Röder, Tilman, Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“. Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (= Recht in der industriellen Revolution 4 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 206). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. XII, 393 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Untersuchungen Röders sind hervorgegangen aus der am Max-Planck-Institut für Europäische Privatrechtsgeschichte angesiedelten Wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe „Recht in der Industriellen Revolution” und gehen davon aus, dass die „Allgemeinen Geschäftsbedingungen” (AGB) sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Gesamtphänomen entwickelten, das große Teile der Volkswirtschaft und auch des internationalen Wirtschaftsverkehrs beherrscht hätten. Als analytische Kategorie dient Röder hierbei der Begriff der „Standardisierung”, ein vorwiegend technisch konnotierter Begriff. Denn die Standardisierung von Vertragstexten weise „funktional wesentliche Parallelen zu der technischen Standardisierung” auf; beide Phänomene seien „historisch gleichzeitig” erschienen und hätten sich auch synchron weiterentwickelt, so dass sie strukturell einander so ähnlich seien, „dass sie als einheitliche Erscheinung aufgefasst werden können” (S. 2). Teil A des Werkes befasst sich mit der Verwendung von allgemeinen Geschäftsbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen dienten der innerbetrieblichen Rationalisierung, der Erleichterung des (auch grenzüberschreitenden) Wirtschaftsverkehrs und bestimmten Vorteilen der eigenen Ausgestaltung von Vertragsgrundlagen, die leichter veränderbar waren als das staatliche Recht. Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts nahmen zunehmend Verbände und Kartelle die Standardisierungstätigkeit wahr, die im Versicherungswesen in Form von Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) eine besondere Rolle spielten, (die AVB für die Feuerversicherungen von 1875, 1886/1887, 1909 und 1930 sind zuletzt wiedergegeben von T. Prang, Der Schutz der Versicherungsnehmer bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen durch das Reichsgericht, Frankfurt am Main 2003, S. 193ff.). In begrenztem Rahmen kam es zu einer Überprüfung der Wirksamkeit von AGB-Klauseln und zu deren restriktiver Auslegung durch die Gerichte (S. 36f.). Eine erhebliche Einschränkung brachte das Abzahlungsgesetz von 1894 für allgemeine Geschäftsbedingungen im Bereich der Abzahlungsgeschäfte. Die Internationalisierung im wirtschaftlichen „Weltverkehr” (S. 37ff.) führte zur vielfachen Verwendung von Vertragsbedingungen in der internationalen Vertragspraxis (Übersicht S. 44ff.).

 

In den Teilen B und C geht Röder der Frage nach, wie 1906/07 eine bestimmte Standardklausel, und zwar die sog. Erdbeben-Klausel „im spontan aktivierten Netzwerk“ der Versicherungsbranche entstand und wie in der Folgezeit deren Implementierung in die nationalen Rechtsordnungen betrieben wurde. Als Folge des Erdbebens vom 18. 4. 1906 war es in San Francisco zu enormen Brandschäden gekommen, deren Ausmaß Röder im Einzelnen darstellt (S. 54ff.). Die meisten der betroffenen Versicherungsgesellschaften verwendeten die New Yorker Fallen Building Clause, wonach ein Gebäude, das einstürzte und dabei vollständig oder erheblich zerstört worden war, den Versicherungsschutz verlor (vgl. S. 66ff.). Eine erheblich geringere Zahl von Versicherungsgesellschaften verwendete eine Erdbebenklausel (S. 69) – so auch mehrere deutsche Versicherungsunternehmen (S. 69 Fn. 91) –, die eine Haftung für Brandschäden, die im Zusammenhang mit Erdbeben entstehen konnten, ausschloss. Die Beteiligung deutscher Feuerversicherungen am Versicherungsgeschäft an der Pazifikküste beruhte darauf, dass hier der Versicherungsmarkt damals als außerordentlich lukrativ galt. Mittelbar waren auch die weltweit stärksten deutschen Rückversicherungsgesellschaften in die Schadensabwicklung involviert. Insgesamt musste die deutsche Versicherungswirtschaft den drittgrößten Anteil am Schadensersatz tragen (S. 195f.). Die Gerichte erkannten in den Prozessen um Brandschäden zwar die Erdbebenklauseln an, legten diese jedoch zugunsten der Versicherungsnehmer aus oder sahen den Beweis für eine Kausalität zwischen dem Erdbeben und den geltend gemachten Brandschäden als nicht geführt an. Dem wollten sich insbesondere die deutschen und österreichischen Gesellschaften nicht beugen, so dass es zu Versuchen kam, die Vollstreckung von in Kalifornien erworbenen Titeln in Deutschland durchzusetzen, was vom Reichsgericht in einem Urteil vom 16./26. 3. 1909 abgelehnt wurde (S. 106; die genaue Fundstelle findet sich in RGZ 70, 434).

 

Noch bevor es am 16. 8. 1906 zur Erdbebenkatastrophe in Valparaiso (Chile) kam, an deren Schadensabwicklung allerdings deutsche Versicherungsunternehmen kaum beteiligt waren, waren die Generaldirektoren von vier Rückversicherungsgesellschaften aus Zürich, Köln, Stuttgart und München (Münchner Rück als bedeutendste Rückversicherung der Welt) in München am 30. 6. 1906 zusammengekommen, um über eine Erdbeben-Standardklausel zu sprechen. Am 30. 8. 1906 setzten sie die sog. Erdbeben-Kommission ein, die zunächst eine internationale Enquete unter den Feuerversicherungen über die bestehenden Erdbeben Regelungen durchführte, über die sie eine kommentierte Übersicht anfertigte. Anschließend entwickelte sie eine „perfekte Erdbebenklausel“, die nicht ausformuliert war, jedoch umfassen musste die Nichthaftung für direkt oder indirekt durch das Erdbeben verursachte Brandschäden, die genaue Bezeichnung der Schäden als Feuerschäden und die Übertragung der Beweislast auf die Geschädigten. Hierbei ging es den Versicherern u. a. um die „Schaffung stabiler, kontrollierbarer und vor allem kalkulierbarer Verhältnisse“ (S. 169). Im Juli 1907 versandten die Rückversicherer die Arbeit über die Erdbebenklauseln weltweit an etwa 600 Feuerversicherungsgesellschaften (S. 167), mit der Aufforderung, die Versicherungspolicen nach dem aufgezeigten Standard auszugestalten. In drei weiteren Kapiteln untersucht Röder die Entwicklung in den 14, aus der Sicht der Rückversicherer wichtigen kontinentalen und nordamerikanischen Geschäftsgebieten. Zu keiner Einigung über die Erdbebenklausel kam es in der Schweiz, den skandinavischen Staaten, in Russland sowie in Italien, wo es allerdings nach dem Erdbeben von Messina (1908) aufgrund der Rechtsprechung zu einer der Erdbebenklausel entsprechenden Rechtslage kam. In Spanien, Portugal, Frankreich und Belgien stieß die neue Klausel auf keinen Widerstand. Während sich anhand der österreichischen Quellen nicht feststellen ließ, wie weit die dortigen allgemeinen Versicherungsbedingungen den Änderungen der Rückversicherer tatsächlich entsprachen (vgl. S. 183), gelang es der deutschen Versicherungswirtschaft, die Erdbebenklausel partiell in § 84 VVG zu verankern: „Der Versicherer haftet nicht, wenn der Brand oder die Explosion durch ein Erdbeben oder durch Maßregeln verursacht wird, die in Kriege oder nach Erklärung des Kriegszustandes von einem militärischen Befehlshaber angeordnet worden sind“ (eine ausführlichere Regelung findet sich dann in den vom Versicherungsaufsichtsamt genehmigten allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Feuerversicherung von 1909, § 1 Ziff. 5; zur RG-Judikatur hinsichtlich von Kriegsfolgen vgl. W. Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Gesetzgebung des deutschen Reichs, Kaiserzeit I, 2005, S. 443f.). Das Resümee: „Paradigmatische Veränderungen des Rechts“ (S. 317-335) geht ein auf neue Regelungsbedürfnisse und neue internationale Strukturen der Rechtsbildung (u. a. auf die Standardisierung von Vertragsgrundlagen als neuartige organisatorische Strategie) sowie auf Tendenzen zur Ablösung des Rechts vom Staat. Mit Recht stellt Röder fest, dass über den massenhaften Abschluss inhaltlich gleicher oder ähnlicher Verträge hinaus die Entwicklung nicht gelangt sei, so dass sich auch keine lex mercatoria und auch kein eigenständiges transnationales Handelsrecht gebildet habe. Das Werk wird abgeschlossen mit einem Verzeichnis der an der Schadensabwicklung in San Francisco beteiligten Versicherungen, einem biographischen Personenverzeichnis und einem Sachregister.

 

Mit seinem Werk, das mitunter stärker auf die juristischen Details hätte eingehen können (wie z. B. beim Vorschlag der vier Rückversicherer vom Sommer 1907), hat Röder am Beispiel der partiellen Standardisierung der Erdbebenklausel bei Feuerversicherungen die internationale Vereinheitlichung von Vertragsbedingungen erschlossen. Für die Wahl dieser Thematik war u. a. maßgebend, dass das erhaltene historische Material (in Staats- und Firmenarchiven) es ermöglichte, „mit außergewöhnlich hoher Präzision Rechtsveränderungen zu konstruieren, die fast ausschließlich auf selbstorganisatorischen Aktivitäten innerhalb einer Wirtschaftsbranche beruhen“ (S. 3). Allerdings ist mit dem gewählten Beispiel die Thematik der „Rechtsbildung im wirtschaftlichen ‚Weltverkehr’“ im Hinblick auf die zahlreichen anderen internationalen Vertragsbedingungen (S. 44ff.) nur zum Teil abgedeckt, so dass auch das Resümee noch kein vollständiges Bild zu vermitteln vermag. Insgesamt ist mit der Darstellung Röders aber ein Anfang für die Geschichte der internationalen Standardisierung von Vertragsgrundlagen gemacht. Weitere Detailstudien wären von großem Interesse.

 

Kiel

Werner Schubert