Luminati, Michele, Priester der Themis. Richterliches Selbstverständnis in Italien nach 1945 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Rechtsprechung Materialien und Studien 25). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. XIII, 463 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

 

Mit der vorliegenden Monographie legt der Verfasser die ergänzte und überarbeitete Fassung seiner Zürcher Habilitationsschrift aus dem Jahre 2000 in gedruckter Form vor. Die Untersuchung ist der italienischen Justiz der Nachkriegszeit, insbesondere dem Rollenverständnis der italienischen Richterschaft während der letzten Nachkriegsjahrzehnte, gewidmet. Die Aufgabenstellung lässt sich am Besten mit den Worten des Autors selbst beschreiben: „Nicht, was Richter denken, auch nicht, was Richter tun“ – schreibt der Verfasser – „sondern lediglich, was, wie und wo Richter schreiben, wenn sie sich selbst beschreiben, bildet den Gegenstand der vorliegenden Arbeit.“ Richterliche Selbstreflexion wird aus der „Position eines Beobachters dritter Ordnung, eines Beobachters der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung“ untersucht. „Es geht also“ – fährt der Verfasser fort – „um eine Fremdbeschreibung der Selbstbeschreibung italienischer Richter in der Nachkriegszeit, der von ihnen geführten Diskussionen über den ‚buon magistrato’, über Berufsmodelle und –bilder.“ Nicht also die Veränderung der italienischen Gerichtsverfassung in der Republik seit 1946, auch nicht die äußeren Bedingungen der Justizverwaltung und der Rekrutierung des Justizpersonals seit der Gründung der italienischen Republik und noch weniger die Qualität der italienischen Judikatur der letzten Jahrzehnte sollen Gegenstand der Untersuchung sein, sondern eher die professionelle Selbstbeschreibung dieser Berufsgruppe, wie sie aus den Selbstdarstellungen aus der Mitte der Richterschaft herausgelesen werden kann. Theoretisch wird der Verfasser also vom soziologischen Modell der Systemtheorie und nicht zuletzt vornehmlich von der französischen Milieusoziologie, die Pierre Bourdieu eingeleitet hat, inspiriert. Der „Habitus“ des Richters in der sozialen Selbstbeschreibung dieser Berufsgruppe steht im Zentrum der Untersuchung. Diese ist Ergebnis einer außergewöhnlich fleißigen und in die Tiefe gehenden Erschließung einer immensen Dokumentation, welche der Verfasser z. T. in der juristischen Bibliothek des Justizministeriums und der Abgeordnetenkammer in Rom gesammelt hat. Wie beeindruckend diese Literatur- und Quellenerschließung ist, ergibt sich aus dem Quellen- und Literaturverzeichnis, das, in mehrere Abschnitte gegliedert, immerhin mehrere Hundert Seiten erfasst (S. 267-462). Einen besonderen Platz nimmt darin ein prosopographischer Anhang (S. 397-462) ein. Darin werden alphabetisch und tabellarisch die kurzen Biographien und vor allem die jeweiligen Karrierestationen von vielen Hunderten italienischer Richter aufgelistet, deren berufspolitisches Wirken im Rahmen der Monographie erfasst und in unterschiedlichen Zusammenhängen behandelt wird. Wie bereits erwähnt, ist das Erkenntnisinteresse des Verfassers weder rechtspolitisch noch rechtssoziologisch im engeren Sinne des Wortes. Der Rückgriff auf die Kultursoziologie von Bourdieu erlaubt es, dieses Unternehmen eher als kultursoziologisch zu charakterisieren. Es geht um die Rekonstruktion und Durchdringung der diskursiven Selbstbeschreibung der Richterschaft aus ihrer eigenen berufsständischen Selbstbeschreibung. Eine solche Selbstbeschreibung entfaltet eine eigene Realität, „produziert also Realität“, wie der Verfasser auf S. 22 ausführt. „Schein erzeugt Sein, die Lebenslüge erfüllt eine (über-)lebensnotwendige Funktion“ – schreibt der Verfasser an derselben Stelle. „Im selbstreflexiven Diskurs wird der ‚magistrato’, dessen Habitus, dessen mentale und körperliche Haltung konstruiert und eben nicht vorausgesetzt.“ Der theoretische Anspruch und die verdichteten, aber vorzüglich dokumentierten Nachweise machen die Lektüre des Buchs, um dies vorauszuschicken, nicht leicht. Die Lektüre wird auch nicht erleichtert durch Texteinschübe (Fenster), in denen spezifische Aspekte der italienischen Nachkriegsgeschichte der Justiz im Einzelnen auch optisch herausgestellt werden (vgl. etwa Fenster IV: Die republikanische Verfassung. Zweideutige Ergebnisse einer politischen Diskussion, S. 91-94). Eindrucksvolle Bilder, meistens von Kassationsrichtern, ergänzen die Darstellung und liefern auch optisch eine Fortschreibung der Untersuchung mit anderen Mitteln. Einiges sei zunächst kursorisch über den Gang der Untersuchung mitgeteilt.

 

Nach einem ersten Kapitel, in dem einleitend Zielsetzung und Gang der Untersuchung beschrieben werden, folgt ein zweites, längeres Kapitel (S. 23-104). Hier steht der Neuanfang der italienischen Justiz nach dem politischen und auch moralischen Zusammenbruch von 1945 im Mittelpunkt. Ein drittes Kapitel „Von der geschützten zur pluralistischen Magistratur“ (S. 105-192) ist den 50er und 60er Jahren gewidmet. Im Zentrum stehen hier die politisch gefärbten Spaltungen innerhalb der italienischen Richterschaft. Ein viertes und letztes Kapitel „Vom Priester der Themis zum Garanten der (neuen) Legalität“ (S. 193-265) gilt der jüngeren Zeit und schließt sich an die Gegenwart an. Zeitlich umspannt die Untersuchung etwa vier Jahrzehnte. Von dem Neubeginn mit dem Zusammenbruch der faschistischen „Republica sociale“ im April 1945 in Norditalien bis zu der staatspolitischen Krise, wozu die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen gegen die Staats- und Parteikorruption der ersten italienischen Republik („mani pulite“) und deren politisches und Parteiensystem führten, spannt sich also der Bogen. Will man die Untersuchung in ihrer Gesamtheit zusammenfassen, so lässt sich im Kern ein roter Faden für dieses zweite, dritte und vierte Kapitel durchaus erkennen. Der Neuanfang nach dem Zusammenbruch des Faschismus geschah nach der Darstellung des Verfassers im Zeichen der Kontinuität. Die italienische Richterschaft knüpft bezeichnenderweise an die Tradition der italienischen Justiz vom Anfang des 20. Jahrhunderts an. Betont werden gerade bei den berufsständischen Stellungnahmen in den ersten Monaten der Nachkriegszeit die Unabhängigkeit und die strikte Legalität der Justiz. Die Verstrickung mancher Mitglieder der Richterschaft während der faschistischen Diktatur wurde bewusst ausgeklammert und übersehen. Die Haltung ist insoweit berufsständisch und sehr konservativ. Die Berufsgruppe findet in der ständigen Betonung ihrer Unabhängigkeit und ihrer Funktion als Staatsorgan eine Rechtfertigung für ihre nach außen erklärte Geschlossenheit. Die italienische Richterschaft definiert sich insoweit in den 50er Jahren noch als integraler Bestandteil der italienischen Staats- und Sozialverfassung. Das Bild der Geschlossenheit in dieser legalistischen Selbstbeschreibung beginnt, am Ende der 60er Jahre und eindeutig nach den politischen Wirren am Anfang der 70er Jahre, Risse zu bekommen. Es ist die Zeit der Gründung gegnerischer Richtervereinigungen, die, jeweils politisch gefärbt, in Konkurrenz zueinander treten und das Selbstverwaltungsorgan der italienischen Justiz (Consiglio nazionale della Magistratura) zu beherrschen beginnen. Ein gemeinsames Selbstverständnis wird in diesen Jahren in Frage gestellt, auch wenn alle Lager an dem traditionellen Bild des unabhängigen und nur dem Gesetz unterworfenen Richters festhalten. Die Diskussion zum neuen Richterbild beschäftigt die italienische Justiz bis heute, und die internen Auseinandersetzungen über dessen Konkretisierung dauern ebenso bis heute an. Der Verfasser geht hierauf nur andeutungsweise ein (S. 258ff.). Nach der durch die terroristischen Anschläge ausgelösten Staatskrise Ende der 70er Jahre versuchten die politischen Parteien die Kontrolle über die Justiztätigkeit wieder zu erlangen. Der Konflikt findet seinen ersten Höhepunkt bei den staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen in Mailand, in deren Rahmen im Jahre 1987 ein Zusammenbruch des damaligen italienischen Parteiensystems eingeleitet wird. Es ist bezeichnend, dass von politischer Seite zur gleichen Zeit durch ein Referendum eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Magistrats auch in Fällen grober Fahrlässigkeit mit entsprechenden institutionellen Konflikten zwischen den Selbstverwaltungsorganen der Richterschaft und dem Staatspräsidenten in den Jahren von 1985 bis 1992 eingeführt wird. Damit schließt die Untersuchung mit Problemen, die bis in die heutige Gegenwart reichen.

 

Am Ende der Lektüre bleibt der Gesamteindruck ambivalent. Der Rezensent war von der Lektüre gefesselt. Er verschweigt auch nicht seine persönliche biographische Befangenheit gegenüber solchen Themen. Er hat Namen, Personen und Aspekte, die ihm nicht zuletzt während seiner Studienzeit begegnet sind, wieder gefunden. Das Buch stellt zweifelsfrei eine grundlegende Beschreibung der italienischen Justiz der Nachkriegszeit dar. Im italienischen Schrifttum existiert zwar eine unübersehbare Literatur zum Thema der Justizpolitik, die der Verfasser sorgfältig erschlossen und nachgewiesen hat. Es fehlt jedoch eine solche, in sich geschlossene historische und kultursoziologische Darstellung. Schon aus diesem Grund ist auf eine auch ins Italienische übersetzte Fassung des Werkes zu hoffen, die auch in Italien eine angemessene Rezeption erfahren muss. Das Buch ist insoweit sicher zum Verständnis der italienischen rechtspolitischen Entwicklung der Nachkriegszeit eine wichtige Lektüre. Der Verfasser begegnet der italienischen Richterschaft als Außenbeobachter, wie er selbst schreibt. Er wird insoweit dem Rezensenten einige persönliche Ergänzungen hierzu erlauben. Es ist zweifellos richtig, dass, wie übrigens auch in Deutschland, die italienische Justiz nach dem Zusammenbruch des Zweiten Weltkriegs einen Anschluss an die professionelle Vergangenheit der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gesucht hat, und zwar in völliger Kontinuität der eigenen professionellen Selbstbeschreibung. Die italienische Justiz war und ist übrigens weit legalistischer als etwa die deutsche. Es handelt sich um ein legalistisches Verständnis der Rechtsfindung, das wohl wahrscheinlich in den piemontesischen, durch das französische Recht beeinflussten Anfängen des italienischen Rechts der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Wurzeln findet. Anders als die französische war aber die italienische Justiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unfähig, Fortbildungen zu realisieren, die die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Zeit notwendig machten. In diese Haltung und ebenso in diese retardierende Charakterisierung ordnet sich die italienische Rechtsprechung der Nachkriegszeit ein. Bezeichnenderweise akzeptierte das italienische Kassationsgericht Lösungen auf dem Gebiet etwa des Rechts der unerlaubten Handlungen mit jahrelanger Verspätung im Vergleich zu der Judikatur anderer europäischer Länder, etwa der französischen Cour de Cassation oder des Schweizerischen Bundesgerichts. Die in der Verfassung verankerte und durch die damalige italienische Richterschaft unbedingt gewünschte vollständige Autonomie der „magistrati“, die ihre Selbstverwaltung und Disziplinargewalt im Rahmen des „Consiglio nazionale della Magistratura“ selbst verwalten, hat sich rechtspolitisch nicht immer als glückliche Lösung erwiesen. Das z. T. durch das Parlament besetzte höchste Selbstverwaltungsorgan der italienischen Justiz spiegelt seit den 60er und 70er Jahren die jeweiligen parlamentarischen Mehrheiten und ist seitdem durch politische Konfrontationen charakterisiert. Darin findet auch die parteipolitische Zerrissenheit der derzeitigen italienischen Richterschaft eine Erklärung. Ebenso ist die Einordnung der Karriereverläufe durch diese Entwicklung seit der Reform im Jahre 1979 zu verstehen. Seitdem erfahren die Richter eine Beförderung ausschließlich über das Dienstalter, und seit der Aufnahmeprüfung findet keine weitere Qualifikationskontrolle als Zugangsvoraussetzung zu den Appellationsgerichten und zum Kassationsgericht statt. Eine solche Entwicklung scheint dem Rezensenten rechtspolitisch, wohl anders, als der Verfasser annimmt, nicht glücklich zu sein. Die italienische Justiz ist heute nach außen verschlossener denn je. Bezeichnenderweise sind keine Möglichkeiten vorgesehen, etwa aus der Anwaltschaft oder aus der universitären Wissenschaft Kräfte für das Richteramt zu gewinnen. Selbst die Errichtung einer Nationalen Richterschule zu einer besseren professionellen Vorbereitung auf die richterliche Tätigkeit der jungen Gerichtsreferendare und zur Fortbildung der Richter selbst wurde in den vergangenen Jahren von der weit überwiegenden Mehrheit der italienischen Justiz feindselig abgelehnt und als Instrument einer politischen Einflussnahme empfunden. Die Selbstverwaltung der italienischen Richterschaft ist vielleicht nach Ansicht des Rezensenten, und hier unterscheidet er sich wohl vom Verfasser, wenn er ihn richtig verstanden hat, ein, wenn nicht gar der wesentliche Grund für die heutige katastrophale Dysfunktion der italienischen Justiz. Eine Prozessdauer von Jahrzehnten in der Ziviljustiz und eine skandalöse Dauer der Untersuchungshaft und der Strafverfahren in der Strafjustiz haben die italienische Justizgegenwart zu völliger Lähmung geführt. Nicht nur finanzielle Gründe, sondern vornehmlich die berufsständische Verschließung gegen Reformen von außen liefern hier den tieferen Grund für eine solche Entwicklung. Das Buch verdient jedenfalls, dass es auch in Italien ernsthaft rezipiert und diskutiert wird.

 

Saarbrücken                                                                                       Filippo Ranieri