Westfälische Jurisprudenz. Beiträge zur deutschen und europäischen Rechtskultur. Festschrift aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Juristischen Studiengesellschaft Münster, hg. v. Großfeld, Bernhard/Pottmeyer, Ernst/Michel, Klaus/Beckmann, Martin. Waxmann, Münster 2000. 554 S.

 

Die „Juristische Studiengesellschaft in Münster“ wurde 1949 als Verein gegründet (genauer: „wiedergegründet“) mit dem in § 2 Abs. 2 der Statuten genannten Zweck, „ihre Mitglieder und die Rechtspraxis in wissenschaftlichen Vorträgen und Erörterungen mit der Fortent­wicklung auf allen Gebieten der Wissenschaften vertraut zu machen, die für das Rechtsleben von Bedeutung sein können“. Es wird in ihr von bedeutenden Persönlichkeiten über vielfältige Themen diskutiert und Gewicht darauf gelegt, dass auch Jungakademiker zu Wort kommen.

 

An der 28 Beiträge umfassenden Festschrift haben außer Professoren der Juristischen Fakultät von Münster und hier wirkenden Richtern auch Professoren anderer Fakultäten sowie hohe Beamte - auch solche im Ruhestand - mitgewirkt, ferner tüchtige Nachwuchskräfte. Die behandelten Themen betreffen teils bedeutende Persönlichkeiten, teils bestimmte Institutionen. Bei fast allen aber besteht eine starke Beziehung zu Westfalen, entweder als Landschaft der Herkunft oder des Wirkens einer Persönlichkeit oder durch die besonders starke Bedeutung bestimmter Regelungen im westfälischen Gebiet.

 

Die Festschrift ist gegliedert in drei Teile: „Historische Dimensionen“ (4 Beiträge), „Persönlichkeiten“ (16 Beiträge) und „Übergreifende Aspekte“ (8 Beiträge). In meiner Besprechung ziehe ich eine chronologische Reihenfolge vor.

 

Der somit als erster zu skizzierende Beitrag betrifft „Johannes Althusius“ (S. 95-110) und stammt vom Vorsitzenden der Althusius-Gesellschaft, Dieter Wyduckel, der sich dauernd und erfolgreich mit jenem bedeutenden Gelehrten und Praktiker befasst hat. Aufgrund neuer Erkenntnisse stellte er verschiedene Ungenauigkeiten des früheren Wissensstandes richtig. Althusius, der entgegen der bisherigen Annahme kaum 1557, sondern erst 1563 geboren wurde und wohl aus einer bäuerlichen Familie stammte, wurde schon als 25jähriger in Herborn Professor. 1603 wurde er Syndikus in der ostfriesischen Stadt Emden, wo er nach niederländischem Vorbild eine reiche praktische Tätigkeit im Kampf um Wahrung der Autonomie Emdens gegenüber dem lutherischen Grafenhaus führte. Er stützte sich vor allem auf den unmittelbaren Bibeltext. In seinem wissen­schaftlichen Hauptwerk „Politica, methodice digesta“ verband er rein juristische mit politischen Grundsätzen. Er setzte sich ein für eine mehr aristokratische als demokratische Gestaltung des Staates unter Betonung der ständischen Interessen sowohl der Bauern als auch der Städte, nicht nur gegenüber dem Grafenhaus, sondern auch gegenüber dem Landadel. Die Gesamtheit des in Ständen gegliederten Volkes sei souverän, während sein Zeitgenosse Bodinus von einer streng monarchischen Verfassung ausging. Die Lehren des Althusius lebten wieder auf durch Otto von Gierke, der aber deren rein juristischen Aspekte überbetont habe.

 

Fast gleichzeitig mit Althusius lebte Friedrich von Spee (1591-1635), Jesuit, Professor der Logik und Metaphysik in Paderborn, wo sein berühmtes Buch „Cautio criminalis“ 1631 am selben Ort erschien, an dem 785 eine Synode mit Billigung Karls des Großen den Hexenwahn verdammt hatte. Großfeld skizziert (S. 123-128) die Entwicklung, die zum Wiederaufleben des Hexenwahns geführt hat. Um 1250 sei die Folter als ein Produkt des Rationalismus aufgekommen. Die Erfindung der Druckkunst mit beweglichen Lettern habe im 15. Jahrhundert zu einer Verschriftlichung der Gesellschaft geführt. Sprengers berüchtigter „Hexenhammer“, der in unzähligen Exemplaren vervielfältigt wurde, zeuge von der Macht des Buchstabens, der die praktische Erfahrung außer Acht gelassen habe.

 

Zu seinen Erkenntnissen war Spee als Beichtvater vieler wegen Hexerei zum Feuertod verurteilter Frauen gekommen. Er war überzeugt, dass sie sich alle nur unter dem Druck unerträglich qualvoller Folter schuldig bekannt hatten und dass von keiner einzigen feststand, dass sie wirklich schuldig war. Scharf kritisiert er nicht schlechthin den Hexenwahn, wohl aber das Verfahren, in dem die der Hexerei Beschuldigten mit schriftlich festgehaltenen Worten als schuldig überführt wurden: Sein Kampf gegen die Folter konnte nicht ver­hindern, dass während des Dreißigjährigen Krieges die Hexenverfolgungen auf eine noch nie erreichte Höhe stiegen. Aber er schuf die Grundlage dafür, dass der Naturrechtler Christian Thomasius in seinen 1701 erschienenen Werk „Vom Laster der Zauberei“ die Folter und damit auch Verurteilungen gegen Hexerei erfolgreich bekämpfte.

 

Drei Beiträge befassen sich mit dem Westfälischen Frieden von 1648. Gundo Guy Kroh aus Bonn analysiert dessen völkerrechtlichen Aspekte (S. 21-26), der Münsteraner Öffentlichrechtler Stefan Ulrich Pieper seine „Staatsverfassung“ (S. 27-48). Beide Aufsätze dringen tief in die vielen Probleme ein, die sich sowohl historisch als auch juristisch aus der Vorgeschichte, dem Inhalt und den Auswirkungen des großen, in seiner Komplexität erstmaligen Friedenswerks ergaben. Beachtet wird auch das Problem, ob die aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangene Ordnung nicht ein Vorbild für die angestrebte europäische Ordnung sein könnte, was von Kroh (S. 26) freilich verneint wird, da der Westfälische Frieden einen weiteren Schritt zum totalen Zerfall des Reiches bedeutete, was im Gegensatz zum heutigen Ziel steht, ein festgefügtes Europa zu schaffen.

 

Horst Lademacher, Gründer und langjähriger Leiter des Niederlande-Instituts in Münster, berichtet in seinem Aufsatz „Von der der Rebellion zur Unabhängigkeit“ (S. 49-65), wie die Niederlande aus bescheidenen Anfängen in achtzigjährigem Ringen im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges in den Rang einer Großmacht aufstiegen. Ausgangspunkte dafür waren einerseits die calvinistische Glaubensüberzeugung und andererseits kaufmännische Interessen: Mittel dazu waren Bündnisse mit Großmächten, vor allem Frankreich, das man sich aber nicht als Nachbar wünschte. Skizziert wird die recht verworrene Politik Frankreichs, Spaniens und der Niederlande, die schließlich dazu führte, dass diese in Münster sogar als Vermittler zwischen Frankreich und Spanien aufzutreten vermochten.

 

Christian Gellinek, der bis zu seiner Emeritierung das Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster leitete, behandelt in seinem Beitrag das Thema „Hugo Grotius und die Sprache der westfälischen Friedensschlüsse von 1648“ (S. 111-121). Grotius, der fließend lateinisch, griechisch, französisch, niederländisch und deutsch sprach, habe nicht nur auf die Wahl der Kleinstädte Münster und Osnabrück statt etwa der Großstädte Köln oder Frankfurt als Orte der Friedensverhandlungen, sondern auch auf die Sprache bei den Friedensverhandlungen Einfluss genommen. Aber schließlich habe man unabhängig von Grotius die lateinische Spra­che zur Abfassung der Vertragstexte gewählt, da sie zwar trocken, aber durch begriffliche Schärfe ausgezeichnet war.

 

Der Beitrag der emeritierten Professorin für Didaktik der Geschichte in Münster, Rudolfine Freiin von Oer über „Beobachtungen westfälischer Parteienvertreter an den Gerichten des Alten Reiches“ (S. 405-416) betrifft den in Münster bestens bekannten „Erbmänner-Prozess“, der 1597 in Speyer begann und 1709 durch kaiserliche Entscheidung in Wien beendet wurde. In ihm ging es um die Anerkennung der Angehörigen patrizischer Münsteraner Familien als stiftsfähig und damit würdig, Mitglieder des münsterischen Domkapitels zu werden. Die Verfasserin behandelt aber nicht den Verlauf des langen Prozesses, da sie ihn schon vor kurzem ausführlich besprochen hat („Der münsterische Erbmänner-Streit“, 1998). Vielmehr zeigt sie, wie langatmig das Verfahren war, da viele Parteivertreter für bestimmte Verhandlungen nach Speyer oder Wetzlar gehen und dort tagelang warten mussten, bis die Verhandlung wirklich stattfand, ebenso, wie es üblich war, den Richtern vor oder nach der Urteilsverkündung Besuche zu machen und sie zu einer Mahlzeit einzuladen und wie manchmal Bestechungen eine Rolle spielten.

 

Ungemein lebendig wirkt der Aufsatz von Johannes-Ansgar Hasenkamp, der jahrelang das Kulturressort der „Westfälischen Nachrichten“ leitete, über „Antonius Matthias Sprickmann“ (1749-1833, S. 145-160). Er schildert den anfänglich recht wilden Charakter und die vielseitigen Leistungen des ehemaligen Professors, Anwalts, Politikers, Musikers und Dichters, dessen Lustspiel „Der Schmuck“ 1800 von Goethe in Weimar aufgeführt wurde. Sprickmann hielt seit 1778 in Münster Vorlesungen über Staatsrecht und gründete im selben Jahr eine Freimaurer-Loge. 1814-1817 wirkte er als Professor in Breslau auf einem neugeschaffenen Lehrstuhl für deutsches Recht und 1817-1829 in Berlin als Nachfolger Eichhorns auf einem germanistischen Lehrstuhl. In seinen letzten Jahren arbeitete er an einer deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, kehrte aber 1829 nach Münster zurück, wo er 1833 starb. Er hat relativ wenig Gedrucktes hinterlassen, wohl aber ungemein viele handschriftliche Notizen, die von der münsterischen Universitätsbibliothek erworben wurden und eine reiche Quelle für weitere Forschungen bilden.

 

Christian Hattenhauer, Sohn des Kieler Rechtshistorikers Hans Hattenhauer, vor kurzem in Münster habilitiert, hat „Das Königreich Westphalen 1807-1813“ als von Napoleon für seinen jüngsten Bruder, Jérôme, geschaffenen Vasallenstaat Frankreichs überaus lebendig und vielseitig dargestellt (S. 67-91). Im kleinen Königreich, zu dem das Münsterland nie gehörte, mit der Hauptstadt Kassel, wurden französische Institutionen, vor allem die französische Justizorganisation und der Code civil erfolgreich eingeführt mit der Folge, dass die nun mündlich geführten Prozesse viel rascher als die früher schriftlichen erledigt wurden. Der König „Lustigk“ liebte verschwenderisch-luxuriöse Festlichkeiten und war sexuell ausschweifend, aber doch pflichtbewusst und leitete trotz Unkenntnis der deutschen Sprache mit Geschick viele Verhandlungen seiner Ratskollegen. Bedenklich war es, dass Napoleon soviel aus dem Land an finanziellen Mitteln und Truppen herauszog, dass es trotz höchsten Steuerdrucks ständig von Bankrott bedroht war und 28000 Mann in Russland fielen. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig musste Jérôme schmählich fliehen, und die alten Institutionen lebten wieder auf, ohne dass das Volk den vielen zum Teil trefflichen Neuerungen nachtrauerte.

 

In ihrem Beitrag „Freiherr vom Stein in Westfalen“ (S. 181-192) schildern Hans W. Jarass, Leiter des Instituts für Umwelt und Planungsrecht, und Oliver Engsterhold, Richter am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, das Wirken des 1757 geborenen Staatsmanns in West­falen. Er wurde 1780 Referendar beim Bergwerks- und Hüttendepartement, 1782 Oberbergrat, 1784 Direktor mehrerer westfälischer Bergämter, 1793 Präsident der Kriegs- und Domänenkammer in Hamm, 1796 Oberpräsident sämtlicher Kammern in den rheinisch-westfälischen Provinzen; 1803 suchte er im Auftrag König Friedrich Wilhelms III. die Verbindung zwischen den altpreußischen Gebieten und den neuerworbenen westfälischen, deren katholische Bevölkerung dem König an sich fremd war, herzustellen. Nach kurzer Ministertätigkeit in Berlin und Entlassung auf Napoleons Verlangen sowie Beratertätigkeit für Alexander I. von Russland, kehrte Stein 1826 nach Westfalen zurück und nahm seinen Alterssitz in der säkularisierten Prämonstratenserabtei Kappenberg. Im selben Jahr wurde er Landtagsmarschall. Die Autoren betonen, dass in Westfalen ständestaatliche Elemente eine starke Rolle spielten und die Bauern, obwohl großenteils eigenbehörig, meist wohlhabend und von drückenden Zinslasten frei waren. Beides habe Wesentliches dazu beigetragen, Friedrich Wilhelm III. zu bewegen, den Stein-Hardenbergschen Reformen und damit der Befreiung der preußischen Bauern aus der Erbuntertänigkeit zuzustimmen und die berühmte Steinsche Städteordnung zu bewilligen. 1831 starb Stein 93jährig.

 

Mit dem Nachfolger Steins in vielen westfälischen Ämtern, „Ludwig Freiherr Vincke - Ein Leben für Westfalen“ (S. 193-218), befasst sich Erwin Schneeberger . Vincke, 1774 in Minden geboren, entstammte einer alten freiherrlichen Familie und hatte, gleich wie Stein, neun Geschwister, legte aber, anders als dieser, keinen Wert auf seine adlige Herkunft. Er befasste sich u.a. mit vielfältigen Problemen der Landwirtschaft, der Errichtung von Pflichtversicherungen für Feuerschäden und der Ersetzung der früher merkantilistischen Wirtschaft durch eine bürgerlich-kapitalistische nach englischem Vorbild, aber ohne Aufhebung der Zünfte. Auch wurde er in den 1817 gebildeten Staatsrat berufen, was viele Aufenthalte in Berlin nötig machte, ihm aber kein internationales Ansehen verschaffte. Vincke befasste sich oft mit kirchlichen Fragen. Mit gewichtigen Bedenken gegen die vom König als Summus Episcopus der evangelischen Kirche verfasste Agende, die in allen Provinzen als einheitliche Gottesdienstordnung eingeführt werden sollte, erlangte er beim König einen Teilerfolg. Noch schwieriger war sein Verhältnis zur katholischen Kirche, nachdem Preußen das Fürstbistum Münster in Besitz genommen hatte. Es kam hier zu jahrelangen Streitigkeiten zwischen Vincke und dem Generalvikar Clemens August Droste zu Vischering, z. B. über Auswahl und Anstellung der Geistlichen, Berufung von Theologieprofessoren und Studium von Theologiestudenten Nach Vinckes Tod 1844 wurden seine hervorragenden Leistungen für Westfalen nur zurückhaltend anerkannt, obwohl er bei den meisten und besonders bei seinen untergebenen Beamten beliebt war. Er war ein Beispiel eines trefflichen Beamten, der nicht nach äußerem Erfolg und Anerkennung, wohl aber nach treuer Pflichterfüllung für das Wohl des Landes strebte.

 

Der offenbar auch allgemein-literarisch interessierte Öffentlichrechtler Bodo Pieroth hat einen Beitrag verfasst über das Thema „Karl Immermann in und über Münster“ (S. 219-227). Der 1796 in Magdeburg geborene Dichter hatte nach juristischen Studien in Halle verschiedene Richterstellen inne und war bis zu seinem Tod (1840) Landgerichtsrat in Düsseldorf, wo er Intendant des Düsseldorfer Theaters wurde. Mehrere- Jahre lebte er in Münster, wo es ihm aber nicht gefiel. Er fand, dass das viele in Münster stationierte Militär jeder Allgemeinbildung ermangelte und dass die Münsteraner allen Nichtkatholiken und aus Preußen Stammenden unzugänglich waren. Obwohl Immermann das Münsterland lange nicht besonders schätzte, hat er doch in seinem berühmten Roman „Der Oberhof“ dem westfälischen Bauerntum ein bleibendes Denkmal gesetzt. Schauplatz des Romans ist allerdings die Soester Börde. Gleichwohl wird allgemein angenommen, dass Immermanns Münsterzeit „wesentlich zu den im Roman zum Ausdruck gekommenen Anschauungen beigetragen hat“.

 

Karl Eugen Schlief, langjähriger Justiziar des bischöflichen Generalvikariats in Münster, schreibt über „Bischof Ketteler und die Freiheit der Kirchen (S. 160-179). Ketteler, 1812 als Sohn eines Landrats und Freiherrn geboren, in der St. Lamberti-Kirche in Münster getauft, studierte nach einem in Münster abgelegten Maturitätsexamen an mehreren deutschen Universitäten Rechtswissenschaft und trat dann in den Staatsdienst bei der Regierung in Münster ein. Die Kölner Wirren als erster großer Konflikt zwischen der preußischen Regierung und der katholischen Kirche, bei dem Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering auf Befehl Friedrich Wilhelms III. gefangengenommen und auf die Festung Minden gebracht wurde, löste bei Ketteler helle Empörung aus und veranlasste ihn, 1841-1844 Theologie zu studieren und Geistlicher zu werden. In der Frankfurter Nationalversammlung wurde er durch seine Ansprachen in ganz Deutschland bekannt. Seine Rede vor der ersten Versammlung des katholischen Vereines Deutschlands vom 4. Oktober 1848 und die sechs den großen sozialen Fragen seiner Zeit gewidmeten Adventspredigten im Dom zu Mainz wurden mit Begeisterung aufgenommen. Als Bischof von Mainz trat er immer wieder als Vorkämpfer in sozialen Fragen, aber auch als Kämpfer für die Freiheit von staatlicher Bevormundung auf. Die Kirche könne auch dann ihrer Sendung gerecht werden, wenn sie in einem Staat wirken müsse, der, wie z. B. Nordamerika, kirchlich völlig indifferent sei, aber eine unbedingte allgemeine Freiheit gewähre. Kettelers erste umfangreiche Schrift erschien 1862 mit dem Titel „Friede und Freiheit der Kirche“. Sein „großes Anliegen war es, Kirche und Christentum als Lebensprinzip der menschlichen Gesellschaft im öffentlichen Leben fruchtbar zu machen“ (S. 172). Er forderte vor allem Klarheit über alle Begriffe, die in der katholischen Tagespresse verwendet zu werden pflegten. Er war gegen staatskirchliche Anmaßungen des Staates, der sich Beamte nicht nur protestantischer, sondern auch katholischer Fürsten schuldig machten.

 

Andererseits sprach sich Ketteler gegen die Verkündung der Unfehlbarkeit des Papstes aus. Er starb 1872 als einer der bedeutendsten Kämpfer für katholische wie allgemein-kirchliche Freiheit gegenüber der unbeschränkt souveränen Staatsgewalt.

 

Der Beitrag Manfred Scholles, der mehrere Jahre als erster Landrat beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Münster wirkte und jetzt in der Elektrizitätswirtschaft eine bedeutende Stellung einnimmt, über „Rechtsgrundlagen des Kulturkampfes“ (S. 417-434) zählt die 1872-1876 erlassenen Gesetze auf, welche infolge der Ängste Bismarcks und vieler Zeitgenossen vor den in der Unfehlbarkeitserklärung manifestierten Machtanmaßung des Papstes, Abwehrmaßnahmen zu rechtfertigen schienen; aber es fehlt ihnen an einer näheren Beziehung zu Westfalen, für die jene Gesetze wegen des großen Prozentsatzes von Katholiken in diesem Gebiet allerdings besonders bedeutungsvoll waren. Auch äußert sich der Verfasser zwar über den Anlass und die Gründe für die einzelnen Regelungen,

nicht aber über deren praktischen Erfolg oder Misserfolg.

 

Es fehlen auch Ausführungen über das allmähliche Abflauen der nach einer Rede des Gesundheitspolitikers Virchow „Kulturkampf“ genannten Maßnahmen und deren Gesamtbedeutung.

 

Mit Heinrich Eduard  Pape, der 1816 in Brilon im Sauerland, also im südlichsten Teil Westfalens, geboren wurde, befasst sich der emeritierte Handels- und Zivilrechtler Otto Sandrock (S. 229-237). Pape war seit 1857 Mitglied der von der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 eingesetzten Kommission zur Schaffung eines einheitlichen allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB). 1870 wurde er Präsident des Bundesoberhandelsgerichts in Leipzig, das 1871 in das Reichsoberhandelsgericht umgewandelt wurde. Die Jahre 1870-1879 betrachtete er als die fruchtbarste Zeit seines Lebens, doch muss sein Anteil an den konkret getroffenen Gerichtsentscheiden infolge der Tradition, die einzelnen Votanten in den Gerichtsprotokollen nicht zu nennen, offen bleiben.

 

Seit 1874 wirkte Pape zuerst nebenamtlich und seit 1879 als Vorsitzender an der Schaffung des ersten Entwurfs für ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch mit, einer Aufgabe, die ihm im vorgerückten Alter schwer fiel, zumal sie ihn zur Befassung mit ihm bis dahin nicht geläufigen Materien nötigte. Die daher beschlossenen sehr abstrakten Regelungen gaben denn auch nach der 1887 erfolgten Veröffentlichung des Entwurfs zu berechtigten Kritiken Anlass. Papes Verdienst an diesem in einen zweiten umgearbeiteten Entwurf kann dennoch kaum bestritten werden. Er starb 1888.

 

Über „Johannes von Miquel und die preußische Steuerreform“ äußern sich der Leiter des münsterischen Instituts für Steuerrecht, Dieter Birk, und seine Mitarbeiterin Nadine Zengerle (S. 129-144). Miquel, 1828 im hannoverschen Neuenhaus geboren, war in seiner Studentenzeit revolutionär gesinnt und begeisterter Anhänger marxistischer Lehren, wurde aber schrittweise realistischer und suchte soziale Fortschritte durch Zusammenwirken von Bürgertum und Proletariat zu erreichen, was ihm durch Kompromisse weitgehend gelang. 1865 wurde er Oberbürgermeister von Osnabrück. Nach der Einverleibung Hannovers in den preußischen Staat war er 1867-1882 als einer der führenden Männer der national-liberalen Partei Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. 1876 übernahm er erneut das Amt des Oberbürgermeisters von Osnabrück; 1880-1890 wurde er Oberbürgermeister in Frankfurt, wo er sich vor allem der Sanierung der städtischen Finanzen zuwandte.

 

Miquel erkannte die grosse Bedeutung gesicherter Finanzhaushalte. Das bewog ihn gelegentlich, von seinen freiheitlich-demokratischen Forderungen abzurücken; denn „Politiker haben heute weniger als je zu fragen, was wünschenswert als was erreichbar ist“ (S. 133) 1890, nach Bismarcks Entlassung, wurde Miquel preußischer Finanzminister und war ein Jahrzehnt lang die bestimmende Figur der preußischen und deutschen Innen- und Finanzpolitik. 1897 wurde er zum Vizepräsidenten im Staatsministerium ernannt und in den erblichen Adelsstand erhoben. Kurz nach einem von ihm gestellten, bewilligten Entlassungsgesuch erlag er 1901 in Frankfurt einem Herzschlag.

 

Grundlegend wurde das Einkommensteuergesetz von 1891, das das Ziel verfolgte, den einzelnen entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit einer progressiven Einkommensteuer zu belasten. Diese wurde als direkte Steuer mit Deklarationspflicht zur wichtigsten Einnahmequelle für den preußischen Staat ausgestaltet. Neu war u. a. die Steuerpflicht der Kapitalgesellschaften, ebenso die Besteuerung von Spekulationsgewinnen.

 

Miquel selbst hatte einen Höchststeuersatz von 3% für Einkommen von 9500 Mark vorgesehen, bewog aber das Herrenhaus zum Einverständnis mit dem vom Abgeordnetenhaus verlangten Höchststeuersatz von 4%, um das Zustandekommen des Gesetzes nicht zu gefährden. - Die Einführung einer Vermögensteuer als Ergänzungssteuer zur Einkommensteuer wurde vom Parlament nur in der gemilderten Form angenommen, dass entgegen dem Antrag von Miquel keine Deklarationspflicht für das Vermögen bestand.

 

Das Einkommensteuergesetz von 1891 ist in seiner Grundlage bis heute erhalten geblieben. Es verfolgte aber rein fiskalische Zwecke und war im Gegensatz zum heutigen Recht praktisch frei von Ausnahmetatbeständen, die Lenkungscharakter hatten. Miquels Grundprinzipien könnten noch heute erfolgreich wirken, wenn es darum geht, das Steuerrecht zu vereinfachen und von einem Übermaß von reinen Zweckbestimmungen zu befreien.

 

Mit „Erich Klausener - Patriot und Christ“ befasst sich der frühere Oberstadtdirektor von Münster Tilmann Pünder (S. 289-328). Klausener wurde 1885 in Düsseldorf als Sohn eines angesehenen katholischen Juristen geboren. Nach den mit „gut“ bestandenen juristischen Examina und beim westfälischen Ulanenregiment geleisteten Militärdienst heiratete er 1914, nahm dann, seit 1915 als Offizier, am Weltkrieg teil und lernte dort viele Leute des „vierten Standes“ kennen und schätzen. Noch vor Kriegsende wurde er 1918 zum Regierungsrat ernannt und bald darauf Landrat zunächst im kleinsten und ärmsten Kreis der Monarchie, Adenau, bald aber in der Hocheifel und 1919 im großen Landkreis Recklinghausen in Westfalen, wo er bis 1924 unter den äußerst misslichen Verhältnissen der ersten Nachkriegszeit wirkte. Er stand auf der Seite der rechtmäßigen republikanischen Regierung im Reich und in Preußen, war also gegen die rechtsgerichteten Anhänger des Kapp-Putsches und ebenso gegen die von manchen als „rote Truppe“ bezeichneten Linkskräfte und die im Ruhrgebiet herrschenden Plünderungen und Gewalttätigkeiten.

 

Schlimm waren die Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen im Januar 1921 und der darauf von der deutschen Regierung ausgerufene passive Widerstand, der das wirtschaftliche Leben völlig zusammenbrechen und die seit 1922 im Gang befindliche Geldentwertung zu einem traurigen Höhepunkt gelangen ließ. Der Abbruch des passiven Widerstandes im September 1923 beendete den Ruhrkampf und führte auch zur Beendigung der Inflation und schließlich zum Abzug der fremden Truppen aus dem Ruhrgebiet.

 

Klausener hatte während seiner Landratszeit Bedeutendes vor allem in der Wohlfahrtspflege, im Verkehrswesen und im Wirtschaftsleben, geleistet. 1924 wurde er ins preußische Ministerium berufen, wo die Zentrumspartei, die Sozialdemokraten und die Linksliberalen in einem Dauerbündnis immer wieder die Regierung stellten. Dass Klausener nach der Machtergreifung Hitlers (1933) nicht ganz aus den ministeriellen Angelegenheiten ausgeschlossen wurde, hing mit seiner Stellung als Leiter der 1922 von Papst Pius XI. angeregten „Katholischen Aktion“ zusammen, der der spätere Papst Pius XII. 1928 auf einem weiteren Katholikentag im Kampf gegen den Verband der Proletarischen Freidenker Deutschlands und ihrer aus der Sowjetunion übernommenen „Gottlosenpropaganda“ sowie in dem 1929 mit Preußen abgeschlossenen Konkordat entscheidendes Gewicht gab. Klauseners zwar regierungstreuer, aber regierungskritischer katholischer Standpunkt führte schließlich dazu, dass er bei der Niederschlagung des Röhm-Putsches (1934), gleich andern, den Nationalsozialisten Ungenehmen als angeblicher Verschwörer auf obrigkeitlichen Befehl ermordet wurde, was in christlichen Kreisen Entrüstung auslöste.

 

Über das typische Schicksal des 1884 als katholischer Jude in Schlesien geborenen und später mit einer evangelischen Jüdin verheirateten „Georg Fröhlich - Landgerichtspräsident in Münster“ berichtet in fesselnder Weise der jetzige Vizepräsident dieses Landgerichts, Peter Schröder (S. 350-391). Nach mit Auszeichnung bestandenen juristischen Examina war Fröhlich abwechselnd Beamter in verschiedenen Stellungen und Notar sowie Anwalt am Oberlandesgericht in Breslau mit großen beruflichen Erfolgen und Mitgliedschaft bei der deutschen demokratischen Partei, der auch Hugo Preuß, Max Weber, Theodor Heuss und andere bürgerlich-liberal Ge­sinnte angehörten. 1933, nach der Machtergreifung der Nationalso­zialisten, wurde er als Notar entlassen und als Anwalt nichtarischer Abstammung schwer schikaniert. Nach einem misslungenen Attentat auf sein Leben exilierte er in die Niederlande, wo er, auch nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen, von Freunden geschützt, mit seiner Frau und seiner Tochter bis Kriegsende blieb, während sein Sohn grundlos verhaftet und erschossen wurde. Trotz der ihm von Deutschen zugefügten Schicksalsschläge blieb Fröhlich in seiner Gesinnung Deutschland verbunden und nahm nach Kriegsende eine ihm aufgrund seines hohen Ansehens angebotene Stelle zunächst beim Oberlandesgericht Hamm und dann als Präsident des Landgerichts Münster und schließlich als Mitglied des erstmals zu besetzenden Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe an, aus dem er 1956, häufig durch Krankheit behindert, im Alter von 72 Jahren ausschied. Trotz seiner Tätigkeit in Karlsruhe wurde ihm Münster allmählich zur zweiten Heimat. Verdienstvoll war seine maßgebende Beteiligung bei der Gründung der deutsch-niederländischen Juristenkonferenz, die seit 1949 abwechselnd in Deutschland und in den Niederlanden fruchtbare Tagungen hielt und dem jungen deutschen Staat die Möglichkeit gab, sein Bekenntnis zu Recht und Gerechtigkeit öffentlich kundzutun. Ebenso wirkte Fröhlich mit beider Wiedergründung der Juristischen Studiengesellschaft, die 1933 vom damaligen Präsidenten des Landgerichts, Dr. Münster, aufgelöst worden war, um einer nationalsozialistischen Gleichschaltung zuvorzukommen.

 

Fröhlich ist 1971 im Alter von 87 Jahren in seinem Ferienhaus im Schwarzwald gestorben. „Ein Leben reich an Leistung, Leid und Liebe“ (S. 390) hatte damit sein Ende gefunden, wirkt aber bis heute nach.

 

Über Kardinal von Galen (1878-1946), der durch seine im Dom zu Münster geäußerten Proteste gegen die Tötung anscheinend unheilbar Geisteskranker weit über Münster hinaus berühmt wurde, äußert sich Prof. Joachim Kuropka vom Institut für Geschichte und historische Landesforschung der Universität Vechta (S. 273-287). Er führt aus, dass Galen nicht nur Theologie, sondern auch Rechtswissenschaft studiert hatte und sich immer wieder auf das Reichskonkordat berief, ebenso dass er häufig Prozesse für seine Rechtsüberzeugung führte und seinerseits immer wieder Angeklagter in Prozessen war, die aber zu keinem Ziel führten, da man es nicht wagte, den beim Volk beliebten Bischof zu verurteilen oder ihn gar seines Amtes zu entheben. Es treffe auch nicht zu, dass Galen 1933 nach Hitlers Machtergreifung dem neuen Regime anfänglich nahegestanden habe. Jede Obrigkeit, auch eine christliche, habe die menschliche Freiheit als höchstes von Gott verliehenes Gut zu achten. Katholiken sei zwar jede Beteiligung an Revolutionen verboten. Aber seit jeher habe er die Wahl der Zentrumspartei empfohlen, allerdings nicht von der Kanzel aus, sondern aus seelsorgerlichen Gründen, und viele seiner Confratres habe er kritisiert, weil sie nur reproduzierten, was ihre Zeitungen ihnen vorgekaut haben. Die Omnipotenz der Masse fand er ebenso bedenklich wie die Alleinherrschaft eines Monarchen. Er sah, wie die liberale Demokratie schrittweise zur totalen Diktatur führte.

 

Ebenso fesselnd und reichhaltig sind die Ausführungen Hermann Pünders, Leiter des Freiherr-vom-Stein-Instituts in Münster, über „Carl Schmitt - Skizze eines unruhigen Lebens“ (S. 239-272). Schmitt wurde 1888 im sauerländischen Plettenberg geboren und starb daselbst, fast hundertjährig, 1985. Er war ein vorzüglicher Schüler einer katholischen Knabenerziehungsanstalt, die er aber verlassen musste, weil sein allgemeines Betragen nicht seinem Wissen ent­spreche. Im Jurastudium in Berlin empfand er die weltberühmten Pro­fessoren als wilhelminisch-aufgeblasen, ohne höhere Geistigkeit. In Strassburg promovierte er „summa cum laude“. 1914 erschien seine Habilitationsschrift, „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“. Nicht der Mensch, weil er Mensch ist, sondern der Mensch, der gut und achtungswürdig ist, verdiene Achtung. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Kriegsfreiwilliger. Nach einer Reitverletzung wurde er Referatsleiter im bayerischen Kriegsministerium.

 

Nach dem verlorenen Krieg wurde er beamteter Dozent der Handelshochschule in München und veröffentlichte dort ein auch ins Französische übersetztes Werk über „Politische Romantik“, das vielseitige Resonanz fand. Schmitt verabscheute die bürgerliche Beliebigkeit seiner Zeit, deren Wurzeln er in den Romantikern sah. Deren Hauptbeschäftigung sei es, „ewige Gespräche“ zu führen. Inzwischen war er ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts in Greifswald geworden. Der Kapp-Putsch (1920), die Morde an Erzberger (1921) und Rathenau (1922) und dann die Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier (1923) mit der sich anschließenden extremen Inflation sowie die Aktivitäten der Nationalsozialisten in Bayern und der Kommunisten in Mitteldeutschland machten ein Denken über Souveränität dringend. Schmitt erklärte dazu, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Der Souverän entscheide sowohl darüber, ob ein Ausnahmezustand besteht, also auch darüber, wie er zu beseitigen sei. Er bewunderte den römischen „Katholizismus“, der voll des intellektuellen, ästhetischen und künstlerischen Gesetzes sei und darin den herrschenden Gruppen überlegen, die zum Kulturkampf gegen den Katholizismus geblasen hatten.

 

1926 wurde er Professor an der Handelshochschule in Berlin. Damals erschien sein für das Staatsrecht bis heute wichtigstes Werk, „Die Verfassungslehre“. Er erklärte, die Grundentscheidungen der Weimarer Verfassung seien „Entscheidung für die Demokratie, für die Republik, die Beibehaltung der Länder, also eine bundesstaatliche Struktur des Reiches, ferner die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat mit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunter­scheidung“. Entgegen der damals herrschenden Lehre erklärte er, dass verfassungsändernde Gesetze die grundlegenden politischen Entscheidungen, welche die Verfassung ausmachen, nicht beseitigen dürfen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes von 1949 sind dem gefolgt. Sie haben aus der Weimarer Erfahrung gelernt, dass die Aufstellung von formal legal zustande gekommenen Gesetzen Grundprinzipien der Verfassung nicht ändern dürfen. 1927 erschien Schmitts bekannteste Schrift, „Der Begriff des Politischen“. Dessen Wesen sah Schmitt darin, dass er die Menschen in „Freunde“ und „Feinde“ einteilt. Den Kompromiss, den die Weimarer Republik so dringend benötigte, blendete er aus.

 

1930 zerbrach die große Koalition von SPD, DVP, Zentrum, DDF und BVP wegen mangelnder Kompromissbereitschaft der tragenden Fraktionen. Die Regierung konnte sich schließlich nur noch über das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten über Wasser halten. Schmitt, der zum Anhänger einer starken Staatsautorität geworden war, hielt in „Hüter der Verfassung“ nicht den Staatsgerichtshof mit der Folge einer Politisierung der Justiz, sondern ein handelndes Organ, den Reichspräsidenten, zum Hüter berufen. Nachdem General von Schleicher bei seinem Versuch, die NSDAP zu spalten, gescheitert war, wurde am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler bestellt. Schmitt, seit Dezember 1932 Ordinarius in Köln, trat sogleich der NSDAP bei und wurde Lehrstuhlinhaber in Berlin. Für ihn war nun Hitler der Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Das Massaker des 30 .Juli 1934 rechtfertigte er in der Deutschen Juristenzeitung: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, indem er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. „Alten Kämpfern“ unter Schmitts Kollegen war aber sein steiler Aufstieg ein Dorn im Auge. Es hieß, Schmitt sei kein Nationalsozialist, sondern ein katholischer Denker und Opportunist mit zahlreichen jüdischen Verbindungen. Er mache Witze über die GESTAPO. Alle Rechtfertigungen gegen solche Angriffe nützten ihm nichts. Nach schweren Angriffen im SS-Organ „Schwarzes Korps“ ließ die NSDAP ihn fallen. Zum 1. Januar 1937 wurde er aller nationalsozialistischen Ämter enthoben. Den Titel „preußischer Staatsrat“ durfte er auf Intervention Görings behalten. Er schrieb nun noch ein Buch über „Leviathan als Staatslehre des Thomas Hobbes - Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols“, ein sprachgewaltiges, Werk, gegen das keine noch so klare Gedankenführung aufkam.

 

Auf dem Feld der Innenpolitik war Schmitt zum Schweigen verurteilt. Er wandte sich nun dem Völkerrecht zu. Am Vorabend des Kriegsausbruchs entwickelte er in einem Vortrag, ein neues Völkerrecht, das auf einer Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte basiert. Damit kam Schmitt den imperialen Wünschen des Volkes entgegen. Etwaige Interventionen Nichtdeutscher gegen die Neuordnung des Ostens (Österreich, Tschechoslowakei, Memelland) waren danach völkerrechtswidrig.

 

Nach dem Attentat auf Hitler gehörte Schmitt zu denen, die das Dritte Reich und seine Exponenten hassten. Nach Kriegsende wurde er verhaftet, ohne zu verstehen, warum man ihn behelligte. Von Anschuldigungen wegen Vorbereitung des Krieges sah man ab; denn er habe sich keiner Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Er verbrachte seine letzten Jahre in Plettenberg, wo ihn Freunde wiederholt besuchten und ihm zum 80. Geburtstag eine zweibändige Festschrift überbrachten, an der sich sogar Angehörige ehemals linker Gruppen beteiligten. Im Alter von 96 Jahren starb er verbittert und zerbrochen.

 

Vom Ökonomen Alfred Müller-Armack (1901-1978) handelt dessen von ihm habilitierter Schüler Heinz Großekettler (S. 329-348). Müller-Armack stand unter starkem Einfluss, den Max Weber und dessen Überlegungen zur Entstehung des Geistes des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik auf ihn ausübten. 1934 wurde er a.o. Professor in Köln. In der Zeit des Dritten Reiches (1933-1945) machte er bewusst das unpolitisierte Gebiet der Kultur- und Religionssoziologie zu seinem Hauptarbeitsgebiet. 1940 wurde er ordentlicher Professor in Münster. Von Ludwig Erhard wurde er zur Teilnahme an den Arbeiten der Sonderstelle „Geld und Kredit“ herangezogen und widmete dann seine ganze Kraft der Fundierung der „sozialen Marktwirtschaft“. Diesen Begriff prägte er in einem 1947 erschienenen Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“. 1950 nahm er einen Ruf nach Köln an. Sein Münsteraner Lehrstuhl wurde - seit 1960 in das Institut für Finanzwissenschaft integriert - der Reihe nach mit den Professoren H. Jecht, H. Timm sowie dem Verfasser dieses Artikels besetzt.

 

1952 wurde Müller-Armack Leiter einer Abteilung im „Ordnungsministerium“ Erhards, behielt aber seine Lehrtätigkeit in Köln bei, und stieg auf zum Staatssekretär, speziell für Europafragen (1958). Verdient machte er sich vor allem durch erfolgreiche Bemühungen um die Einführung der Konvertierbarkeit der europäischen Währungen, die 1958 durch das Europäische Währungsabkommen vollendet wurde. 1963 gab er sein Amt auf, hielt aber seine Lehrtätigkeit aufrecht. Theorie und Praxis der sozialen Marktwirtschaft waren sein Hauptarbeitsgebiet. Mitstreiter für diese Wirtschaftsverfassung waren besonders F. Böhm, Ludwig Erhard und W. Eucken. Sie nahmen eine mittlere Stellung ein zwischen den Altliberalen, die eine freie Marktwirtschaft anstrebten, und den Sozialliberalen, besonders Karl Schiller, die Anhänger einer gesteuerten Marktwirtschaft waren. Die Glanzzeit der sozialen Marktwirtschaft reichte von 1948 bis zur Rezession von 1966/67. Dann wurden Theorie und Praxis wieder stärker konjunkturpolitisch ausgerichtet und der Staat zu einem Sozialstaat ausgestaltet.

 

Aus vornehmem, katholischem Hause stammend, schildert der 1917 ge­borene, später Rechtsanwalt gewordene Philipp Freiherr von Boeselager ungemein fesselnd seinen „Weg zum 20. Juli 1944“ (S. 435-459). Er skizziert den Niedergang Deutschlands nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier und die ins Ungeheure gesteigerte Geldinflation, dann die Wirtschaftskrise nach 1929 und die außen- und innenpolitischen glänzenden ersten Erfolge der Nationalsozialisten, von denen sich der größte Teil des Volkes blenden ließ. Er zeigt, wie nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler (1933), der Niederschlagung des angeblichen Röhm-Putsches (1934) und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939) erst der Russlandfeldzug Hitlers (1941) zu größten Schwierigkeiten führte. Boeselager wurde vor Moskau schwer verwundet und als noch nicht wieder „frontverwendungsfähig“ 1942 dem Kommandanten des Heeresabschnitts Mitte, Feldmarschall von Kluge, als persönliche Ordonnanz zugeteilt. Er hörte viele Telefongespräche zwischen Hitler und Kluge. Auch stellte er fest, dass schon damals unzählige Juden und Zigeuner als Feinde des Reiches ohne Gerichtsverfahren erschossen wurden, was bei Kluge und andern hochgestellten Offizieren Abscheu erregte. Er lernte viele von diesen kennen, die, aus alten Familien stammend, wie ihre Vorfahren, streng preußisch und zugleich christlich dachten und schon lange vor dem 20. Juli 1944 ein Attentat gegen Hitler als Massenmörder und Deutschland einer Katastrophe entgegentreibend planten und ein solches nur unterließen, weil zur Vermeidung eines Bürgerkrieges zwischen Heer und SS gleichzeitig auch Himmler als SS-Führer hätte umgebracht werden müssen und dieser am vorgesehenen Tag nicht zu Hitler gekommen war. Auch der misslungene Attentatsversuch am 20. Juli 1944 wird skizziert, von dem Boeselager sich noch rechtzeitig zurückziehen konnte.

 

Über „Harry Westermann - vom Ethos des Professors“ hat Bernhard Großfeld einen eindrucksvollen Bericht erstattet (S. 392-401). Westermann, der als Sohn eines calvinistischen Pfarrers 1909 in Leer (Ostfriesland) geboren wurde, erlebte alle Schwierigkeiten, welche die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Herrschaft der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg mit sich brachten. 1945 wurde er Ordinarius für Zivilrecht in Münster, bald darauf Rektor der Universität. Er gründete das Zentralinstitut für Raumplanung und, zusammen mit dem Volkswirt Seraphim, das Institut für Genossenschaftsrecht. Der Universität verschaffte er das Landhaus Rothenberge, in dem viele Seminarveranstaltungen abgehalten werden. 1986, zwölf Jahre nach seiner Emeritierung, ist er auf einer Geschäftsreise nach Kanada in Vancouver gestorben. Er betrachtete die handwerkliche Beherrschung des Rechts als unentbehrlich, fasste das Recht aber auch als Kunsthandwerk auf und verfasste viele bedeutende Bücher, so über Sachenrecht. Vor allem aber wirkte er als Professor seinen Studenten gegenüber vorbildlich, indem er sie „Rechtsfreunde“ nannte und in ihnen Verständnis und Liebe für das Recht erweckte, dies im Gegensatz zu manchen heutigen Professoren, die gar nicht am Universitätsort wohnen und ihre Vorlesungspflichten auf einen Tag in der Woche zusammendrängen.

 

Landgerichtspräsident von Münster a. D. Dr. h.c. Helmut Proppe berichtet auf S. 461-472 aufschlussreich über „Die deutschnieder­ländische Juristenkonferenz“, die 1949 mit einigen zeitbedingten Schwierigkeiten gegründet wurde, aber viel zur Versöhnung der 1940 von den Deutschen überfallenen Niederländer beigetragen hat. Jährlich abwechselnd werden in Deutschland und in den Niederlanden Tagungen durchgeführt mit drei, ab 1959 nur noch zwei, Vorträgen, von denen jeweilen einer von einem Mitglied des Gastgeberlandes und einer von einem Mitglied des Gästelandes gehalten wird. Die erste Tagung fand in Burgsteinfurt in der Nähe der deutsch-holländischen Grenze statt. Der Juristenkonferenz gehören heute noch hochrangige Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Professoren an, die auch die Vorträge halten. Führend in der Konferenz wären auf deutscher Seite der Landgerichtspräsident von Münster, Dr. Fröhlich, der 1971 starb, ferner der mit einer Niederländerin verheiratete Prof. Harry Westermann. Heute sind es Prof. Bernhard Großfeld und auf niederländischer Seite u.a. Prof. Langemeijer. Starkes Interesse an der Konferenz bekundete auch das niederländische Königshaus; anlässlich der 30. Tagung empfing Königin Juliana die niederländischen und deutschen Vorstandsmitglieder in ihrem Stadtpalais in Den Haag.

 

Helmut Kollhosser erörtert in juristisch ausgefeilter Weise den „Wandel der westfälischen Landschaft“ (S. 473-487). Die westfälische Landschaft (WL) ist ein traditionsreiches Bodenkreditinstitut in Münster, das gemäß einer Verfügung des Königs von Preußen als öffentlichrechtliche Körperschaft gegründet wurde. Diese Rechtsform machte es aber unmöglich, die Kreditbedürfnisse der Kunden durch Vergrößerung des Kapitals oder durch Beiträge der Mitglieder zu befriedigen. Daher wurde die WL aufgrund eines von Kollhosser erstellten Gutachtens durch Generalversammlungsbeschluss in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren alleiniger Aktionär eine von der WL gegründete Stiftung mit demselben Namen ist. Das Stiftungsvermögen ist weiterhin für die bisherigen Zwecke der WL (Förderung der Belange der Landschaft) zu verwenden. Außerdem wurde sichergestellt, dass weder die Pfandbriefgläubiger der WL noch deren Personal durch die Umwandlung geschädigt werden, Nach der Umwandlung wurde planmäßig eine Erhöhung des Kapitals der neuen Hypothekenbank durchgeführt, wobei die neuen Aktien von der deutschen Genossenschaftsbank übernommen wurden. Die WL verkaufte einen Teil ihrer Umwandlung geschaffenen Aktien und legte den Erlös so an, dass er verfügbar bleibt und die Erträge dem Stiftungszweck zugute kommen.

Rudolf Vosskühler, Kreisdirektor von Borken, und sein Mitarbeiter Ansgar Scheipers besprechen in einem Aufsatz über den „Kampf um das Europarecht auf westfälischem Boden“ (S. 489-504) ein 1988 gefälltes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, das für die Freiheit des Warenmarktes in der gesamten Europäischen Gemeinschaft erhebliche Bedeutung hat. Es ging um Geflügelfleisch, das von den Niederlanden in den ihnen benachbarten westfälischen Kreis Borken eingeführt und von dort meistens nach Süden weitergeführt wird. Verschiedene Urteile von Verwaltungsgerichten waren vorausgegangen. Fraglich war stets, inwieweit Gesundheitskontrollen des Fleisches zulässig sind; das wurde schließlich weitgehend verneint, was der Verwirklichung des Binnenmarktes der EU-Länder förderlich, aber gesundheitspolitisch nicht unbedenklich ist. Die verschiedenen vorangegangenen Urteile und das unmittelbar besprochene werden von den Autoren sorgfältig, aber für Nichtkenner der Materie nicht durchweg leichtverständlich dargestellt.

 

Ebenfalls mit Tieren im Kreis Bocholt befasst sich unter dem Titel „Hormonkälber im Münsterland - Ein Skandal und seine juristischen Konsequenzen“ der Vorsitzende Richter am Oberverwaltungsgericht Münster Erhard Ostermann (S. 504-519). Mit Hormonen behandelte Tiere waren auf rechtlich einwandfreie Weisungen hin geschlachtet worden. Verfahren vor Verwaltungsgerichten und zivilrechtliche Schadensersatzanklagen endeten für die Mäster praktisch erfolglos. Ein Strafverfahren führte zur Verurteilung eines Großmästers zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Die Urteile erregten Aufsehen. Laut den „Westfälischen Nachrichten“ hat der renommierte Pharmakologe Prof. Kemper erklärt, der Verzehr von mit Hormonen behandeltem Fleisch sei praktisch ungefährlich; die einen Skandal bewirkenden Regelungen seien bedenklich. Inzwischen ist im gesamten Raum der EU der Einsatz von Wachstumshormonen ausnahmslos verboten worden.

 

Lieselotte Steveling, Verfasserin einer 1999 publizierten großen Dissertation über „Juristen in Münster“, legt einiges daraus unter dem Titel „Aus der Geschichte der juristischen Fakultät Münster“ sehr ansprechend vor (S. 521-554). Sie behandelt zuerst die 1780 für die katholischen Landeskinder errichtete juristische Fakultät. Diese sollte nach der Konzeption des ersten Universitätskurators, von Fürstenberg, durch einen auf die Praxis ausgerichteten Unterricht Juristen heranbilden, die die landesspezifischen Rechtsverhältnisse vertreten konnten. Im Zuge der Neuordnung des Unterrichts wurde die Universität 1818 aufgehoben. Es blieb immerhin eine theologische und philosophische Akademie, die 1902 durch Gründung einer juristischen Fakultät zu einer neuen Universität wurde. Bei Auswahl der Professoren sollte Parität zwischen Katholiken und Protestanten gewahrt werden, was aber nicht immer möglich war. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) führte zu keinen besonderen Problemen, ebenso die Revolution von 1918. Die Professoren trachteten danach, eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und Universität zu verhindern, ohne sich an politischen Aktionen zu beteiligen. Nicht gegen das Kaiserreich eingestellt zu sein, empfanden viele als selbstverständlich. Trotz der Erschütterungen erwies sich die Universität Münster als solide Arbeitsstätte wissenschaftlicher Forschung und Lehre und als Hort nationaler Bildung, der sich den großen Ideen des deutschen Geisteslebens unbeirrbar verbunden fühlte. Probleme ergaben sich bei der Berufung oder Nichtberufung von Professoren, die als Freunde oder Gegner des Nationalsozialismus galten. Im Zweiten Weltkrieg wurde Münster durch Fliegerangriffe schwer getroffen und manche Universitätseinrichtungen in Mitleidenschaft gezogen. Nach Kriegsende befanden sich manche Hochschullehrer noch in Kriegsgefangenschaft. Nicht wenige Parteimitglieder wurden bis zu ihrer „Entnazifizierung“ ihres Amtes enthoben.

 

Anschließend wird nur noch die Besetzung und Neueinrichtung von Lehrstühlen in Münster aufgezählt. Bemerkenswert ist, dass der große Römischrechtler Max Kaser, der seit 1932 in Münster wirkte, in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war und erst 1946 seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm.

 

Bern                                                                                                                 Rudolf Gmür