Strafrecht in der alten Bundesrepublik 1949 – 1990 – Grundlagen, Allgemeiner Teil und Rechtsfolgenseite im zeitgeschichtlichen Spiegel von Gesellschaft und Politik, hg. v. Steinberg, Georg/Koch, Arnd/Popp, Andreas (= Grundlagen des Strafrechts. 8). Nomos, Baden-Baden 2020. 612 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.

 

Nach der Wiedervereinigung, spätestens nach dem Umzug der wichtigsten Verfassungsorgane nach Berlin, fand die Bezeichnung „Berliner Republik“ – gemeint als Nachfolgerin der „Bonner Republik“ – Verbreitung. Diese politisch induzierte Begrifflichkeit erfasst den Sachverhalt nur unvollständig, denn sie blendet offenkundige Kontinuitäten wie die Fortgeltung des Grundgesetzes und den „Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik aus. Passender erscheint daher die von den Herausgebern des zu besprechenden Bandes verwendete Bezeichnung „alte Bundesrepublik“ für das westdeutsche Staatswesen der Zeit von 1949 bis 1990, denn sie bringt das Nebeneinander von Kontinuitäten und Brüchen angemessen zum Ausdruck.

 

Die Kontinuitäts-Elemente bewirken, dass auch ein zeitlich eingegrenztes Unternehmen wie das hier vorgestellte nicht umhinkommt, die „Zerfaserung“ der Ränder des erfassten Zeitraums zu berücksichtigen. Die Mehrzahl der 18 Autoren und 2 Autorinnen des aus zwei Tagungen an der Universität Potsdam hervorgegangenen Bandes versagt sich daher auch nicht einen Rück- und/oder Ausblick über die thematisch vorgegebenen Grenzen hinaus; ein Beitrag befasst sich ausschließlich mit der Zeit von 1945 bis 1949.

 

Die Herausgeber stellen in einem kurzen Vorwort den Band in den Zusammenhang zeitgeschichtlicher Forschung. Als zeitlichen Gegenstand der Zeitgeschichte übernehmen sie die bekannte Definition von Rothfels – „Epoche der Mitlebenden“ – und damit die engste vertretene Auffassung, was letztlich nicht relevant ist, da ja der Zeitraum von 1949 bis 1990 nach allen Ansichten Teil der (juristischen) Zeitgeschichte ist. Die umfassende Berücksichtigung methodischer Besonderheiten der Zeitgeschichte wurde den Autoren bewusst nicht abverlangt, was im Ergebnis, da für juristische Zeitgeschichte Texte im Vordergrund stehen, vertretbar erscheint, abseits des besprochenen Bandes allerdings weitergehende Fragen (auch an den Rezensenten selbst) aufwirft[1]. Allerdings haben die Herausgeber den Autoren, die überwiegend nicht mehr der Erlebnisgeneration angehören, mitgegeben, „keine isolierten Dogmengeschichten, sondern zugleich die Interaktionen der Strafrechtswissenschaft, -praxis, -politik sowie gesellschaftlicher Veränderungen nachzuzeichnen“ (8). Dass dieses Petitum nicht von allen gleichermaßen umgesetzt werden konnte, ist themenbedingt. Insgesamt gewinnt der Band damit aber experimentellen Charakter, was seine Lektüre – zumal die Beiträge durchweg eine inzwischen nicht mehr selbstverständliche sprachliche Qualität aufweisen – angenehm, mitunter spannend macht.

 

Thematisch behandeln die Beiträge eine breite Skala nicht nur strafrechtssystematischer Probleme des Allgemeinen Teils und der Sanktionsfolgen, sondern auch Probleme der Kriminalstatistik, der Kriminologie und schließlich auch der Strafrechtsgeschichte selbst – insgesamt also ein breit angelegtes Exemplum einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“, das auch den stolzen Umfang des Buches erklärt.

 

Eric Hilgendorf behandelt Aspekte des „Wissenschafts- und Lehrbetriebs im Strafrecht 1945/49 bis 1989/1990“ (15ff.). Nach einem kurzen Rückblick auf die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und ihre Beeinflussung durch das NS-Rechtsdenken folgt ein Blick auf die „skeptische“ Studentengeneration und ein solcher auf die Professorenschaft, die zum großen Teil unbeschadet den politischen Systemwechsel überstanden hatte und sich zu ihrem Teil an der „Beschweigung“ der Vergangenheit beteiligte, indem sie sich „auf Dogmatik, politikferne Grundlagenforschung und unkonkretes Naturrecht [fokussierte]“ (38). Erst in den 60er Jahren erfolgte ein methodischer Neuaufbruch, der mit der beginnenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und mit institutionellen Reformbestrebungen einherging. Alles in allem konstatiert der Autor für die Zeit zwischen 1949 und 1990 bei allen Änderungen eine „bemerkenswerte Kontinuität“, die er vor allem in der nach wie vor im Vordergrund stehenden Befassung mit der „Dogmatik“ erblickt (51).

 

Mark Leonard Schoch befasst sich mit der „personellen Zusammensetzung der Justiz und der Anwaltschaft in der Bonner Republik“. Sein breit angelegter soziologischer Ansatz schlägt sich im Umfang des Beitrages, dem weitaus längsten des Bandes (55-136), nieder. Die soziale Herkunft der Studierenden, die Verteilung von Studenten und Studentinnen und ihr finanzieller Hintergrund zeigen Besonderheiten beim Jura-Studium auf, besonders signifikant die statistisch weit überrepräsentierte Herkunft aus Juristenfamilien („Berufsvererbung“, 69) – Merkmale, die sich dann konsequent in den juristischen Berufen fortsetzen. Die hervorstechendste Änderung immerhin ist der stetig steigende Anteil von Frauen in der Justiz (79). Angesichts der Überrepräsentation von Personen mit Herkunft aus der oberen Mittelschicht in der Richterschaft einerseits und (nicht belegbarer, aber wahrscheinlicher) von Angehörigen der Unterschicht unter den Verurteilten stellt sich immer wieder das Problem der Klassenjustiz (84f.). Ein besonderes Kapitel ist der Entnazifizierung der Justiz gewidmet (89ff.). Bekanntlich kann von einer solchen nur sehr bedingt die Rede sein; Schoch listet acht Faktoren für „Hindernisse für die eigentlich geplante Aussortierung einschlägiger Juristen“ (99) auf. Weitere Abschnitte befassen sich mit der Staatsanwaltschaft – wo die Entwicklungen im Wesentlichen mit denen in der Richterschaft vergleichbar sind (113ff.) – sowie mit der Anwaltschaft. Mit Recht skeptisch sieht der Verfasser die Charakterisierung des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ (125). Kennzeichnend für die Entwicklung sind das Wachstum der Anwaltschaft, die Konzentration der Kanzleien und die schleppende, gegen Ende aber sich beschleunigende Zunahme des Frauenanteils.

 

Mit der „Kriminalität in der alten Bundesrepublik“ befasst sich der Beitrag von Ralf Kölbel (137ff.). Er zeichnet – auch unter Einbeziehung der Zeit von 1945 bis 1949 – ein von zahlreichen Tabellen unterstütztes Entwicklungsbild, das auch die wechselnden Schwerpunkte in der deliktsbezogenen, regionalen, schichtenspezifischen und geschlechtsbezogenen Verteilung sowie die Zunahme der frühprozessualen Erledigungsformen sichtbar macht. Die deliktsbezogene Entwicklung sieht er geprägt durch die Auswirkungen eines „desintegrativen Individualismus“ (164). Zu den zahlreichen ungeklärten Problemen gehört freilich auch, dass sich diese Entwicklung nach 1990 im Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland nicht, wie zu erwarten war, fortgesetzt hat.

 

Die folgenden Beiträge befassen sich mit Institutionen des Allgemeinen Teils des Strafrechts. Am Anfang steht ein Beitrag Sönke Gerholds, der „Strafrechtsdogmatik und Strafrechtswissenschaft in der Übergangszeit von 1945 bis 1949“ behandelt. Das charakteristische Merkmal der Veröffentlichungen erblickt er in der Verteidigung von Rechtsnormen und von Lehrsätzen aus der NS-Zeit. Diese These belegt er in einer überzeugend gegliederten Analyse an der „Verteidigung von Personen und Institutionen im engen Sinne“ (177ff.: Vergangenheit natürlicher Personen; Vergangenheit staatlicher Einrichtungen, insbesondere von Gerichten), der „Verteidigung von Personen im weiten Sinne“ (184ff.: Verwendung von dogmatischen Auffassungen, die zur Entlastung von Angeklagten in NS-Strafprozessen führten, z. B. von Schuldtheorie und Verbotsirrtum), der „Verteidigung von Rechtsnormen“ (189ff., z. B. Sicherungsverwahrung, Mordtatbestand, Nötigung und Erpressung) und der Verteidigung von Lehrsätzen (extensive Auslegung beim Gewaltbegriff und beim Sachbeschädigungsbegriff; Systematik der Tötungsdelikte, Einordnung der Gesinnungsmerkmale). Die kritische Bilanz des Beitrages: „Es wurde – von Ausnahmen abgesehen – der status quo mit zum Teil waghalsigen Thesen und unbelegten Behauptungen zu verteidigen versucht. […] Der Grundstein für die Übertragung dem Tatstrafrechtssystem fremder Erwägungen in das heutige Recht ist […] bereits in den Übergangsjahren gelegt worden“ (211 f.).

 

Den Umgang mit Art. 103 Abs. 2 GG behandelt Benno Zabel (213ff.). Nach einer weit ausholenden Standortbestimmung des Gesetzlichkeitsprinzips zwischen Recht und Politik und einer Analyse der Multifunktionalität dieses Prinzips geht er auf dessen Handhabung in der Praxis ein und konstatiert die zunehmende Unbestimmtheit der Strafgesetze und die vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Auffassung, eine gefestigte Auslegung durch die Rechtsprechung könne unbestimmte Strafnormen verfassungsrechtlich sanieren. Bei aller Bereitschaft, die Dilemmata der Praxis anzuerkennen, macht der Verfasser anhand zahlreicher Beispiele deutlich, „wie prekär der Status des Strafgesetzlichkeitsprinzips ist“ (244).

 

Mit der Handlungs- und Tatbestandslehre in der Strafrechtswissenschaft befasst sich Stephan Ast. Themenbedingt handelt es sich um eine vor allem dogmengeschichtliche Betrachtung, doch lässt sie die kriminalpolitische Entwicklung durchscheinen, wenn im Zusammenhang mit der konkreten Rezeption der Unterscheidung von Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht der Letztere seine „systematische Einbindung in der Handlungslehre [verliert] und […] als sekundär [erscheint]“. Die daraus folgende „Fixierung auf die Gefährdung korreliert […] mit der Ausweitung des Strafrechts im Rahmen von dessen Präventionsorientierung“ (261). Ebenfalls auf abstrakterer Ebene stellt der Beitrag von Georg Steinberg und Fabian Stamm, der sich mit der Zurechnungsdogmatik anhand der Frage der freiwilligen Selbstgefährdung befasst, die Zusammenhänge mit historischen Entwicklungen her. Die Autoren weisen anhand eingehender Untersuchung der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Teilnahme an der Selbsttötung nach, wie diese Rechtsprechung angesichts einer „Totalverweigerung“ des Gesetzgebers „den Bürger im Unklaren darüber [gelassen hat], was er darf“; man könne dies – so die Verfasser – „als eine Form des Paternalismus beschreiben“ (293). Der Bürger sei daher „gut beraten“ gewesen, „auch das zu unterlassen, was möglicherweise erlaubt war“ (294).

 

Die Rechtfertigungsgründe behandelt Uwe Hellmann (295ff.), der eine „weitgehende Konstanz des Rechts der alten und der neuen Bundesrepublik“ feststellt (311)[2]. Yao Li untersucht die dogmatische Entwicklung des Schuldbegriffs (313ff.), geht dazu (sachgerecht) weit zurück und verfolgt sodann die Entwicklung vom psychologischen zum normativen Schuldbegriff in ihren einzelnen dogmatischen Konsequenzen. Treffend ist die Aussage, dass das Verständnis des Vorsatzes als Tatbestandselement, das „durch die finale Handlungslehre [gefordert wurde,] […] sich dann von ihr unabhängig machte“ (317). In seinem Resümee beklagt der Verfasser, dass die Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips für den Allgemeinen Teil des Strafrechts in der Wissenschaft nicht hinreichend erkannt worden sei, und weist als Beispiel auf den „verfassungswidrigen Umgang mit der actio libera in causa“ zu Lasten des Täters hin (352, auch bereits 324ff.).

 

Direkt in den rechtspolitischen und zeitgeschichtlichen Kontext dogmatischer Positionen führt der Beitrag Sascha Ziemanns, der sich mit den Auswirkungen der Verbotsirrtums-Lehre anhand der Frankfurter Euthanasie-Prozesse befasst (353ff.). Die Anerkennung der vor allem von Welzel forcierten Schuldtheorie durch BGHSt 2, 194 gewinnt mögliche politische Relevanz, wenn man sie exemplarisch vor dem Hintergrund der „Euthanasie“-Prozesse betrachtet, die ihrerseits repräsentativ für „die gesamte Geschichte der Bundesrepublik“ sind, denn die Verbotsirrtumslehre „spielte in den ‘Euthanasie’-Prozessen von Anfang an eine herausgehobene Rolle“ (373). Dass die Rechtsprechung gegenüber den angeklagten Ärzten in den 50er Jahren unter Anwendung der Verbotsirrtumslehre zusehends milder wurde, liegt möglicherweise auch daran, dass inzwischen in großem Umfang wieder NS-belastete Richter in die Justiz zurückgekehrt waren (374).

 

Anette Grünewald befasst sich mit den Unterlassungsdelikten (375ff.); nach einer eingehenden Darstellung der Gesetzgebungsgeschichte bis zur Einführung des § 13 StGB und den Diskussionen um die Begründung von Garantenpflichten erörtert die Verfasserin die „gesellschaftspolitischen Einflüsse auf die Garantenpflichtbegründung“. Solche sieht sie zwar nicht in der gesetzlichen Regelung, wohl aber in Rechtsprechung und Lehre. Ihr Fazit, das jeder Strafrechtler bestätigen wird: „Das unechte Unterlassungsdelikt [hat] immer weitere Lebensbereiche erobert“ (394). Damit ist es das Abbild einer allgemeinen Expansion des Strafrechts. – Ganz ähnlich ist das Fazit des Beitrages von Till Zimmermann zu Versuch und Rücktritt vom Versuch (397ff.). Er konstatiert eine „beständige Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit durch den Gesetzgeber. […] Die Geschichte der Versuchsstrafbarkeit von 1949 bis 1990 [ist] diejenige einer sich steigernden Punitivität“ (411).

 

Der Beitrag Arnd Kochs über Täterschaft und Teilnahme verspricht auch – so der Untertitel – Aufschlüsse „über die zeithistorischen Hintergründe dogmatischer Figuren“ (413ff.), und er löst diese Ankündigung voll ein. Dabei kommt ihm die historische Besonderheit des Themenbereichs entgegen, denn nur wenige Komplexe des allgemeinen Strafrechts haben im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit so sehr rechtspolitische Implikationen offenbart wie die Beteiligungslehre. Koch stellt sie in den Kontext des Befundes, „dass sich eine Fachwissenschaft, nicht selten aus naheliegenden biographischen Gründen, in Schweigen hüllte, während die Rechtsprechung in den 1950er Jahren scheinbar ‘rein dogmatische‘, in Wirklichkeit jedoch interessegeleitete Auslegungen fand[3], die eine Aufarbeitung von NS-Unrecht erschwerten oder gar unmöglich machten“ (414). Der Beitrag geht über die standardmäßig abzuhandelnden Stichworte – z. B. „Subjektive Teilnahmetheorie“; „Gehilfenrechtsprechung“; „kalte Verjährung“ – hinaus und liefert nicht nur mit teilweise weniger bekannten Details vertiefte und differenzierte Erkenntnisse, sondern zeigt auch noch den ins Auge springenden Unterschied der Behandlung der NS-Täter (als Gehilfen) und der umstandslosen Qualifizierung der „Mauerschützen“ als Täter auf. Sein Fazit enthält implizit eine Kritik an der Ausblendung historischer Hintergründe bei der Behandlung dogmatischer Probleme durch die Strafrechtswissenschaft (441f.).

 

Der dritte und letzte Teil des Buches betrifft „Strafprozess, Rechtsfolgen und Grundlagen“. Brian Valerius zeichnet die Gesetzgebungsgeschichte im Strafprozessrecht im Berichtszeitraum nach. Die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts unternommenen Anläufe zu einer Gesamtreform des Rechtsgebietes blieben erneut erfolglos. Wohl aber lässt sich ein Trend in der Novellen-Gesetzgebung ausmachen, den der Verfasser unter das Fazit „Von der Liberalisierung zur Beschleunigung des Strafverfahrens“ zu Lasten des Beschuldigten stellt (446). Landmarken bei der Entfernung vom liberalen Geist des Strafprozessrechtsänderungsgesetzes 1964 sind die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung und die seit den 1980er Jahren einsetzende Opferorientierung – in der verschiedentlich nicht zu Unrecht eine Bedienung des Genugtuungsinteresses des Opfers erblickt wurde, womit das Vergeltungsstrafrecht wieder Einzug hielt (462).

 

Die Entwicklung des Sanktionenrechts behandelt Bernd-Dieter Meier. Wichtigste Stationen im Berichtszeitraum sind die alliierte Gesetzgebung (Aufhebung von NS-Recht), das dritte Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 (v. a. Strafaussetzung und Strafrestaussetzung zur Bewährung) und die Straßenverkehrsgesetzgebung (1952/1964) (Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahrverbot). Die Strafrechtsreform bringt vor allem unter dem Einfluss des Alternativentwurfs Liberalisierungen und Individualisierungen (z. B. Abschaffung des Arbeitshauses und des Zuchthauses). Zwar wurden die Änderungen von der Rechtsprechung nach anfänglichem Zögern in die Praxis umgesetzt, doch hielt der liberale Zeitgeist, der hinter diesen Entscheidungen stand, nicht an. So erklärte das Bundesverfassungsgericht die lebenslange Freiheitsstrafe für verfassungsgemäß. Immerhin reihte die Bundesrepublik sich nicht in die aus Amerika kommende „nothing-works“-Tendenz ein (487). Die im Einigungsvertrag vereinbarte Nichtanwendung der Sicherungsverwahrung auf die ostdeutschen Länder wurde wenige Jahre später rückgängig gemacht (490). Der Ausbau der ambulanten Primärsanktionen geriet ins Stocken (491).

 

Mit der Entwicklung des Strafvollzugsrechts befasst sich der Beitrag Erol Pohlreichs. Er beginnt mit einem Rückblick auf die zahlreichen gescheiterten Anläufe zu einem Strafvollzugsgesetz seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In Westdeutschland galten zunächst die gleichlautenden Dienst- und Vollzugsordnungen und die U-Haft-Vollzugsordnungen der Länder als bloße Verwaltungsordnungen. 1977 trat – ausgelöst durch den „Lehbach-Beschluss“ und den „Untersuchungshaft-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts – das bundeseinheitliche Strafvollzugsgesetz in Kraft; spätestens damit wurde die Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“ hinfällig, auch wenn sich, so der Verfasser, Überreste dieser Lehre bis heute erhalten haben (526).

 

Wolfgang Mitsch behandelt das Jugendstrafrecht. Das 1923 erlassene, 1943 vom NS-Gesetzgeber einer Revision unterzogene Jugendgerichtsgesetz wurde 1953 erneut novelliert. 1990 brachte das 1. Jugendgerichtsgesetzänderungsgesetz die Streichung der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer (536). Der weitere Beitrag erörtert mehrere höchstrichterliche Entscheidungen zu wichtigen Einzelfragen. Wissenschaft und Lehre kann der Verfasser knapp abhandeln, denn – so sein Monitum – für sie ist das Jugendstrafrecht eine „Randdisziplin“ (542). Mit einem abschließenden Blick in die Zukunft stellt Mitsch fest, dass sich an diesem Befund bis heute nichts geändert hat.

 

Mit der Entwicklung der Kriminologie befasst sich Jochen Bung, der sich angesichts des Umfangs der Materie mit einem Überblick begnügen muss. Diesen fasst er zu drei Aspekten bzw. Etappen zusammen – nahezu ungebrochene Kontinuität des kriminalbiologischen Paradigmas bis weit in die 1960er Jahre; danach Zweifel an diesem Paradigma und Betonung sozialwissenschaftlicher und auch gesellschaftskritischer Aspekte; spätestens ab Anfang der 1980er Jahre Abschwächung dieser Orientierung und Übergang zu pluralistischeren Diskursen, teilweise unter Wiederbelebung „naturalistischer Prämissen und Fragestellungen“ (546). Die Spezialaspekte werden abgeschlossen mit dem Beitrag Andreas Popps zur Strafrechtsphilosophie, der sich zunächst kritisch mit der sog. Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit auseinandersetzt, vor allem auf deren Konsequenz hinweist, unter Berufung auf die Monstrosität von NS-Gesetzen nunmehr dem demokratischen Gesetzgeber misstrauisch zu begegnen (573). Die Abschwächung dieser Tendenz in den 60er Jahren und die im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform aufkommende Bereitschaft zu entkriminalisierenden Entscheidungen berief sich auf den Gedanken des Rechtsgüterschutzes, der in diesen (wenigen) Jahren wirklich einmal seine strafrestriktive Wirkung entfaltete (582). Etliche weitere Impulse, vor allem im Hinblick auf die Rechtsfolgenseite, „versandeten mehr oder weniger“ (583).

 

Auf besonderes Interesse des Rechtshistorikers kann die abschließende „wissenschaftshistorische Skizze“ in einem weiteren Beitrag Arnd Kochs rechnen („Strafrechtsgeschichte in der alten Bundesrepublik“). Koch zeichnet ein Bild der institutionellen Bedingungen der Strafrechtsgeschichtswissenschaft, die sich nur sehr allmählich aus der Umklammerung der (sich auch für die Strafrechtsgeschichte zuständig fühlenden) Privatrechtshistoriker emanzipierte. Die Tabuisierung zeitgeschichtlicher Themen galt auch in der Strafrechtsgeschichte („Schweigekartell“ [Roxin], 593). In den Lehrbüchern wurde die Strafrechtsgeschichte stiefmütterlich behandelt; und auch dort, wo die strafrechtliche Zeitgeschichte angegangen wurde, geschah dies nur zögerlich. Eine gewisse Verbesserung sieht Koch seit den 1980er Jahren. Mit vielen Details und teils überraschenden Perspektiven erweist der Beitrag seine Bezeichnung als „Skizze“ letztlich als understatement.

 

Die Herausgeber haben einen großen Stein in den Teich der Strafrechtsgeschichte geworfen, der gewiss für manche weitere Forschungen anregende Wellen auslösen wird. Es ist zu hoffen, dass auch die Strafrechtsdogmatiker dieses Werk nicht ignorieren; liefert es doch mit seinen Tendenzbeschreibungen den Beweis dafür, dass eine „geschichtslose“ Strafrechtswissenschaft einen wichtigen Teil auch ihrer dogmatischen Aufgabe verfehlt.

 

Hagen                                                            Thomas Vormbaum



[1]              So wären für die für die Zeitgeschichtsforschung wichtige vergleichende Biographieforschung nicht nur die – von Eric Hilgendorf besorgten und von den Herausgebern mit Recht erwähnten – Autobiographien-Sammlungen von Strafrechtslehrern relevant, sondern auch solche von Tätern der Strafjustiz und deren Opfern (Regimegegner des NS-Regimes und der DDR, Kommunisten in der Frühzeit der BRD).

[2]              Auf S. 308 heißt es im Zusammenhang mit der Unkenntnis des subjektiven Rechtfertigungselements zumindest missverständlich: „Zur Strafbarkeit wegen eines vollendeten Delikts gelangten diejenigen, die ohnehin – auch beim Vorsatzdelikt – die objektive Rechtfertigungslage genügen ließen […]“

[3]              Neben der für sein Thema einschlägigen subjektiven Teilnahmetheorie nennt Koch noch die richterliche Anhebung der Vorsatzanforderungen bei der Rechtsbeugung, die „Sperrwirkung“ des Rechtsbeugungstatbestandes, die Straflosstellung kraft vermeintlicher (Putativ-) Nötigungsnotstände und die großzügige Anerkennung von Verbotsirrtümern (ebd.).