Entnazifizierung im regionalen Vergleich, hg. v. Schuster, Walter/Weber, Wolfgang (= Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2002). Archiv der Stadt Linz, Linz 2004. 726 S.

 

Obwohl die Geschichte der Entnazifizierung in Österreich nach dem grundlegenden Werk von Dieter Stiefel: „Entnazifizierung in Österreich“ (1981) und dem Sammelband: „Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945-1955“ (hg. u. a. v. S. Meissl, 1986) zu den etablierten Forschungsgebieten gehört, fehlt es immer noch an einer fundierten Überblicksarbeit über die Entnazifizierung in Österreich, welche die zahlreichen Einzelforschungen zusammenfasst. Der von Schuster und Weber herausgegebene Band enthält die Vorträge, die 2002 auf dem Linzer Kolloquium „Entnazifizierung im Vergleich“ gehalten worden sind, und sollte – so die Hoffnung Stiefels (S. 54) – die Grundlage für eine neue Gesamtdarstellung sein. Die gesetzliche Grundlage der Entnazifizierung bildete (zunächst nur für die sowjetische Besatzungszone) das Verbotsgesetz vom 27. 4. 1945, das die Registrierung der Nationalsozialisten (vom hohen Funktionär bis zum Parteianwärter) vorsah und die abgestuft auferlegten Sühnefolgen und die Nachsicht von den Sühnefolgen als Gnadenakt regelte. Der Registrierungspflicht unterlagen alle Personen mit ordentlichem Wohnsitz oder dauerndem Aufenthalt in Österreich, die zwischen dem 1. 7. 1933 und dem 8. 5. 1945 Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Wehrverbände waren (vgl. Schöggl-Ernst, S. 217f.). Registrierpflichtig waren mithin auch die sog. Illegalen, die in der Zeit des Ständestaates der NSDAP angehörten und für diese tätig waren (vgl. §§ 10, 11 des Verbotsgesetzes, wiedergegeben S. 598). Nach dem Kriegsverbrechergesetz vom 26. 6. 1945 sollten die schweren Rechtsbrüche geahndet werden, die bei der Vorbereitung und während des Krieges begangen worden waren, weiterhin „Untaten aus Gehässigkeit oder in Ausübung dienstlicher Gewalt sowie Bereicherung, Denunziation und Hochverrat“ (S. 218). Nachdem am 5. 2. 1946 das Verbotsgesetz in ganz Österreich in Kraft getreten war, übertrugen die Alliierten offiziell der österreichischen Regierung die Durchführung der Entnazifizierung, allerdings mit einigen Vorbehaltsrechten. Da das Verbotsgesetz weitgehend scheiterte – die meisten Nationalsozialisten beschritten den Weg des Gnadengesuchs (in Wien etwa 85 %) -, erging am 17. 2. 1947 das sog. Nationalsozialistengesetz, nach welchem die Registrierungen absolut meldepflichtig waren. Das Gesetz unterschied zwischen belasteten und minderbelasteten Nationalsozialisten und stufte die Sühnefolgen entsprechend ab (Beschränkung der bürgerlichen Rechte; Ausschluss von bestimmten Berufen; Sühneabgaben in unterschiedlicher Höhe; Kürzungen der Bezüge; Einweisung in Anhaltelager). Am 21. 4. 1948 verabschiedete der Nationalrat das „Bundesverfassungsgesetz über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen“ und am 22. 4. 1948 ein Amnestiegesetz für Jugendliche. Ein weiteres Amnestiegesetz von 1957 hob die Registrierungspflicht auf und stellte die Nationalsozialisten mit den anderen Bürgern gleich. Stiefel (S. 44f.) unterscheidet für die Entnazifizierung fünf Phasen: Von April bis Juni 1945 die militärische Sicherheitsphase, von Juni 1945 bis Februar 1946 die Phase der autonomen Entnazifizierung durch die Alliierten, von Februar 1946 bis Februar 1947 die Phase der österreichischen Entnazifizierung, von Februar 1947 bis Mai 1948 die Phase der österreichischen Entnazifizierung auf der Grundlage des Gesetzes von 1947 und von 1948 bis 1957 die Zeit der Amnestien. Bei der staatlich angeordneten und bürokratisch durchgeführten Entnazifizierung handelte es sich um die bisher „umfassendste juristische Aktion der gesamten Weltgeschichte“ (Hoser, S. 504 nach E. Plischke), die zur Entfernung der Elite der nationalsozialistischen Partei, nicht aber der Elite aus Beamtenschaft und Wirtschaft für immer aus den Schlüsselstellungen führte.

 

Im Mittelpunkt des Bandes stehen die Referate über die Entnazifizierung in den Bundesländern: von W. Weber für Vorarlberg, von W. Beimrohr für Tirol, von O. Dohle für Salzburg, von W. Schuster für Oberösterreich, von E. Schöggl-Ernst für die Steiermark, von W. Wadl für Kärnten, von K.-D. Mulley für Niederösterreich, von G. Baumgartner für das Burgenland und von B. Rigele und B. Vogel für Wien. Die Beiträge sind durchweg ähnlich aufgebaut; sie behandeln die einzelnen Phasen der Entnazifizierung (für die Steiermark unter besonderer Berücksichtigung der Justiz) und geben sämtlich einen Überblick über den archivalischen Quellenbestand, deren rechtliche Aspekte bei ihrer Benutzung M. F. Polaschek aufzeigt (S. 651ff.). Die Zusammenfassungen bzw. Resümees dieser Beiträge sind leider nicht immer hinreichend aussagekräftig. Insgesamt informativer sind die Beiträge in dieser Beziehung über die Entnazifizierungspolitik der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der sowjetischen Besatzungsmacht (K. Tweraser, S. Beer, J. Klöckler und B. Stelzl-Marx). Für die britische Zone stellt Beer fest, dass die Entnazifizierungsmaßnahmen von 1945 bis 1948 „mit ihrer temporären gesellschaftlichen Deklassierung und sogar Demütigung eines großen Teils der NSDAP-Mitglieder nicht ganz ohne klärende und disziplinierende Wirkung“ geblieben seien (S. 425), eine Feststellung, die auch für die anderen Zonen zutreffend sein dürfte. In der amerikanischen Zone hatte seit 1948 die Gruppe der sog. „Wiederaufbauer“ gegenüber den „Entnazifizierern“ die Vorhand (S. 393ff.). In der französischen Zone – für Frankreich war Österreich ein „Pays Ami“ – verlief die Entnazifizierung vergleichsweise pragmatisch und großzügig. Am wenigsten detailliert ist der Beitrag über die sowjetische Entnazifizierungspolitik, der sich vornehmlich mit der sowjetischen Sicht der Entnazifizierung in den anderen Besatzungszonen und mit einigen sowjetischen Strafverfahren befasst. Der Beitrag P. Hosers befasst sich mit der Entnazifizierung in Bayern, derjenige J. Klöcklers mit der Entnazifizierung im französisch besetzten Süddeutschland (Baden und Württemberg-Hohenzollern). Nach Klöckler scheiterte die Entnazifizierung in Baden und Hohenzollern „aufgrund einer verhängnisvollen Verquickung von individuellen und strukturellen Defiziten“ und endete in einem Fiasko (S. 523). Für den Rechtshistoriker besonders aufschlussreich sind die Beiträge Kuretsidis-Haiders über die „Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich“ und von Konstantin Putz über: „Die Tätigkeit des Linzer Volksgerichts sowie das Projekt ,EDV-gestützte Erschließung der Volksgerichtsakten im Oberösterreichischen Landesarchiv’“, die beide auch konkrete Verfahren schildern (die von den Volksgerichten Wien, Linz und Graz ausgesprochenen Todesurteile bei Kuretsidis-Haider S. 569ff.). Die Autoren stimmen darin überein, dass die Akten der Verfahren wegen NS-Verbrechen eine unverzichtbare historische Quelle für die zeithistorische Forschung darstellen, besonders hinsichtlich der Verfahren der ersten Nachkriegsjahre, die sich in einem hohen Ausmaß auf die Verbrechen bei Kriegsende an der deutschen und österreichischen Bevölkerung bezogen. Das Referat M. Wisingers geht unter der Überschrift „Verfahren eingestellt“ auf den Umgang der österreichischen Justiz mit NS-Gewalttätern in den 1960er und 1970er Jahren ein. Zu erwähnen sind noch die Eingangsbeiträge Stiefels: „Forschungen zur Entnazifizierung in Österreich: Leistungen, Defizite, Perspektiven“ und von W. Schuster/W. Weber: Entnazifizierung im regionalen Vergleich: der Versuch einer Bilanz (S. 15 ff.). Letzterer Beitrag kann allerdings ein zusammenfassendes Referat, das leider fehlt, nicht ganz ersetzen. Eine Tabelle hält die Unterschiede zwischen der Entnazifizierung in Österreich und in Westdeutschland fest (S. 23). Als Ergebnis für beide Staaten wird aufgeführt: Missverhältnis zwischen bürokratischem Aufwand und Ergebnis; oftmals an Stelle einer Entnazifizierung Rehabilitierung; mangelndes Unrechtsbewusstsein der „Ehemaligen“; gleichwohl weitgehende Identifikation mit dem neuen Staat. Die weiteren Forschungen sollten nach Stiefel berücksichtigen, dass die Entnazifizierung nicht allein für sich betrachtet werden sollte, da sie „in gewissem Sinne ein Spiegelbild der vorangegangenen Nazifizierung sei“, und dass bereits der Ständestaat ein „Pionier der politischen Verfolgung in Österreich“ gewesen sei (S. 55).

 

Im Hinblick auf die noch in den 80er Jahren geltenden Archivsperren ist es überaus nützlich, dass der Band einen adäquaten Überblick über Umfang, Art und Wert der vorhandenen Quellen in den National- bzw. Landesarchiven Österreichs, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der USA und Russlands (vgl. zur Situation in Österreich auch noch die Referate von R. Jeřábek und W. R. Garscha, S. 529ff., 551ff.) gibt. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die Herausgeber die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen der Entnazifizierung in Österreich über die Strafrechtsnormen hinaus mit abgedruckt hätten. Insgesamt liefert der Band mit den Schilderungen des Prozesses der Entnazifizierung unter regionalen Gesichtspunkten einen wichtigen Baustein zu der noch ausstehenden Gesamtdarstellung der Entnazifizierung in Österreich. Allerdings verdeutlichen die Referate gleichzeitig, dass für eine solche Darstellung – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – noch weitere Detailforschungen erforderlich sind.

 

Kiel

Werner Schubert