Longerich,
Peter, Die Sportpalastrede 1943. Goebbels und der „totale Krieg“. Siedler,
München 2023. 206 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Im
November 1942 sah sich das Deutsche Reich mit krisenhaften Entwicklungen an den
Fronten konfrontiert, die in der Rückschau als markante Wendepunkte im Verlauf
des Zweiten Weltkrieges identifiziert wurden: Während in Afrika den Amerikanern
und Briten die Landung im Rücken der Achsenstreitmacht gelang, wurde im Osten
die 6. Armee bei Stalingrad eingekesselt (und kapitulierte Ende Januar/Anfang
Februar 1943). Es ergab sich somit das Problem, die deutsche Bevölkerung, die
man mit optimistischen Meldungen lange über das Ausmaß der sich in Stalingrad
abzeichnenden Katastrophe hinweggetäuscht hatte, so mit der Realität zu
konfrontieren, dass sie nicht in Depression verfiel und das Vertrauen in die
nationalsozialistische Führung verlor, sondern stattdessen auf den Ernst der
Lage mit zusätzlicher Motivation und verstärkten Anstrengungen für einen
erfolgreichen Kriegsausgang reagierte. Diesem Zweck diente die (zeitverzögert)
im Rundfunk ausgestrahlte, mit gekonnter rhetorischer Raffinesse vorgetragene
Sportpalastrede des Propagandaministers Dr. Joseph Goebbels vom 18. Februar
1943, in der er sich von einem ausgewählten, hoch emotionalisierten Publikum
seine Vorstellungen von dem nunmehr einzuleitenden „totalen Krieg“ akklamieren
ließ. Der prominente Historiker Peter Longerich – ein ausgewiesener Experte zum
Thema Antisemitismus und unter anderem nicht nur Biograph von Goebbels (2010),
sondern auch Heinrich Himmlers (2008) und Adolf Hitlers (2015) – präsentiert
hier den Text der in der Vergangenheit wissenschaftlich und medial bereits
vielfach rezipierten Rede mitsamt der Spontanreaktionen des Publikums nach der
ausgestrahlten Tonaufzeichnung (zeitgenössische, im Druck erschienene Fassungen
weisen bereits glättende Veränderungen auf), versieht ihn mit einem Kommentar
und bettet den Auftritt und seine Folgewirkungen in den relevanten historischen
Kontext ein.
Wie
schon in der genannten Biographie, charakterisiert Peter Longerich den
Propagandaminister als eine zutiefst narzisstische Persönlichkeit, die in
Hitler ihren endgültigen Bezugspunkt gefunden hatte und von dessen
Aufmerksamkeit und Zuwendung stark abhängig war. Diese Fixierung habe ihn naturgemäß
in Konflikte mit anderen Größen der nationalsozialistischen Herrschaft
gebracht, die ebenfalls um die Gunst des „Führers“ buhlten. Goebbels habe sich,
wie seine von Longerich sorgfältig studierten Tagebucheintragungen erkennen
lassen, bereits im Sommer 1942 im Hinblick auf den Gang der Kriegsereignisse
vorsichtig gegen einen übertriebenen Optimismus oder gar Illusionismus
ausgesprochen und dann mit der sukzessiven Verschlechterung der Lage an den
Fronten zunehmend eine Verschärfung der Gangart in der Heimat angemahnt. Sein
Projekt einer „Totalisierung“ des Krieges zielte auf „die Einführung der
Arbeitsdienstpflicht für Frauen, die Einstellung der nicht kriegswichtigen
Industrien sowie die Stilllegung von teuren Lokalen und Luxusgeschäften“ (S. 39).
Als Hitler am 13. Januar 1943 einen Führererlass über den umfassenden Einsatz
von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung unterzeichnete, kam
dieser zwar den Vorstellungen des Propagandaministers entgegen, doch war
Goebbels enttäuscht, nicht dem von Hitler zur Durchführung dieser Aufgaben
eingesetzten „Dreierausschuss“ (Chef der Reichskanzlei Lammers, Leiter der
Partei-Kanzlei Bormann, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Keitel)
unmittelbar anzugehören. Erst anderthalb Jahre später, nach dem gescheiterten
Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, sah sich Goebbels als nunmehr
„Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ am Ziel seiner
Ambitionen – wenn auch de facto mit einschränkten Kompetenzen gegenüber den
Obersten Reichsbehörden und (noch) ohne Zugriff „auf die Bereiche Militär,
Partei und Rüstung“ (S. 175). Er habe letztendlich in seiner Funktion „in
erheblichem Maße“ dazu beigetragen, „dass in der finalen Kriegsphase noch
Hunderttausende oberflächlich ausgebildete und unzureichend bewaffnete deutsche
Männer an die […] Fronten geschickt wurden, wo ein hoher Prozentsatz von ihnen
ums Leben kam“ (S. 179).
Der
gegenständlichen Sportpalastrede war am 30. Januar 1943 anlässlich des zehnten
Jahrestages der Machtergreifung am selben Ort bereits eine „Generalprobe“
vorausgegangen, wobei der Propagandaminister seine zentralen Überlegungen im
Kern vorgetragen und deren Resonanz beim Publikum erfolgreich getestet hatte.
Die Edition ist so gestaltet, dass jeweils auf der vom Leser aus gesehen linken
Buchseite der (insgesamt in 25 Abschnitte untergliederte, kursiv gedruckte)
Redetext inklusive der (in Klammer gesetzten) Publikumsreaktionen (darunter
auch „Rufe: ‚Aufhängen!‘“) zu finden ist, auf der rechten Buchseite die
zugehörigen Anmerkungen. Letztere enthalten diverse interpretatorische Hinweise
und ergänzende Informationen, bisweilen aber auch nur eine Rekapitulation des
bereits vom Redetext dargebotenen Inhalts. Formal bestehe die Rede aus „drei
Teilen: […] einer allgemeinen Einleitung, in der Goebbels seinen Zuhörern den
Ernst der Lage vor Augen führt, verbunden mit der Versicherung, diese Lage
wahrhaftig darzustellen, und schließlich […] die Entschlossenheit zum Handeln
ableitet. Zweitens, im Hauptteil der Rede, stellt er […] drei Thesen auf, die
er sodann ausführlich begründet. Im dritten Teil folgen dann als Höhepunkt und
Abschluss die zehn Fragen, die das Publikum mit rasender Zustimmung
beantwortet“. Inhaltlich argumentiere „Goebbels im Kern, dass der Kampf gegen
die tödliche Bedrohung durch den Bolschewismus […] weitaus größere Opfer
erfordere, als sie bislang gebracht worden seien, nämlich den ‚totalen Krieg‘.
Das Volk – repräsentiert durch das Publikum im Saal – sei nicht nur bereit,
diese Opfer auf sich zu nehmen, sondern fordere sie sogar ein. Damit stellt die
Rede gleichsam ein Plebiszit für den ‚totalen Krieg‘ dar“ (S. 68). Sowohl durch
ihre klassenkämpferischen Akzente – mehrfach wird der Neid auf besser gestellte
Volksgenossen angefacht, die sich angeblich immer noch ihren kriegsnotwendigen
Pflichten entzögen – und mehr noch durch ihren expliziten eliminatorischen
Antisemitismus – Deutschland habe die Absicht, der „jüdischen Bedrohung […]
rechtzeitig und wenn nötig unter vollkommener und radikalster Ausrott-, Ausschaltung des Judentums entgegenzutreten“ (S.
90) – fällt die Ansprache auf. Laut Kommentar setze sie „die Linie fort, die
Hitler und andere führende NS-Politiker bereits seit Längerem verfolgten,
nämlich durch gezielte Signale die im Umlauf befindlichen Gerüchte über die Ermordung
der Juden Europas zu bestätigen, ohne jedoch Einzelheiten des Mordprogramms
preiszugeben“ (S. 93).
Interessant
sind die nachfolgenden Ausführungen zum divergenten Echo dieser Rede. Goebbels
selbst gibt sich in seinen Tagebüchern betont euphorisch, die Rede sei „eine
Sensation erster Klasse und nimmt die Schlagzeilen und die ersten Seiten wohl
sämtlicher Zeitungen in der Welt für sich in Anspruch“ (S. 144). Anhand
verschiedener Beispiele der zeitgenössischen Auslandspresse kann der Verfasser
zeigen, dass diese Einschätzung keineswegs der Realität entsprach und dort
überwiegend „die überdeutliche Loyalitätskundgebung für Hitler als
propagandistisches Manöver und damit als deutliches Anzeichen für ein Schwinden
des Vertrauens in die Führung gelesen“ worden sei (S. 150). Selbst im Reich
erfuhr die Rede, wie diverse Stimmungsberichte und private Notizen erkennen
lassen, keine einheitlich positive Rezeption. Der Präsident des
Oberlandesgerichts Bamberg hielt für seinen Bereich fest: „Insbesondere wurde der
Schluß der Rede (Frage und Antwort) fast allgemein
abgelehnt“, und sein Zweibrückener Amtskollege warnte
vor dem „Klassenhaß“, der, einmal entfesselt, „sich
einmal nach einer ganz anderen Richtung wenden“ könne (S. 155f.). Diese gerade
im Krieg besonders fatale Gefahr einer Spaltung der Volksgemeinschaft dürfte
der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass sich Goebbels gegenüber anderen
Funktionären und vor allem auch bei Hitler mit seinen allzu radikal anmutenden
Forderungen einer Totalisierung des Krieges lange nicht durchzusetzen
vermochte.
Die
Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 stellt nichtsdestotrotz sowohl inhaltlich
als auch in ihrer Inszenierung ein herausragendes Lehrbeispiel für die
politische Propaganda des nationalsozialistischen Staates in einer kritischen
Phase des Zweiten Weltkriegs dar. Dass Peter Longerich der interessierten
Öffentlichkeit nun eine kommentierte und kontextualisierte Edition dieser
vielleicht prominentesten Ansprache der NS-Zeit in einer kompakten Ausgabe zur
Verfügung stellt, ist zu begrüßen, zumal der Band auch durch seine – heute
nicht mehr selbstverständliche – formale
Sorgfalt besticht.
Kapfenberg Werner
Augustinovic