Marquardt, Bernd, Die alte Eidgenossenschaft und das Heilige Römische Reich (1350-1798). Staatsbildung, Souveränität und Sonderstatus am alteuropäischen Alpenrand (= Europäische Rechts- und Regionalgeschichte 3). Nomos/Schulthess, Baden-Baden/Zürich 2008/2007. XIV, 388 S. Besprochen von Peter Blickle.

 

Marquardt ist 1999 mit einer als originell gerühmten Dissertation „Das Römisch-Deutsche Reich als Segmentäres Verfassungssystem (1348- 1806/48)“, hervorgetreten[1]. Dort hatte er die These entwickelt, „Basiseinheiten“ des Reiches seien „lokale Herrschaften“ gewesen, die durchschnittlich rund 1000 bis 5000 Einwohner umfassten und „auf der Interaktion von einem dynastisch legitimierten Herrn und einer genossenschaftlich organisierten bäuerlichen  Gerichtsgemeinde [...] basierten“ (17). Deren überlokale Einbindung erfolgte durch die Monarchien des europäischen Ancien Régime, die aber keinen vereinheitlichenden, die Fläche herrschaftlich durchdringen Charakter aufwiesen.

 

Konzipiert vor diesem Hintergrund diskutiert Marquardt die Frage, „Wann wurde die Schweiz souverän? 1291, 1499, 1648 oder 1798?“ (VII). Er entscheidet sich für 1798, denn „eine Souveränität der Schweiz beziehungsweise ihrer Kantone [...] konnte erst mit dem in einem gemeineuropäischen Kontext eingebetteten revolutionären Umbruch von 1798 entstehen“ (333), also mit der Helvetik. Aller vorgängigen europäischen Geschichte hafte „eine reproduktionszyklische, rückwärtsgewandte, legitimitätsbedachte Tendenz an“. Das Jahr 1291, gemeint ist der Bund der drei Waldstätten Uri Schwyz und Nidwalden, wird von Marquardt nicht eingehend diskutiert, obschon die lokale pax iurata, die ihm zugrunde liegt, einen politischen Körper generiert, der mit traditioneller dynastischer Herrschaft nichts zu tun hat. 1499 (Schwaben- bzw. Schweizerkrieg) und 1648 (Westfälische Frieden) werden beide für die Souveränität der Schweiz als relativ unbedeutend erachtet. 1499 liefert lediglich den Beweis, dass die spätmittelalterlichen Landfriedensbündnisse (Eidgenossenschaft, Schwäbischer Bund) auslaufende Modelle der Friedenssicherung gegenüber dem Reichslandfrieden von 1495 darstellen, denn der Schwabenkrieg (beziehungsweise Schweizerkrieg) war nichts anderes als eine Kettenreaktion auf einen lokalen Konflikt. Die Zugehörigkeit zum Reich wurde 1499 nirgendwo in der Eidgenossenschaft in Frage gestellt. 1648 (Westfälischer Friede) brachte lediglich für drei eidgenössische Orte die rechtliche Gleichstellung mit den übrigen zehn in Form der Freistellung von der obersten Reichsgerichtsbarkeit und den Reichssteuern „unter grundsätzlichem Verbleib im Friedens- und Rechtsverband des Reiches“ (123). „Friedensstaaten“ sind alle Königreiche in Europa, das so den Charakter „einer elitären Genossenschaft ranghoher Monarchen“ (333) gewinnt. Friedensstaat ist selbstredend auch die Schweiz – mit anderen wie Graubünden, Reichs-Italien, Kurland oder Schleswig. Sie alle nehmen einen „Sonderstatus“ ein, weil sie nicht souverän sind, doch ist die Eidgenossenschaft zwischen 1495 bis 1798 „ohne Frage jene Großregion gewesen [...], die neben Reichs-Italien das höchste Maß von Autonomie im Rahmen des römischen Reichsverbandes zu behaupten vermocht hat“ (335).

 

Innerhalb dieses Interpretationsrahmens gibt Marquardt dann doch auch der Differenzierung Raum. Immerhin gibt es zwischen 1651 und 1730 bei sechs der 13 Orte der Eidgenossenschaft (Basel, Zürich, Bern, Schaffhausen, Solothurn und Luzern) „Souveränitsbekundungen“ – aus dem Bürgereid werden die Bezüge auf die Reichsverfassung gestrichen, auf die Verlesung der kaiserlichen Privilegien am Schwörtag wird verzichtet und die kaiserlichen und reichischen Hoheitszeichen werden nicht mehr verwendet (118). Diese Sechsergruppe lehnt sich an Frankreich an (und entgeht so dem Schicksal des Elsass), die sechs Städte positionieren sich als „neutrale Staaten“ (134).

 

Die leitende These der Arbeit wird durch 11 regionale „Detailstudien“ empirisch untermauert. Mit der Reichabtei St. Gallen, der Reichsabtei Einsiedeln, dem Fürstbistum Chur, den  Reichsstädten St. Gallen, Rottweil, Rapperswil und Stein am Rhein, dem Stadtstaat Zürich, dem Appenzell, der Landgrafschaft Thurgau und den geistliche und weltliche Herrschaften im Rheintal zwischen Bodensee und rätischen Alpen handelt es sich im wesentlichen um ostschweizerische Herrschaften, deren Bindungen an das Reich bekanntermaßen erheblich stärker waren als in der Inner- und Westschweiz. So verwundert auch das durchgängig gleichlautenden „Fazit“ – ausgenommen ist lediglich Zürich – nicht: eine äußere Souveränität sei bis 1798 nicht belegt (205, 210, 228, 254, 260, 274, 280, 304, 332). Aber selbst  Zürich, das die „äußere Souveränität“ im 18. Jahrhundert beansprucht, tat dies „ohne vollständige Lösung des ‚Nexus Imperii’“ (268).

 

Hat man sich an die etwas ungewöhnliche Begriffsbildung Marquardts erst gewöhnt, bietet die Arbeit viele unerwartete und interessante Durchblicke, nicht nur auf die Schweiz und das Reich, sondern durch die vergleichende Exkurse auch auf Europa. Sie erscheint forschungsstrategisch zu einem günstigen Zeitpunkt, denn über die Souveränität der Eidgenossenschaft ist unter dem Begriff „Republic“ eine interessante, weit über die Schweiz hinaus reichende Debatte im Gang[2].

 

 

Saarbrücken                                                                                                   Peter Blickle



[1] Vgl. Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne 1650-1800, Stuttgart 2003, S. 100.

[2]  Vgl. Thomas Maissen, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, Göttingen 2006.