriffen werden. Das ist ein Ansatzpunkt für Kaufholds Erörterungen auf dem wahrlich dornenreichen Feld der Forschung. Angesprochen wird damit die Frage, wie weit zurück eine Erinnerung an Sachverhalte und Vorgänge reichte, wenn die aktuelle Frage der Legitimation des Handelns von Rebellen gegen einen Amtsinhaber und der Erhebung eines Gegners der Beantwortung bedurfte.

 

Wie lange konnte sich Erinnerung an ein Ereignis erstrecken, das als Vorbild oder Vergleich für die Bewältigung einer Aufgabe dienen mochte? Das ist eine kaum exakt lösbare Frage. Dem Verfasser ist zu folgen in der Annahme, dass in älterer und weitgehend schriftloser Zeit, als von oraler Tradition alles abhing, kaum irgendwelche gesetzmäßig festgelegten und vor allem überall beachteten Terminvorschriften erwartet werden können. Er weist auf Verjährungsfristen im römischen Recht mit 30, 40 und 100 Jahren hin, nach deren Ablauf man ein Ersitzungsrecht erwerben mochte. Ob das im Mittelalter beachtet werden konnte, stellt er selbst in Frage. Er vermutet, „dass diese Verjährungsfristen eine gewisse Orientierung für die Festsetzung vergleichbarer Zeiträume im 13. Jahrhundert boten“ (S. 137). Zudem weist er darauf hin, dass erst das 14. Jahrhundert infolge des „stärker werdenden Eindrucks schriftlicher Überlieferung den Blick auf eine Erinnerungskultur“ (S. 152) eröffnete. Beachtlich sind die Hinweise, der englische Adel habe nach der Eroberung der Normandie durch König Philipp II. August 1204 die Hoffnung auf den Wiedererwerb der verlorenen Güter um die Mitte des 13. Jahrhunderts aufgegeben. Auf der Insel hat die Unzufriedenheit der Barone über den Einfluss fremder Berater auf den König zur Rebellion von 1258-1265 geführt. Der zeitliche Abstand seit Philipp II. August und die Schlacht bei Bouvines ist evident. Eine ähnliche Zeitdistanz ist zu beachten in der Forderung Rudolfs von Habsburg von 1274, alles Reichsgut im Bestand vor der Exkommunikation Kaiser Friedrichs II. 1245 wieder herzustellen. Er griff damit auf die Frist von 30 Jahren zurück. Den Mainzer Reichslandfrieden von 1235 erneuerte König Rudolf im Jahre 1287. Die Mainzer Urkunde sollte ursprünglich auf Friedrichs II. Anordnung in Urkunden verbreitet werden, wie die Kölner Königschronik berichtet, doch haben entsprechende Bemühungen keine Spuren hinterlassen. Hingegen wurde die Magna Carta in der Fassung von 1225 letztmalig 1297, also immerhin nach 72 Jahren, von König Edward I. erneuert. Während in England eine Königskanzlei bestand, die Schriftgut über die Regierungszeit eines Königs hinaus bewahrte, gab es in Deutschlands diese nicht. Dass die Kenntnis historischer Fakten weitgehend von der Formierung von Behörden abhängt, können die ausgewählten Beispiele Einrichtungen dartun.

 

Gleichsam ein Musterbeispiel für die Behördengeschichte und deren Ertrag für Erkenntnisse über geschichtliche Abläufe bietet der Verfasser in einem relativ kleinen Abschnitt, in dem er der institutionellen Formierung derartiger Institutionen an der Kurie nachgeht. Das Jahr 1198 drängt sich für solche Erörterungen mit der Doppelwahl in Deutschland und dem Anfang des Pontifikats Innozenz’ III. förmlich auf. Das kuriale Verwaltungsgeschehen und dementsprechender Schriftverkehr nahmen damals fast schlagartig zu. Bestes Zeugnis ist das Regestum super Negotio imperii als „Sonderfall in einem zunehmend schriftgestützten Umfeld“ (S. 155). Auseinandersetzungen nicht nur mit den Staufern, sondern der diplomatische Verkehr mit einer Mehrzahl von Herrschern, Mitgliedern der Hierarchie und Orden, und auch Kommunen in vielen Ländern erzwangen schriftliche Äußerungen, die überdies die Gelegenheiten boten, den Anspruch des Papstes auf Vorrang zu demonstrieren. Aus der Fülle des Geschehens seien genannt der Streit über das Verhältnis von Regnum Siciliae und Imperium, die Anerkennung der Franziskaner, die Beziehung mit den Dominikanern unter dem Vorzeichen der Katharerkriege, das Konzil von Lyon, der Liber Extra Gregors IX., die Neufassung der Konklaveordnung als „zentrale institutionelle Neuerung an der Kurie des 13. Jahrhunderts“ (S.169). Das Kardinalskollegium unterlag bei Ergänzungen eindeutig der Befugnis des Papstes, der zwar den Rat des Kollegiums einholen sollte, faktisch aber allein über die Ernennung entschied. Die Größe war schwankend, überstieg aber selten die Zahl 20, eine Zahl wurde durch einen Papst nie ausdrücklich festgelegt.

 

Ausführlich verfolgt Kaufhold die Traditionsbildung in wachsender Abhängigkeit von der Verschriftlichung im 14. Jahrhundert. Er behandelt die neue Art der Formierung politischer Traditionen in England während der Regierung Edwards II., der 1311 die New Ordinances anerkennen musste, in denen die Pflicht des Königs zur Beratung mit den Baronen festgelegt wurde in dem Sinne, dass bei aller Rücksicht auf Tradition eine Aktualisierung stets gemeinsam mit den Baronen erfolgen musste. Auf diesem Wege war der Ansatz zur Archivierung der jeweiligen Dokumente gegeben. Der König befahl 1320 die Ordnung der rolls und anderer Mittel der Überlieferung. Nach Edwards II. Tod wurden die Parlamentsversammlungen zum Ort des Geschehens, dessen Einzelheiten in den Rotuli Parliamentorum festgehalten wurden. In Deutschland gab es diese Zusammenkunft des Herrschers mit seinen Untertanen nicht. Hier gab es nur den Kreis der Kurfürsten als Trägern von Auseinandersetzungen, die in der Zeit Ludwigs des Bayern und dessen Streit mit dem Papst sich auf ihr Königswahlrecht konzentrierten und in vorher nicht bekanntem Maße zur Verschriftlichung führten, die im Weistum von Rhense 1338 und in der Goldenen Bulle 1356 als Festsetzung des Kaisers ihren Abschluss fand.

 

Im Blick auf die Entwicklungen in Deutschland und England müssen die strukturellen Unterschiede bei äußerlich ähnlichen Abläufen festgehalten werden. Der Verfasser stellt an mehreren Stellen heraus, dass man in England einen Konflikt robust mit der Tötung des Gegners beendete. In Deutschland war dies nicht der Fall. Hier starben die Gegner „eines natürlichen Todes“(S. 324). König Albrecht I. wurde Opfer eines persönlichen Racheaktes, Günther von Schwarzburg starb in Frankfurt fern von der Auseinandersetzung mit Karl IV., die im Rheingau bereits militärisch aussichtslos war. Der Kampf um Rechte wurde in England zwischen dem König und einer kleinen Gruppe von eigensinnig ihre Interessen verfolgender Adligen ausgetragen. In Deutschland verlief der Kampf um die Macht anders. Hier waren es nicht Barone, sondern Fürsten, die dem Herrscher Widerpart boten. Das Gegenkönigtum zwischen dem Bayern Ludwig und dem Österreicher Friedrich hatte eine elfjährige durch schlechtes Wetter und Hungersnot militärisch gehemmte Phase, endete nach Friedrichs Gefangennahme in der Schlacht bei Mühldorf 1322 in friedlichem Vergleich. Wenn man das Wahlgeschehen von 1314 und den mühsamen Anfang Karls IV. seit 1346 mustert, muss man stets beachten, dass die Kurfürsten in ihrem Wahlverhalten gespalten waren. Hier wäre auf die Machtstützen der Wähler in den Konstellationen, etwa Bündnisse mit Grafen und niederem Adel, Resonanz in Reichsstädten, auch auf die dynastische Einordnung der geistlichen Kurfürsten, zu achten. Kaufhold ist darin zuzustimmen, dass jene 42 Jahre zwischen der Doppelwahl von 1314 und der Goldenen Bulle 1356 „die interessanteste Phase des späten Mittelalters“ (S. 235) waren. Sein Bild hätte noch bunter werden können. In Rhense hatten die Kurfürsten den Eingriffsversuchen der Kurie die klare Absage erteilt, den Wahlbestimmungen der Goldenen Bulle und dem Übergehen des Papstes war bereits der Boden bereitet.

 

Gleichsam als Gegenbeispiele zu Phänomenen des Aufstiegs oder von Kämpfen zwischen Herrschern und Oppositionsbewegungen, Päpsten und Kardinalsfraktionen dienen die Erörterungen über Absetzungen von Königen und Päpsten. „Die Absetzung eines Königs war eine Krise von solchem Format, dass der ganze Sachverstand der Zeit aufgeboten werden mußte“ (S. 292). Gleiches gilt bei den Päpsten. Man verließ sich nicht mehr auf Erinnerung und orale Überlieferung. Dies wird vom Verfasser aufgezeigt im Blick auf Ereignisse in England. Breiter gewürdigt wird das unterschiedliche Verhalten der Kurfürsten, die als innerlich nicht homogene Opposition gegen König Wenzel zunächst um Anhang im Reich bemüht waren, jedoch im Jahr 1400 faktisch allein standen und den ihnen ranggleichen Pfalzgrafen Ruprecht erhoben. Kaufhold vergleicht das Vorgehen gegen Wenzel mit der Auseinandersetzung der englischen Barone mit Richard II. ein Jahr zuvor und kommt zum Nachweis, dass die Motive in beiden Fällen nicht von Juristen gegeben wurden. Sie lagen vielmehr „in der politischen Erfahrung der entscheidenden Männer mit ihrem König, den sie aufgrund seiner Verfehlungen und Unzulänglichkeiten nicht länger als Herrscher akzeptieren konnten“ (S. 302).

 

Man schließt das Buch mit Dank für Belehrung auf den Feldern der Behörden- und Verfassungsgeschichte seit dem 13. Jahrhundert unter unaufhaltsam wachsendem Einfluss der Verschriftlichung beim Austausch von Argumenten und in Gerichtsverfahren. – Sind beim Vergleich vielfältigen Geschehens mit recht bunten Akteuren auf den weit auseinanderliegenden Schauplätzen in England, Deutschland und an der Kurie die beinahe ängstlich anmutenden, übervorsichtigen Vor- und Rückverweise in Text und Anmerkungen notwendig? Ein Leser, der sich mit einer so gescheiten Darstellung beschäftigt, blättert wohl von selbst. Doch das bleibt, gemessen am reichen Inhalt, nur ein formaler Ausstand.

 

Wiesbaden                                                                                                                            Alois Gerlich