80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte. Symposium Justiz und Zeitgeschichte 11. und 12. Juli 2007 in Wien, hg. v. Bundesministerium für Justiz/Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft 33). Studien-Verlag, Innsbruck 2008. 171 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Österreich gehört zu jenen Ländern, in denen die um runde Jahrestage von als wichtig erachteten historischen Ereignissen zentrierte „Jubiläumsgeschichtsschreibung“ besonders floriert. Jubiläen dieser Art geben Anlass, öffentliche Gelder einzuwerben und das Gedenken, mehr oder weniger wissenschaftlich untermauert, öffentlichkeitswirksam zu zelebrieren. Im besten Fall erzeugt solche Erinnerungspolitik solide Synthesen des Forschungsstandes oder sie gibt gar Impulse für weiterführende Arbeiten. Im schlimmsten Fall werden Fachwelt und Publikum mit lieblos zusammengestoppelten, einzig dem Anlass geschuldeten Schnellschüssen beglückt. Von einem derartigen Produkt ist hier zu reden.

 

Am 15. Juli 1927 setzten in Wien vor allem aus Arbeiterkreisen stammende Demonstranten den Justizpalast in Brand. Nach gängiger Lesart entlud sich hier ein von der Sozialdemokratischen Partei weder gesteuerter noch zu steuernder Massenprotest gegen den am Vortag verkündeten gerichtlichen Freispruch dreier Mitglieder des rechtsradikalen Frontkämpferbundes. Diese waren angeklagt, am 30. Jänner 1927 im burgenländischen Schattendorf im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbund auf dessen Angehörige geschossen und hierbei zwei Personen getötet und fünf weitere verwundet zu haben. Der Sturm auf den Justizpalast mündete in ein Blutbad, weil die heillos überforderte Wiener Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnete; insgesamt kamen bei diesem Ereignis auf beiden Seiten knapp 100 Menschen ums Leben.

 

Jahrzehntelang gab dieser – selbst für die gewaltgeprägten Verhältnisse der Zwischenkriegszeit einzigartige – Vorfall reichlich Stoff für gegenseitige Schuldzuweisungen seitens der Sozialdemokratie und des konservativen Regierungslagers. In den 1960er und 70er Jahren hatten sich die Gemüter soweit abgekühlt, dass die Großparteien die wissenschaftliche Erforschung dieser nun konsensual als Wendemarke der Ersten Republik hin zur Diktatur verstandenen Begebenheit vorantreiben konnten. Von Details abgesehen, können die schrecklichen Ereignisse seit langem als gründlich erforscht gelten, Anlass für grundsätzliche Kontroversen bieten sie kaum noch. Folgerichtig reichte es rund um den 80. Jahrestag des Justizpalast-Brandes 2007 nur mehr für die staatstragend zelebrierte Enthüllung einer Gedenktafel im längst wiederhergestellten Justizgebäude und ein sogenanntes Symposium im Rahmen der etablierten Veranstaltungsreihe „Justiz und Zeitgeschichte“.

 

Was nunmehr im Druck vorliegt, ist kein Tagungsband im herkömmlichen Sinn, denn er enthält nur zum kleinen Teil für die Publikation aufbereitete, erweiterte und mit Nachweisen versehene Vorträge. Vielmehr wurden die Referate von 2007 mehrheitlich unverändert (und, wie noch zu zeigen sein wird, unredigiert) übernommen. Folgerichtig beginnt der Band mit den Grußworten des Bundespräsidenten und der damaligen Justizministerin sowie einer Einleitung von Constanze Kren, wo man neben den bei solchen Anlässen üblichen Floskeln über die Bedeutung der Demokratie usw. die Begrüßung beim Symposium anwesender Gäste und ähnlich Überflüssiges nachlesen kann. Demgegenüber fehlt eine Einleitung der Herausgeber (von denen keiner namentlich in Erscheinung tritt) ebenso wie ein Autorenverzeichnis, weshalb man über die Verfasser der Beiträge buchstäblich nichts erfährt.

 

Nach Lektüre des schmalen Bändchens fragt man sich ernsthaft, worin eigentlich die Tätigkeit der herausgebenden Institutionen – immerhin ein Bundesministerium und ein Ludwig Boltzmann-Institut – bestanden haben könnte. Manche Texte, insbesondere jener von Gerhard Botz, enthalten derart viele sprachliche Fehler, dass man annehmen muss, dass sie niemand korrekturgelesen hat. Die Anordnung der Beiträge folgt keinem erkennbaren Schema: Die Vorgeschichte des Schattendorfer Prozesses wird in der Mitte des Bandes abgehandelt, und dies durch zwei separate Beiträge Klaus Schröders und Vrääth Öhmers, die folgende Titel aufweisen: „Bestandsaufnahme – Die Gerichtsakten zum Schattendorfer-Prozess“ sowie „Gemeinsame Bestandsaufnahme – die Gerichtsakten zum Schattendorfer Prozess“. Man beachte, neben der nahezu wörtlichen Übereinstimmung, die Schlampigkeit indizierenden, unterschiedlichen Schreibweisen identischer Formulierungen. Schließlich sind auch mehrere Texte, die sich allesamt mit der Rezeption des Justizpalast-Brandes seitens der Richterschaft befassen, über die zweite Hälfte des Büchleins verstreut.

 

Der Dilettantismus der Herausgeber äußert sich freilich nicht nur in der beschriebenen unstrukturierten, den Leser in keiner Weise leitenden Platzierung der einzelnen Aufsätze sowie darin, dass ein Lektorat offenbar nicht stattgefunden hat. Sorgfältige Lektüre weist auf, dass die Beiträger – von den Herausgebern unwidersprochen und unkommentiert – sich nicht einmal über die Zahl der Todesopfer am 15. Juli 1927 einig sind: Bundespräsident Heinz Fischer (S. 11) sowie Janko Ferk (S. 59) nennen 89 Getötete, bei Klaus Schröder (S. 93) sind es 90 und bei Gerhard Botz (S. 50) gar 94 von der Polizei erschossene Demonstranten und Unbeteiligte, wobei zugleich auffällt, dass die allerdings wenigen Toten auf Seiten der Sicherheitskräfte gar nicht erst in die Opferbilanz einbezogen werden.

 

Noch ärgerlicher als derlei Ungereimtheiten, die in einem bilanzierenden Band vor Drucklegung hätten ausgeräumt oder wenigstens erklärt werden sollen, sind die unzähligen Wiederholungen und Überschneidungen zwischen den einzelnen Texten. Eine Reihe von Quellen, insbesondere der die Demonstrationen angeblich auslösende Leitartikel der „Arbeiter-Zeitung“ vom Brandtag sowie Kommentare von Elias Canetti und Karl Kraus, werden immer wieder langatmig und zum Teil wörtlich übereinstimmend zitiert. Hier hätten Herausgeber kürzend einzuschreiten, auch wenn dies bedeutet, in die Texte prominenter Autoren aus Politik, Verwaltung und Justiz einzugreifen, wozu der Mut anscheinend nicht gereicht hat. Es wäre auch nicht notwendig gewesen, mehrfach die Besonderheiten der damaligen Geschwornengerichtsbarkeit, die zu dem Freispruch im Schattendorf-Prozess führten, auszubreiten.

 

Anstatt den Band auf das Wesentliche zu straffen (was möglicherweise das Manuskript unter die Schwelle der Publikationswürdigkeit herabgedrückt hätte), wird der Umfang durch etliche weiße Seiten und Repliken aufgebläht. Dieser Methode geschuldet ist letztlich auch die 24 Druckseiten einnehmende Faksimile-Wiedergabe der Anklageschrift in der Causa Schattendorf sowie der schriftlichen Urteilsausfertigung. Die Art und Weise, wie diese beiden Dokumente (die zusammen immerhin ein Siebentel des Bandes ausmachen) präsentiert werden, schlägt alles, was dem Rezensenten in vielen Jahren untergekommen ist. Klaus Schröder, dessen Beitrag zum Großteil aus dieser „Edition“ besteht, teilt nicht einmal den jetzigen Fundort der Quellen mit. Obwohl die Namen der drei Angeklagten bei Schröder sowie bei mehreren anderen Autoren vollständig genannt werden (und durch die Fachliteratur, ganz zu schweigen von Wikipedia, alles andere als ein Geheimnis sind), wurden sie im Faksimileabdruck bis auf die Initialen geschwärzt. Gleichartige Schwärzungen wurden sogar bei den Namen der Zeugen und sonstiger an dem Schattendorfer Geschehen und am Prozess Beteiligten, ja selbst bei den Richtern, Sachverständigen und beim Schriftführer vorgenommen. Ganze vier Seiten (die Zeugenliste auf S. 100-103) bestehen nahezu ausschließlich aus Schwärzungen! Abgesehen davon, dass mehr als 80 Jahre nach den Ereignissen und viele Jahre nach dem Tod aller Beteiligten keinerlei einsichtige Geheimhaltungsinteressen mehr bestehen, fragt man sich, was der Leser mit dieser Orgie in Schwarz anfangen soll. Da man die Identität der Angeklagten, wie oben dargelegt, anderswo im Band mühelos erfährt, ist dies wohl Personenschutz auf österreichisch …

 

Kommen wir nun zu den Inhalten der Beiträge, die vor allem eines gemeinsam haben: Ihre extreme Heterogenität. Der längste umfasst 36 Druckseiten und ist reichlich durch Belege dokumentiert. Therese Hurch bringt ihre spärlichen, schwer zu verfolgenden weil unvollständigen Nachweise nicht in Endnotenform, sondern im Text verstreut. Ein besonderes „Schmuckstück“ des Bandes liefert Elisabeth Büttner, gezählte 14 Zeilen lang (!) und inhaltlich kaum verständlich. Wem ist mit solchen Gedankensplittern gedient?

 

Die Verfasser setzen sich, abgesehen von den beiden Politikern mit ihren Grußworten, aus Juristen und Historikern zusammen. Erstere befassen sich primär mit Erläuterungen der damaligen Rechtslage, vor allem der Geschwornengerichtsbarkeit, sowie mit der Wahrnehmung von Prozess und Brand durch die Richterschaft. Wenngleich verständlich ist, dass das (Fehl-)Urteil im Schattendorf-Prozess Veranlassung bietet, über Sinn und Unsinn der Laienbeteiligung an der Rechtssprechung nachzudenken, so muss man doch konstatieren, dass diese Ausführungen ebenso wie jene über die Befindlichkeit der Richterschaft einen direkten Konnex zum Juli 1927 vermissen lassen. Im Übrigen sind sich die Autoren einig, dass „Schattendorf“ für jene unverändert geführten Debatten längst keine Rolle mehr spielt.

 

Historiker haben an dem Band lediglich vereinzelt mitgewirkt; nur wenige Zeitgeschichtler sind hier vertreten. Ist die Publikation schon aus den oben dargelegten Gründen inhaltlich unausgewogen, so fällt besonders auf, dass das Handeln der damaligen Regierung unter dem christlichsozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel nur en passant und quasi als Kontrastfolie zu der als berechtigt gezeichneten Empörung des linken Lagers thematisiert wird. So interessant es ist, die literarische Verarbeitung des Brandes nachzulesen (Beitrag Gerald Stieg), so unbefriedigend ist die für den Band als Ganzes typische Blickverengung. Wer den 15. Juli 1927 als Symbol der tiefen Spaltung der damaligen österreichischen Gesellschaft versteht, müsste logischerweise auch jenen Kreisen Aufmerksamkeit schenken, die damals die Regierungssicht teilten – und das waren, vor allem außerhalb von Wien, nicht eben wenige.

 

Neben den vielen Schnellschüssen, essayistisch-persönlich gehaltenen oder Gegenwartsprobleme anschneidenden Texten (in letztere Kategorie fällt etwa die wohl nur wegen ihrer Funktion in dem Band vertretene Präsidentin des Obersten Gerichtshofes) bringt einzig der lange Beitrag aus der Feder von Gerhard Botz wirklich Neues. Botz ordnet das Geschehen am 15. Juli 1927 nicht nur in die politisch-soziale Entwicklung der Ersten Republik ein und skizziert Vor- wie Nachgeschichte, er rekonstruiert zudem minutiös die Abläufe jenes Tages. Durch seine subtile Analyse von Fotos, die – glaubt man dem Verfasser – anhand der erkennbaren Schattenwürfe bis auf die Minute genau datiert werden können, wird unser Wissen über das, was sich damals abspielte und wer eigentlich auf die Straße ging, erweitert. Botz steuert nach Auffassung des Rezensenten den einzigen wirklich lesens- und druckwürdigen Beitrag zu diesem Bändchen bei. Er hätte aber ebenso gut in einer Fachzeitschrift erscheinen können und rechtfertigt nicht die ausweislich des Impressums gewährte Druckkostenförderung aus öffentlichen Mitteln, die für einen außergewöhnlich inhaltsarmen, heterogenen und skandalös schlampig redigierten Band verschwendet wurde.

 

Graz                                                                                                              Martin Moll