Schmerbach, Folker, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933-1939 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XIII, 325 S. Besprochen von Werner Schubert.
Zwischen dem 12. 7. 1933 und dem Kriegsbeginn mussten etwa 20.000 preußische und seit 30. 1. 1936 auch die Referendare aus den übrigen Reichsgebiet acht Wochen ihres Vorbereitungsdienstes im „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ in Jüterbog (60 km südlich von Berlin) verbringen. Mit dem Werk Schmerbachs liegt erstmals eine eingehende Untersuchung über dieses Lager vor, das die „Erinnerungen“ Sebastian Haffners 2002 einer breiteren Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gebracht haben. Grundlage der Arbeit sind die General- und Sachakten des Reichsjustizministeriums und des Justizprüfungsamtes des Reichs im Bundesarchiv Berlin. Die Einrichtung des Lagers erfolgte durch eine Gründungsverordnung des preußischen Justizministers Kerrl vom 29. 6. 1933 (S. 22), wonach das Ziel des Lageraufenthaltes eine „Charakterprüfung“ sein sollte: „Im Rahmen der Großen Juristischen Staatsprüfung hat jeder Kandidat nach Ablieferung seiner letzten schriftlichen Arbeiten bis zur mündlichen Prüfung, also etwa sechs Wochen lang, in einem Gemeinschaftsleben mit anderen Kandidaten zu verbringen.“ Im Mittelpunkt des Lageraufenthalts stand zunächst eine wehrsportliche Ausbildung mit Arbeits- und insbesondere Bauleistungen. Jede berufswissenschaftliche Betätigung für die Examenskandidaten im Lager war zunächst verboten. Juristische Bücher mussten beim Eintreffen im Lager abgegeben werden (S. 20, 102). Die mündliche Prüfung fand oft nur 1-3 Tage nach dem Lageraufenthalt statt. Erst seit März 1935 wurde der Lageraufenthalt in den letzten Ausbildungsabschnitt verlegt (S. 102). Das Schulungskonzept wurde 1935 erheblich verändert; die wehrsportliche Ausbildung entfiel mit der Einführung der Wehrpflicht. Die Ausbildung in Arbeitsgemeinschaften war auf die Vermittlung des neuen, seit 1933 erlassenen nationalsozialistischen Rechts und auf die Methodenkenntnis für den Umgang mit älterem Recht ausgerichtet (S. 179 f.). 1936 standen 84 Unterrichtsstunden juristischer Schulung 42 Stunden sonstiger Schulung gegenüber (S. 124).
Schmerbach analysiert im ersten Kapitel (S. 19-151) das Schulungskonzept des Lagers unter den Gesichtspunkten der Antiintellektualität, der Antibürgerlichkeit und des Antiindividualismus. Zunächst geht es um die Einrichtung des Lagers, die Änderungen der Referendarausbildung und die „Adaptionselemente“ (Lagergedanke/Gemeinschaftserziehung). Es folgt ein Abschnitt über die Dominanz zunächst der SA in der Lagerleitung, die bis Ende 1934 in den Händen des SA-Standartenführers Christian Spieler lag (bis 1933 auch Rechtsanwalt in Altona). Ab Frühjahr 1934 wurde eine später sehr umfangreiche Lagerbibliothek mit umfassender juristischer Literatur eingerichtet (S. 119ff.). Im Abschnitt über den Antiindividualismus behandelt Schmerbach die Teilnahmepflicht, die Lagerordnung, die zu Misstrauen und gegenseitiger Überwachung führte, und den Uniformzwang. Der hohe Teilnahmebetrag bedeutete ein ernsthaftes Akzeptanzproblem, das mit der Zahlung von Unterhaltszuschüssen allmählich entschärft wurde. Das Schicksal des Lagers wurde auch nach der Verreichlichung der Justiz von Freisler und dem langjährigen Präsidenten des Reichsprüfungsamtes Otto Palandt (vgl. auch das Gutachten von Palandt über die Juristenausbildung von 1944 bei W. Schubert, Protokolle der Akademie für Deutsches Recht, Bd. VI, Frankfurt am Main 1977, S. 845ff.) bestimmt. Die Forderung Hans Franks, das Lager aufzulösen und die ideologische Schulung der angehenden Juristen den Parteiorganen zu übertragen, führte zu einer verstärkten juristischen Ausbildung im Lager. Im Abschnitt „Vergleich mit anderen Lagern“ behandelt Schmerbach auch das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer bei Kiel (S. 156ff.), über das noch immer keine hinreichend gesicherten Kenntnisse vorliegen. Abgeschlossen werden die Untersuchungen mit einem Kapitel über die Frage nach dem „Erfolg“ des Lagers (S. 224-272). Hier geht Schmerbach unter der Überschrift „Jüterbog als ,Symbol’ – Außenwirkung und Inszenierung des Lagers“ (S. 228ff.) auf das Bild des „erhängten Paragraphen“, dessen Fehlinterpretationen er entgegentritt, auf das Presseecho, die Selbstdarstellung sowie auf den Umgang mit Jüterbog nach 1945 und auf die Lagerzeugnisse ein, von denen sich 3.500 erhalten haben (S. 244; S. 315 Wiedergabe eines Beispiels). Die große Mehrzahl der überlieferten Zeugnisse enthält „wohlwollende und halbwegs zufriedene Formulierungen“ (S. 249). Wie weit die Beurteilungen das weitere berufliche Fortkommen der Juristen mit beeinflussten, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen. Insgesamt kann mit Schmerbach von einem „Erfolg“ des Lagers, das mit Kriegsbeginn wegen der Anforderung der Gebäude durch das Heer geschlossen wurde, nicht die Rede sein. Das Ziel der Auslese wurde verfehlt. Der Lageraufenthalt war – so Schmerbach – „für die Teilnehmer lediglich der vorläufige Schlusspunkt im Prozess nationalsozialistischer Erziehungsbemühungen“, so dass die acht Wochen in Jüterbog nur einen „Ausbildungs- und Sozialisierungsabschnitt“ bildeten (S. 276). Vielleicht hat die im Einzelnen nicht näher bekannte Lagerausbildung im NS-Recht zu einer systemstabilisierenden Judikatur der in Jüterbog ausgebildeten Juristen geführt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass zumindest die obergerichtliche Judikatur wohl ganz überwiegend bis Kriegsende noch in den Händen der vor 1933 ausgebildeten Juristen lag. Insgesamt hat Schmerbach in seiner teilweise interdisziplinär ausgerichteten Studie (Hinweise auf die Lagerideologie, den Arbeitsdienst, die Jugendbewegung; Vergleich mit den anderen Schulungslagern auch im faschistischen Italien und in Frankreich unter dem Vichy-Regime; nationalsozialistische Polykratie) die sehr zerstreut überlieferten Materialien über das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ in eine eindrucksvolle Gesamtdarstellung zusammengeführt. Angesichts der Darstellung primär nach Sachgesichtspunkten wäre zur Orientierung des Lesers ein detaillierterer chronologischer Überblick über die Geschichte des Lagers nützlich gewesen. Mit seinem Werk hat Schmerbach das „aus Erzählungen früherer Referendare gespeiste sagenumwobene Bild von Jüterbog“ entzaubert und damit eine wichtige Forschungslücke für die NS-Juristenausbildung geschlossen.
Kiel |
Werner Schubert |