Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918 - Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten, bearb. v. Reibel, Carl-Wilhelm, 2 Halbbände (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 15). Droste, Düsseldorf 2007. 60*, 1-956, 8*, 957-1715 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Entgegen weit verbreiteten, anders lautenden Ansichten fand im Zweiten Deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 ein Prozess der „Fundamentalpolitisierung“ statt; immer weitere Kreise der (männlichen) Bevölkerung beteiligten sich zumindest an Wahlen, wenn nicht gar am politischen Geschehen abseits von und zwischen den Wahlen. Damit ist die seit langem kontrovers diskutierte Frage, ob das Kaiserreich ungeachtet seiner autoritär-monarchischen Fassade so etwas wie Demokratisierung und Parlamentarisierung erlebte, bereits bejahend beantwortet. Die Wahl- und Parteienforschung kann weitere differenzierte Antworten auf die entscheidende Frage nach dem Charakter des politischen Systems der Hohenzollern-Monarchie beisteuern. Insbesondere erlaubt diese Forschung Feststellungen darüber, ob es zwar nicht de jure, wohl aber de facto zu einer „stillen Parlamentarisierung“ gekommen sei, selbst wenn die Reichsregierung bis 1918 formal nur dem Monarchen, nicht dem Reichstag gegenüber verantwortlich blieb.

 

Über die Regierungsferne der deutschen Parteien vor 1918, ihre angebliche Kompromissunfähigkeit und Ideologiefixiertheit, ist viel geschrieben worden. Selten jedoch wurde konkret untersucht, wie es um solche Kompromisse dort stand, wo sie schlechterdings unverzichtbar waren: Bei den Reichstagswahlen. Die Reichsverfassung schuf ein personenzentriertes, kein Listenwahlrecht. Kandidaten mussten in sog. Einerwahlkreisen die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen, notfalls in einer Stichwahl. Außerhalb der wenigen Hochburgen einzelner Parteien waren Stichwahlen ebenso die Regel wie Parteienbündnisse oder -absprachen in deren Vorfeld.

 

Obwohl die Forschung seit langem erkannt hat, wie gewinnbringend einschlägige Untersuchungen auf Reichs-, aber auch auf Länder- oder Regionalebene sein können, so scheiterte deren praktische Umsetzung doch an vielfältigen, nicht zuletzt quellenbedingten Schwierigkeiten. Dabei fällt ins Gewicht, dass es auch nach der Reichsgründung in den Bundesstaaten ein jeweils unterschiedliches Wahlrecht gab, das seiner inhärenten Logik nach zu verschiedenartigen Parteienkonstellationen führte. Diese Hindernisse können mit dem nunmehr fertig gestellten Handbuch als weitgehend ausgeräumt gelten. Es bietet eine fast lückenlose Dokumentation der Wahlergebnisse und Bündnisabsprachen in sämtlichen 397 Wahlkreisen des Deutschen Reiches zwischen 1890 und 1918. Als Beginn setzt der Bearbeiter, vor allem wohl aus arbeitsökonomischen Gründen, das von ihm wegen der Entlassung Bismarcks so bezeichnete „Epochenjahr“ 1890 an (S. 15). Da die letzten allgemeinen Reichstagswahlen 1912 stattfanden, endet der Band im Wesentlichen in diesem Jahr, sieht man von späteren Nach- und Ersatzwahlen ab. Insgesamt fanden zwischen 1890 und 1912 sechs reguläre Reichstagswahlen statt.

 

Die beiden Halbbände folgen in Aufbau und Datenauswahl dem von Thomas Kühne 1994 in seinem „Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867-1918“ entwickelten Schema. Allzu bescheiden merkt Reibel an, sein Handbuch solle vor allem die grundlegenden Daten jeder Wahlforschung (Ergebnisse und Wahlbeteiligung) zur Verfügung stellen (S. 16). In Wahrheit bietet das Werk über diese nicht allzu schwer zugänglichen Basisdaten hinaus eine Fülle von Informationen, die sich in dieser Dichte nirgendwo gebündelt finden und die selbst für einzelne Wahlkreise nur mit einigem Aufwand zu recherchieren sind: Angaben zur Zahl der Wahlberechtigten, der sozialen oder Berufsstruktur des Wahlbezirks, zu den Kandidaten (auch zu den ausgeschiedenen bzw. unterlegenen), zu Wahlabsprachen jeglicher Art und selbstredend zu den Wahltagen usw. (S. 41ff.). Für jeden der 397 Wahlkreise werden die verfügbaren Quellen einzeln ausgewiesen, manche dieser Verzeichnisse umfassen allein schon ein bis zwei Druckseiten.

 

Die Daten wurden aus rund 30 Archiven in Deutschland, Frankreich und Polen zusammengetragen, so dass auch die „Reichslande Elsaß-Lothringen“ sowie die ehemaligen deutschen Ostgebiete – ein traditionelles Stiefkind der modernen Geschichtsforschung – angemessen berücksichtigt sind. Im Falle von Aktenverlusten (auch diese listet der Bearbeiter penibel auf) wurden Lücken soweit als möglich mit Hilfe der zeitgenössischen Tagespresse geschlossen. Einige der noch vorhandenen Fehlstellen, etwa bei der Ermittlung der Vornamen von Kandidaten, hätten sich wohl noch schließen lassen, doch tut dies der Reichhaltigkeit der bereit gestellten Informationen keinen wesentlichen Abbruch. Abschließend erfasst ein 150-seitiges Personenregister alle Reichstagskandidaten namentlich.

 

Verbesserungsfähig präsentiert sich lediglich die etwas sprunghafte und unlogisch aufgebaute Einleitung. Erst gegen Ende (S. 35ff.) macht Reibel den Leser mit den Grundzügen und Grundlagen des Wahlsystems bzw. des Wahlrechts vertraut – dieser Abschnitt hätte besser an den Beginn gepasst. Erst dann versteht der Leser nämlich, womit sich der Bearbeiter in erster Linie beschäftigt: Die sogenannten Wahlbündnisse, die er in acht Typen einteilt, wo Kühne noch mit vier ausgekommen war. Häufigster Typ war das „Plattformbündnis“, bei dem Partei A den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl, nachdem diese bestimmte Forderungen bezüglich dessen Person und/oder parlamentarischen Verhaltens akzeptiert hatte. Zweithäufigster Typ war das sogenannte „wahlkreisübergreifende Aussparungsabkommen“, bei dem Partei A in Wahlkreis 1 den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl und kompensatorisch Partei B in Wahlkreis 2 den Kandidaten von Partei A. Seit etwa 1890 erhöhte sich die Zahl der Kandidaten pro Wahlkreis, was logischerweise zu immer mehr Stichwahlen und damit zu mehr und mehr Absprachen führte; 1912 waren solche Vereinbarungen bereits in drei Viertel aller Wahlkreise zu beobachten (S. 23).

 

Auf jeweils zwei bis fünf Seiten werden die Haltungen der Parteien bei Haupt- und Stichwahlen prägnant beschrieben. Daraus ergibt sich die Darstellung von über 2500 Wahlvorgängen zwischen 1890 und 1918. Abgesehen von der manchmal etwas zu sophistischen Unterteilung der feststellbaren Bündniskonstellationen (so wird anhand der Definitionen nicht klar, worin sich Typ 5 und 6 unterscheiden, S. 26ff.), muss man sich mitunter fragen, ob nicht auch die Analysen Reibels da und dort über das Ziel hinausschießen. Er sieht die von ihm durchgehend mit dem auf Dauerhaftigkeit zielenden Begriff „Bündnisse“ bezeichneten, meist kurzfristigen Absprachen als Fundament der Einübung der Parteien in demokratische Kompromissfindung. Dabei wird nicht immer deutlich, dass dahinter selten ehrliche Absichten standen, sondern vielmehr der Zwang, aus der Not des Wahlrechts eine Tugend zu machen. Eine parlamentarische Koalition basiert nicht auf lokal unterschiedlichen Wahlempfehlungen gegen gemeinsame Gegner, sondern auf geteilten politischen Inhalten.

 

Freilich können und sollen Einleitungen zu derartigen Handbüchern nicht schon jene Interpretationen liefern, deren Erarbeitung sie erst ermöglichen wollen. So ist es auch im vorliegenden Fall, wenngleich der Bearbeiter einige vorläufige Befunde seines laufenden Habilitationsvorhabens einfließen hat lassen. Das von ihm auf mehr als 1.700 Seiten zusammen getragene Datengebirge wird zweifellos künftige Forschungen ermöglichen und beflügeln. Reichsweite Untersuchungen bieten sich hier ebenso an wie lokal- und regionalgeschichtliche Studien. Mit derart subtilen Daten zu nahezu 400 Wahlkreisen wird es auch möglich sein, das Verhältnis zwischen Metropole und Peripherie, zwischen Parteizentralen und lokalen Zweigorganisationen oder Wählerverbänden präziser als bisher zu bestimmen. Kurzum: Ein monumentales Werk, für das jeder mit der Geschichte des Zweiten Kaiserreiches befasste Forscher dem Bearbeiter dankbar sein wird..

 

Graz                                                                                                                          Martin Moll