Jokisch, Benjamin, Islamic Imperial Law. Harun-Al-Rashid’s Codification Project (= Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients - Beihefte zur Zeitschrift Der Islam - Neue Folge 19). De Gruyter, Berlin 2007. IX, 757 S. Besprochen von Hans Hattenhauer.

 

Es geschieht selten, dass der Titel eines Buches weniger verspricht, als das Buch dann bietet. Bei dieser in englischer Sprache verfassten Habilitationsschrift der Hamburger Islamistik ist dies der Fall. Es geht um die Geschichte des islamischen Rechts in dessen ersten beiden Jahrhunderten und um seine Einordnung in den interkulturellen Zusammenhang der Zeit. Zwei Hauptthesen tragen die Darstellung: eine vertiefte Sicht der kulturellen Symbiose der islamischen und byzantinischen Welt und der Versuch einer staatlichen Säkularisierung des islamischen Rechts durch das Kalifat zu Bagdad.

 

Von den drei Perioden des islamischen Rechts seiner ersten beiden Jahrhunderte – Frühphase, „imperiales Recht“, „Juristenrecht“ – erörtert der Verfasser die letzten beiden und hier insbesondere den Übergang von der zweiten zur dritten Periode. Die Geschichte des islamischen Rechts verlaufe keineswegs geradlinig von Mohammeds und dem Koran zum endlichen „Juristenrecht“. Dazwischen habe es eine Epoche gegeben, in welcher die in der Mitte des 8. Jahrhunderts in Bagdad zur Macht gekommenen abbassidischen Kalifen den Versuch der Entwicklung eines eigenen, herrschaftlichen Rechtsbegriffs unternommen hätten. Es sei ihnen, unter Bekenntnis zu dem vom Propheten offenbarten religiösen Recht, um Festigung ihrer politischen Macht durch einen, der byzantinischen Verfassung ähnlichen, absolutistischen Zentralismus gegangen. Dem habe auch die Kodifikation des islamischen Rechts dienen sollen. Mit dem Entwurf einer solchen Gesetzbuchs sei von Harun al-Rashid (786-809) eine Kommission betraut worden, der auch byzantinische und jüdische Juristen angehört hätten. Das von Shaybani und Abu Yussuf verfasste Werk sei wesentlich durch Rezeption byzantinisch-römischen Rechts, insbesondere der Digestumsumma des Anonymus und der Glosse des Enantiophanes zustandegekommenen. Trotz dessen raschen Verbreitung sei es schließlich am Widerstand der Rechtslehrer gescheitert. Das angestrebte „imperiale“ Recht habe dem „Juristenrecht“ weichen müssen. Das Unternehmen staatlich betriebener Säkularisierung des Rechts blieb eine Episode der frühen islamischen Rechtsgeschichte, die Zukunft gehörte dem theokratischen Recht der islamischen Rechtslehrer.

 

Betont wird der weite kulturelle Rahmen, in welchem sich dies ereignete. Die übliche Annahme einer strengen gegenseitigen Abgrenzung zweier miteinander verfeindeter Mächte und Kulturen wird eindrucksvoll widerlegt. Man begegnete einander nicht nur selten und  notgedrungenen, sondern hatte keinerlei Berührungsängste. So bedrängt Byzanz durch das Aufkommen des Islam auch war, so offensichtlich war es vorläufig doch die kulturell überlegene Macht. In Bagdad nahm man sorgfältig wahr, was in Byzanz zu lernen war, wie umgekehrt Byzanz sich für die dortigen Ereignisse interessierte. Man verkehrte ständig und erstaunlich unverkrampft miteinander. Das im Koran erkennbare Feindbild von Byzanz galt in der politischen Praxis der Zeit zwischen Bagdad und Konstantinopel nicht. Beide Mächte litten an denselben religiös gedeuteten politischen Krisen, denen sie mit demselben Instrumentarium zu begegnen suchten. Der hochpolitische byzantinische Streit um den Moniophysitismus habe in vergleichbarer Weise auch in Bagdad getobt und hier wie dort hätten die um Sicherung ihrer Herrschaft bemühten Kaiser und Kalifen die Partei der Ikonoklasten beziehungsweise deren islamische Entsprechung gefördert. Der Verfasser kann diese Feststellung nur wagen, weil er die traditionellen Schranken der Fachwissenschaften durchbricht und den Kulturvergleich auf der ganzen Breite seiner theologischen, politischen und kulturellen Fragen beschreibt. Wo bisher von den betroffenen Fachwissenschaften die jeweils eigenen Sichtweisen gegeneinander abgegrenzt erforscht werden, wird in einem Gesamtüberblick einer kulturell-politischen Symbiose einleuchtend gezeigt, wie Bagdad bei Byzanz in die Schule ging.

 

Unvermeidlich handelt man sich mit einer solchen, die Grenzen der Fachwissenschaften sprengenden Gesamtschau die Kritik der im Einzelnen sicher oft genauer unterrichteten Fächer ein. So mag der Verfasser mit seiner Gesamtschau womöglich manchmal etwas überzogen und beim Gleichsetzen der beiderseits Krisen und Probleme allzu eindeutige Parallelen ausgemacht haben. Das zu beurteilen steht dem Rechtshistoriker nicht zu. Dass es in Bagdad und Byzanz gleichzeitig um den Versuch staatlicherer Rechtssäkularisierung durch Absolutismus, Zentralismus und Kodifikation ging und dass beide Versuche am Widerstand ihrer religiösen Orthodoxie scheiterten, wohl haben scheitern müssen, erscheint aber plausibel. Beide orientalischen Rechtskulturen waren religiös fundierte Rechtsordnungen und fanden hieran ihre Grenzen, wenn sie – etwa in Nachahmung des weströmischen Vorbilds? –Versuche staatsmachtstärkender Säkularisierung des Rechts unternahmen.

 

In ihren Rechtsbegriffen unterschieden sich Orient und Okzident seit je zutiefst voneinander. Dem Osten war das Recht göttliche Weisung, hatte theokratischen Charakter. Gott selbst war die einzige Rechtsquelle und die Herrscher, deren „Herzen in Gottes Hand“ (Prov. 21, 1) lagen, handelten als seine Beauftragten. Es gab nur das eine  theokratische Recht. Deshalb wurden Rechtsfragen in Israel wie im Islam nicht von Juristen westlichen Stils entschieden, sondern von Gottesrechtsgelehrten, die das Recht als göttliche Offenbarung auslegten, weder Theologen noch Juristen westlicher Art waren. Diese vom Alten Testament geprägte Doktrin war die Grundlage auch des byzantinischen Cäsaropapismus, wobei eine genauere Abgrenzung der Rechtsbegriffe beider Theokratien voneinander noch der Klärung bedarf. Einen anderen, nämlich dualistischen Rechtsbegriff hatte dagegen der römisch-lateinische Westen. Dort hatte die Staatskirche nicht am Rechtsbegriff des Alten Testaments festgehalten, sondern entschlossen ein Wort Jesu auf das Recht angewandt (Matth. 22, 21): „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Dort gab es zwei legitime Gesetzgeber und zweierlei Arten von Recht: ius divinum und ius humanum. Damit hatte der Westen dem theokratischen Rechtsbegriff des Orients den Abschied erteilt und säkularer Rechtsetzung neben jener Gottes Legitimität zuerkannt. Deshalb waren und sind dort die „Juristen“ keine Gottesrechtsgelehrten, sondern Ausleger des weltlich gesetzten Rechts, steht der Theologe neben dem Juristen, liegt die Bibel neben dem Gesetzbuch und haben beide ihren je eigenen Auftrag. Von einem „Juristenrecht“ der theokratischen Rechtspflege des Islam zu reden und dessen Gottesrechtsgelehrte mit den abendländischen Juristen in eins zu setzen, führt in die Irre.

 

Die Verlegenheit, die sich der Verfasser mit seinem umfassenden Begriff des Juristen bereitet, zeigt sich an seiner Formel „imperiales Recht“. Er hätte es sich leicht machen können, wenn er das von ihm Gemeinte „staatlich gesetztes Recht“, besser schlicht „Gesetz“ genannt hätte. Ein solches Gesetz im westlichen Sinne aber kennt theokratisches Recht nicht, in dem Gott die einzige Quelle allen Rechts ist. Deshalb muss es wegen Fehlens einer Entsprechung zum westlichen Gesetzesbegriff neu aufkommende Rechtsfragen statt durch Gesetzgebung durch Auslegung des Gottesrechts beantworten und ist in steter Rückversicherung bei der göttlichen Offenbarung konservativ und schwer fortzubilden. Da der Verfasser es hier an Klarheit fehlen lässt, fällt ihm die Deutung seiner Formel „imperiales Recht“ schwer, definiert er nicht, sondern beschreibt es als ein (S.261): „comprehensive legal system that, 1) forms part of an imperial ideology 2) is represented in a codified form 3) is codified on behalf of the state (and not independent scholarly 4) claims to be more or less binding for all those (Muslims) who are living within the territorial boundaries of the state and 5) is applied by a judiciary system established and controlled by the state.” Ein solches Recht aber kennt eine theokratische Rechtsordnung prinzipiell nicht Mit seinem Begriffspaar „imperiales Recht – Juristenrecht“ dürfte der Verfasser mithin noch nicht an das Ende seiner Erwägungen gekommen sein. Dieser fundamentale Unterschied zwischen dem westlichem und dem östlichem Rechtsbegriff  aber war es wohl, woran Harin al-Rashid mit seinem Versuch einer Rechtssäkularisierung scheiterte, hat scheitern müssen. Der Import eines offen säkularisierten Rechts in das Kalifat zu Bagdad wäre ohne offene Preisgabe des theokratischen Rechtsbegriff nicht möglich gewesen.

 

Das aber schloss gegenseitige kulturelle Begegnung nicht aus. Der Verfasser schließt mit dem Satz: „There is some indication that Islamic law, as developed in the 10th century, influenced the legal and, in the broader sense, scientific development in Europe. The central elements ,Roman law’, ,school/university’ and ,methodology’, characteristic of the legal revolution in eleventh/twelvth-Europe, clearly point to Islam. Further research will have to prove the validity of this hypothesis.” Unter dem hier gemachten Vorbehalt muss man ihm zustimmen. Sein Werk stellt dem Rechtshistoriker neue Aufgaben. Hat man einmal die den Blick verengende Brille traditioneller fachwissenschaftlicher Abgrenzung abgelegt und den regen interkulturellen Verkehr zwischen Byzanz und Bagdad, sogar Aachen, erkannt, so stellt sich neu die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der west-östlichen Begegnungen und Rezeptionen. Dem Romanisten sollte ihr herablassendes Urteil über das byzantinisierte römische Recht fragwürdiger werden. War dieses auch dürftig, so doch wirksam und –gerade deswegen? – kulturell exportfähig. Für die Germanisten gilt dies insbesondere für die Erforschung der Begegnung des türkischen Rechts mit dem des Abendlands, auf dem Mittelmeer wie auf dem Balkan. Deshalb seien die Islamisten dringend gebeten, unserem Fach durch reiche Produktion guter Übersetzungen der maßgeblichen islamischen Rechtsquellen und Entscheidungssammlungen auf die Sprünge zu helfen.

 

Speyer                                                                                                           Hans Hattenhauer