Meusch, Matthias, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968) ( = Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 26 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 70). Historische Kommission für Nassau, Wiesbaden 2001. VIII, 431 S., 3 Abb.

 

Meuschs zeitgeschichtliche Monografie präsentiert die überarbeitete Version einer Dissertation, die im Wintersemester 1998/99 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. Mit dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) stellt Meusch einen besonders exponierten, liberalen Juristen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung, der die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz kritisch begleitete und sich früher und intensiver als andere um die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen verdient gemacht hat.

 

Der Darstellung der biografischen Stationen des in der NS-Zeit wegen rassischer Verfolgung emigrierten Bauers (S. 8-22) folgt ein Überblick über sein an Humanismus, Wertepluralismus und Toleranz ausgerichtetes juristisches Denken. (S. 22-67) „Dem menschlichen Faktor eine Gasse zu bahnen“, sei die Aufgabe „vor allem der Juristen“, denn vom „Gesetzesfetischismus führe ein schnurgerader Weg zu den Konzentrationslagern von Auschwitz und Buchenwald.“(S. 43) Das Idealbild war für Bauer daher der „soziale“ Richter, der akzeptierte, „daß allen Paragraphen die großen Werte vorgelagert sind, die uns durch die biblische Ethik und durch griechischen Humanismus, durch die Kämpfe erst der Bürger, später der Arbeiter um die Freiheitsrechte der Menschen und um sozialen Ausgleich überkommen sind“. (S. 44)

Die Rolle der Justiz lag für ihn nicht in der Repräsentation des Staates gegenüber dem Bürger, sondern in der Wahrung der Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat. (S. 42) In diesem Kontext trat er für eine Öffnung der Justiz gegenüber der Bevölkerung durch eine intensive Öffentlichkeitspolitik durch Presseberichterstattung ein. (S. 45f.) Eine liberale Auffassung vertrat Bauer auch beim in der Nachkriegszeit rückständigen Sexualstrafrecht und beim Einsatz der Zensur. (S. 25ff.)

 

Im Mittelpunkt seines kriminalpolitischen Denkens standen für Bauer die Ursachen des Verbrechens, die er auf der Grundlage empirischer Wissenschaften zu ermitteln suchte. (S. 138) Die Ursachen für die nationalsozialistischen Verbrechen sah er in einem, heute historisch kaum mehr haltbaren, seit Luther und Kant den Deutschen anerzogenen Nationalcharakter im Sinne der „Sonderwegstheorie“. (S. 138-165)

 

Beim politischen Strafrecht zeigte sich Bauers liberale Haltung vor allem während der „Spiegel-Affäre“ des Jahres 1962 (S. 53-56) und bei der Beschlagnahmung der Braunbücher des Staatsverlages der DDR  während der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1967 („Braunbuch-Affäre“) (S. 57-65) Vor dem Hintergrund des Antikommunismus als „konstitutiven Faktor“ der Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands verwundert es wenig, daß Bauer nicht selten verdächtigt wurde, er gehe zu nachlässig gegen linken Extremismus vor und begünstige dadurch kommunistische Umsturzbewegungen in Hessen und der Bundesrepublik. (S. 125ff.)

 

Bauers dezidiertes Ziel bestand in der Umerziehung der deutschen Bevölkerung im Sinne einer „geistigen Revolution“, die durch Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen eine Wiederholung der Geschichte verhindern sollte. (S. 139) Als Medium einer solchen Umerziehung erachtete Bauer Strafprozesse und vor allem eigens für diese gefertigte Sachverständigengutachten für besonders geeignet. (S. 175f.) Als Generalstaatsanwalt am OLG Braunschweig forcierte er bereits im Jahr 1952 die bis dahin gesellschaftlich umstrittene Rehabilitierung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, indem er durch eine Anklage gegen den Nationalsozialisten und Neonazi Otto Ernst Remer die rechtliche und moralische Bewertung des Widerstandskampfes gerichtlich klären ließ. (S. 67-85) Politische Wogen schlug Bauers Initiative eines Ermittlungsverfahrens gegen den Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke im Jahr 1960, das nach Abgabe an die Staatsanwaltschaft Bonn aber im Mai 1961 eingestellt wurde. (S. 99ff.)

 

Ende der fünfziger Jahre zog Bauer die Ermittlungen wegen der im Rahmen der NS-„Euthanasie“-Aktion begangenen Morde an seine Behörde, nachdem sich der Obergutachter und medizinische Leiter der Aktion, Werner Heyde, den Ermittlungsbehörden gestellt hatte. (S. 182-198) Bauer hielt es im Rahmen dieses und folgender Großprozesse gegen eine Vielzahl von Angeklagten für erforderlich, Gesamtkomplexe wie die „Euthanasie“-Aktion nicht in Einzeltaten aufzuspalten, sondern unter Ermittlung des gesamten historischen Zusammenhangs in toto vor Gericht zu bringen. (S. 175ff.) Die Grenzen dieser Vorgehensweise dürfte freilich bei dem 20-monatigen Auschwitz-Prozeß der Jahre 1964/65 erreicht worden sein. Strafrechtsdogmatisch bedenklich trat Bauer dafür ein, daß eine Aufteilung der Vernichtungsaktionen in ihre einzelnen Tatbeiträge nicht durchzuführen sei, sondern allen an den Morden beteiligten Tätern die Gesamtzahl der Opfer zuzurechnen seien. (S. 204) Der Lokführer des Deportationszuges mache sich nach dieser Auffassung ebenso wie der Schreibtischtäter in Berlin der Mitwirkung an den Verbrechen schuldig, unabhängig davon, ob er selbst getötet hätte oder nicht. (S. 205)

 

Bauer kritisierte die weitgehende personelle Kontinuität der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz und setzte sich – freilich ohne Erfolg - für die Entfernung besonders belasteter Juristen aus der Justiz ein. (S. 246ff.) Er prangerte die Juristen an, die bei ihrer Entnazifizierung behaupteten, sie seien gegen den Nationalsozialismus gewesen, und sich bei der Anklage wegen exzessiver Todesurteile damit verteidigten, sie hätten nur nach ihrem Gewissen gehandelt. (S. 235)

 

Angesichts seiner eindeutigen Haltung zum Nationalsozialismus wurde Bauer „für Deutschlands Rechte ein Objekt fanatischen Hasses“. Die heftigen Anfeindungen ließen ihn daher wiederholt mit dem Gedanken spielen, erneut zu emigrieren und nach Dänemark zurückzukehren. Die Lebensumstände der letzten Jahre, die Isolation und die wiederholten Morddrohungen erzeugten eine Resignation, die Bauer die Sinnhaftigkeit seines Tuns immer stärker in Zweifel ziehen ließ.

 

In der Rückschau ist Meusch zuzustimmen, daß Bauers Tätigkeit als hessischer Generalstaatsanwalt zu den Höhepunkten der hessischen und bundesrepublikanischen Justizgeschichte zu rechnen ist. (S. 382)

 

Meusch ist es mit dieser Untersuchung nicht nur gelungen, den facettenreichen Kampf Bauers gegen eine unbelehrbare und abwehrbereite Nachkriegsjustiz überzeugend darzustellen, sondern zugleich wesentliche Fragen von der mißglückten Entnazifizierung der Justiz bis zur Rehabilitierung des deutschen Widerstandes präzise zusammenzufassen. Dabei spiegeln die Erkenntnisse und Wertungen den Stand der rechtshistorischen Forschung wieder. Das eigentliche Verdienst des sorgfältig recherchierten Werkes liegt darin, daß mit Werk und Wirken Fritz Bauers ein wichtiger Beitrag bundesdeutscher Justizgeschichte dem Schicksal des Vergessens entrissen wurde. Die zentralen Werte Bauers, Humanismus, Liberalismus und Demokratie haben in ihrer Bedeutung nichts an Aktualität eingebüßt. Sie werden auch in Zukunft nicht ohne persönlichen Einsatz nachfolgender Juristengenerationen zu bewahren sein.

 

Berlin                                                                                                                         Fred G. Bär