Kershaw, Ian, Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, aus dem Englischen von Schmidt, Klaus-Dieter. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022. 589 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

 Drei Jahre nach der Fertigstellung seiner zweibändigen Geschichte Europas im 20. Jahrhundert,  „Höllensturz“ (2016) und „Achterbahn“ (2019), legt Hitler-Biograph Ian Kershaw nun ein weiteres Werk vor, das sich mit dem Wesen politischer Führerschaft und insbesondere mit den folgenden Fragen auseinandersetzt: „Es gibt politische Führer, Demokraten wie Diktatoren, jeweils ausgestattet mit einer markanten Persönlichkeit, die augenscheinlich tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen. Aber was bringt starke Persönlichkeiten an die Macht? Und was fördert oder beschränkt ihre Machtausübung? Welche sozialen und politischen Bedingungen bestimmen die Art der Macht, die sie verkörpern, was entscheidet, ob demokratische oder autoritäre Führer zum Zug kommen? Wie wichtig ist die Persönlichkeit selbst sowohl bei der Erlangung der Macht als auch bei deren Ausübung?“ (S. 11).

 

Anhand einer „Reihe von interpretativen Essays über die Erlangung und Ausübung von Macht“ widmet sich der Verfasser zwölf namhaften historischen Persönlichkeiten – elf Männern und einer Frau –, welche die politische Landschaft Europas im letzten Jahrhundert maßgeblich geformt haben. Es gehe dabei ausdrücklich nicht um „Mini-Biographien“ oder um „Primärforschung“, sondern die Abschnitte würden „alle dem gleichen Muster“ folgen: „Zuerst betrachte ich die Charakterzüge und Umstände, die einen bestimmten Persönlichkeitstyp mit dem Potential ausstatteten, als Führer die Macht zu ergreifen. Danach untersuche ich ausgewählte Aspekte ihrer Ausübung und der Strukturen, die dies ermöglichten. Die Kapitel schließen jeweils mit einer Betrachtung über die Hinterlassenschaft des behandelten politischen Führers“ (S. 12f.). Betrachtet werden auf diese Weise in der Reihenfolge ihres Auftretens: Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, de Gaulle, Adenauer, Franco, Tito, Thatcher, Gorbatschow und Kohl, somit sechs Diktatoren, fünf demokratische Führer und mit Gorbatschow ein Mann des Übergangs. Vier dieser Persönlichkeiten, nämlich Lenin, Adenauer, Thatcher und Gorbatschow, haben ein juristisches Studium abgeschlossen, das beispielsweise Margaret Thatcher dazu befähigt habe, ihre politischen Anliegen mittels „der gerichtlichen Verhörtechnik einer ausgebildeten Rechtsanwältin“ bei ihren weniger eloquenten Kabinettskollegen durchzusetzen (S. 399).

 

Die Frage nach den konstituierenden Elementen von Führerschaft knüpft naturgemäß an das grundsätzliche Problem des Stellenwerts der Einzelpersönlichkeit im geschichtlichen Prozess an, wie es im Gegensatz zwischen der intentionalistisch geprägten biographischen Historiographie und ihrem Widerpart, dem Determinismus der Strukturgeschichte, lange Zeit seinen Ausdruck gefunden hat. Die heute in der deutschen Zeitgeschichtsforschung wieder allgegenwärtige Zuwendung zur Biographie lässt erkennen, dass ausschließlich strukturgeschichtlich angelegte Modelle nicht geeignet sind, die Komplexität des historischen Wandels hinreichend zu erfassen. In seiner Einleitung, in der Ian Kershaw auf diese Basisdebatte Bezug nimmt, weist er den Begriff der historischen Größe mit Recht zurück, da er „unklar“ und zudem „für wechselnde Werte offen sei“, und anerkennt Max Webers Charisma-Konzept einmal mehr (schon Kershaws Hitler-Biographie stützt sich in ihrem Kern auf die von Weber dargelegte These der Interaktion zwischen einem Führer und seiner Gefolgschaft) als „nützlich“ (S. 22f.). Alle ausgewählten Persönlichkeiten hätten als Staats- und Regierungschefs „unbestreitbar den Gang der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert tiefgreifend beeinflusst, die meisten von ihnen in einer Krisenzeit für ihr Land“ (S. 31). Die Fallstudien werden zur Überprüfung von sieben eingangs vom Verfasser formulierten Annahmen herangezogen (größte Wirkung von Einzelnen bei politischer Unruhe; einfache Ziele und ideologische Unnachgiebigkeit bringen Anhänger; Machtübernahme und erste Konsolidierungsphase bedingen das Ausmaß persönlicher Macht; Machtkonzentration vergrößert das Wirkpotential; Zwänge der Militärmacht in Kriegszeiten; Macht und Handlungsspielraum von institutioneller Basis und starken Unterstützern abhängig; demokratische Regierungsform legt der Handlungsfreiheit engste Zügel an), die er in seiner Schlussbetrachtung auswertet.

 

Auf die jeweiligen, gut lesbaren Darstellungen zu sämtlichen Persönlichkeiten, die allesamt nach Ausweis der Bibliographie bereits das Interesse wissenschaftlicher Biographen gefunden haben, auf deren ausführlichere Informationen sich die aktuelle Studie stützt, soll und kann an dieser Stelle nicht umfassend eingegangen werden. Herausgegriffen sei stattdessen exemplarisch die Darstellung Hitlers, weil hier zweifellos der Verfasser auf der Grundlage eigener Forschungen über herausragende Expertise verfügt. Der Führer des nationalsozialistischen Deutschland hat zudem durch sein Handeln „mehr als jeder andere“ (S. 152) die verheerende erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Anhand einzelner Feststellungen Ian Kershaws über den Werdegang des Diktators wird das ganze Konglomerat von Persönlichkeit, Helfern, strukturellen Bedingungen und sich öffnenden Gelegenheiten aufgezeigt, wie es in nuce das Wirken jeglichen Akteurs kennzeichnet, der in der Geschichte Macht ausübt und diese gestalterisch nachhaltig einsetzt. Eine Reihe von Zitaten spricht dies  unmissverständlich aus: „Hitlers Persönlichkeit muss bei jedem Antwortversuch [auf Fragen zu seinem Umgang mit der Macht; W. A.] berücksichtigt werden. Aber sie kann nicht die ganze Antwort sein“ (S. 118f.). „Ohne die schmerzlichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Deutschland wäre Hitler ein politischer Niemand geblieben“ (S. 125). „Wenn 1930 nicht die Weltwirtschaftskrise eingesetzt hätte, wären Deutschland Hitlers Diktatur und alles, was folgte, erspart geblieben. […] Seine Lebensluft war die Krise“ (S. 127). „Der Weg an die Macht lag jedoch noch [bis 1930; W. A.] völlig im Nebel“ (S. 128). „Ohne die Bereitschaft des politischen Establishments, ihm zu geben, was er wollte, hätte er vermutlich mit leeren Händen dagestanden. Deutschlands nationalkonservative herrschende Schicht half zwischen 1930 und 1933, ihr eigenes Grab zu schaufeln“ (S. 130). „In inneren Angelegenheiten musste Hitler wenig tun, um die Dynamik des Regimes voranzutreiben. […] Radikale auf allen Ebenen des Regimes waren unausgesprochen aufgefordert, in Vorwegnahme von Hitlers vermutlichen Wünschen zu handeln“ (S. 135). „Hitler war keineswegs ein passiver Diktator. Hatten die von der NS-Herrschaft verursachten Spannungen einen kritischen Punkt erreicht, griff er ein, um die Situation zu bereinigen“ (S. 137). „Dass Hitler das letzte Wort hatte, war in der Außenpolitik am offensichtlichsten“ (S. 138). „Tatsächlich war der ökonomische, militärische und diplomatische Druck derart angewachsen, dass die Kriegsdynamik unaufhaltsam war. Aber Hitlers Persönlichkeit war ein Faktor in der Rechnung. Ihn dürstete förmlich nach Krieg“ (S. 140). „Hitler trägt die Gesamtverantwortung für den Holocaust […]. Aber er war auch direkt beteiligt. Er genehmigte, autorisierte, billigte und legitimierte, was seine Untergebenen taten“ (S. 145). Er habe gewaltige materielle Verwüstungen hinterlassen, vor allem aber auch eine moralische: „Der Abstieg Deutschlands innerhalb weniger Jahre von einer kultivierten, zivilisierten, demokratischen Gesellschaft zu einem Land, das zu unvorstellbarer Unmenschlichkeit bereit war, war derart tief, dass die bleibende Hinterlassenschaft mehr als nur Unverständnis ist, nämlich vielmehr ein Trauma, das nicht nur die gesamte Nation, sondern auch den ganzen Kontinent erfasst hat. […] Der von Hitler verursachte moralische Schandfleck war schwerer zu beseitigen als die physischen Ruinen“ (S. 149ff.). Weltweit sei Hitler, der „nichts Konstruktives“ hinterlassen habe, nun „zu einem Synonym für Rassenhass, extreme nationalistische Aggression, den Versuch, die Herrschaft einer Herrenrasse zu errichten, und unbeschreibliche Unmenschlichkeit geworden“ (S. 149f.). Was für ein Gegensatz etwa zu Michail Gorbatschow, dem Mann des Wandels, von dem, so der Verfasser, „mit Bestimmtheit gesagt werden (kann), dass ein Einzelner die Geschichte verändert hat – und zwar zum Besseren“ (S. 467).

 

In der Schlussbetrachtung überprüft Ian Kershaw, inwieweit sich seine sieben Thesen als tragfähig erweisen. Es zeige sich, dass die ersten vier Annahmen bei Diktatoren offensichtlich vorrangig zutreffen, weniger oder gar nicht bei den demokratischen Führern. Für die verbleibenden drei Aussagen sei keine dermaßen strikte, dem politischen System zuzuordnende Trennung wahrnehmbar. Diese Ergebnisse überraschen nicht und waren so zu erwarten. Ein Ausblick in das weitere 21. Jahrhundert gebe Anlass zur Annahme, „dass diese Zukunft nicht nur von den Handlungen politischer Führer geprägt sein wird, sondern auch von langfristigen sozioökonomischen und kulturellen Strömungen und Verwirbelungen sowie der globalen Sorge über die Folgen des Klimawandels. Zudem werden unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die nicht einmal der mächtigste Führer kontrollieren kann. Gleichwohl wird die Persönlichkeit politischer Führer […] im Rahmen der Bedingungen ihrer Machteroberung und Machtausübung durch von ihnen getroffene Entscheidungen das Leben von Millionen Menschen beeinflussen“ (S. 537). Wladimir Putins aktueller Angriffskrieg in der Ukraine bestätigt, wie sehr Letzteres bereits wieder zur traurigen Realität geworden ist.

 

Fragt man nach dem innovativen heuristischen Ertrag der zweifellos sehr lesenswerten, ordentlich recherchierten und auf den Punkt gebrachten Ausführungen, so führt dieser nach Ansicht des Rezensenten aber nicht wirklich über den aktuellen Erkenntnisstand hinaus. Die einzelnen Skizzen machen einmal mehr nur deutlich, dass die jeweiligen Persönlichkeiten in ihrer Wirksamkeit an jeweils singuläre historische Konstellationen gebunden waren, die ihren Aufstieg sowie den Ausbau ihrer Macht begünstigten und möglich machten. Dass die Diktatur andere Möglichkeiten der Machterweiterung bietet als die liberale Demokratie, liegt auf der Hand, und ebenso, dass unabhängig vom jeweiligen Herrschaftssystem generell nur Persönlichkeiten, die über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit (man könnte auch von einem autoritären Charakterzug sprechen) und einen überdurchschnittlichen politischen Instinkt verfügen, eine Chance haben, die sich ihnen bietenden Möglichkeiten auch zu erkennen und gestalterisch optimal zu nutzen. Das tun sie dann im Rahmen ihrer Fähigkeiten und der Räume, die ihnen das jeweilige politische System bietet. Darüber hinaus scheint es aber kaum möglich, weitergehende, allgemein verbindliche und übergreifend geltende Aussagen zur Genese persönlicher politischer Macht festzuschreiben, zu unterschiedlich präsentieren sich die jeweiligen biographischen, gesellschaftspolitischen und allgemeinhistorischen Kontexte. Das weiß selbstverständlich auch der Verfasser, wenn er schon eingangs feststellt: „Die Bedingungen, unter denen ein bestimmter Persönlichkeitstyp als politischer Führer erfolgreich sein kann, variieren derart, dass Verallgemeinerungen schwerfallen. […] Die Umstände bestimmen weitgehend die Wirkung eines bestimmten Persönlichkeitstyps“ (S. 27).

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic