Sandkühler, Thomas, Das Fußvolk der „Endlösung“. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Academic, Darmstadt 2020. 431 S., 24 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Personelle Ressourcen waren für die nationalsozialistischen Machthaber Europas ein knappes Gut: Immerhin galt es, einen Weltkrieg bis zum erwarteten „Endsieg“ zu führen und gleichzeitig neben den vielfältigen Anforderungen der Besatzungsadministration die bevölkerungspolitischen Zielsetzungen des Regimes möglichst rasch auf Spur zu bringen. Zum bevölkerungspolitischen Programm zählte insbesondere die Absonderung der als jüdisch definierten Elemente der Bevölkerung im Deutschen Reich und in den von ihm beherrschten Gebieten, die dann über sich radikalisierende Initiativen in den Holocaust mündete, den Versuch der restlosen Austilgung dieser Menschen durch dafür speziell aufgestellte Vernichtungskommandos und in eigens zu diesem Zweck etablierten Tötungseinrichtungen. Die Holocaust-Forschung hat mittlerweile eine große Zahl an deutschen Akteuren identifiziert, die unmittelbar oder mittelbar in diesen Prozess eingebunden waren, ihn aktiv förderten oder ihn zumindest auf unterschiedliche Art und Weise unterstützten. Bisher weniger Aufmerksamkeit wurde hingegen dem Umstand zuteil, dass an den Stätten des Mordens im Osten Europas eine nicht geringe Zahl dort rekrutierter „fremdvölkischer“ Hilfskräfte das Vernichtungsgeschehen unter deutschem Kommando am Laufen hielt. Wer waren diese Helfershelfer, deren sich die deutsche Besatzungsmacht in Ermangelung einer ausreichenden Zahl eigener Kräfte bediente, was trieb sie an, in deutschen Diensten Mittäter an den Verbrechen der Besatzer zu werden? Oder, wie der Verfasser präziser nachfragt: „Wie viel Zwang wurde ausgeübt, wie hoch war der Grad oder doch zumindest die Fiktion der Freiwilligkeit zum Eintritt […]? Rekrutierte die SS vorzugsweise solche Personen als Wachmänner, von denen sie annahm, dass sie das Feindbild vom ‚jüdischen Bolschewismus‘ teilten, an der deutschen Vernichtungspolitik also aus eigenen ideologischen Antrieben partizipieren würden? War das Motiv der Selbstverpflichtung stark genug, um die Teilnahme an Gewaltverbrechen aus teilweise eigenem Antrieb hervorzubringen? Welche Möglichkeiten hatten Wachmänner und Polizisten, sich zu entziehen? Welche Austrittsoptionen boten die Organisationen an, welche Belohnungs- und Zwangsmittel standen ihnen gegenüber, um den Verbleib in der Organisation sicherzustellen? Wie war die […] einschlägige Rechtslage […]? Welche Rolle spielten die alltäglichen Gewaltinszenierungen und –erfahrungen auf den Straßen einer deutsch besetzten Großstadt und in den Vernichtungslagern der ‚Aktion Reinhardt‘?“ (S. 27f.).

 

Der Historiker Thomas Sandkühler lehrt als Professor Didaktik der Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und hat sich als historischer Sachverständiger und Gerichtsgutachter Spezialwissen auf dem hier zur Diskussion stehenden Gebiet angeeignet. Sein vorliegendes, jüngstes Werk nimmt zwei Gruppen „fremdvölkischer“ Täter kontrastierend ins Visier: Mitglieder der in Lemberg zur Verstärkung der deutschen Ordnungspolizei eingesetzten ukrainischen Hilfspolizei, die sich aus Angehörigen ukrainisch-nationalistischer, faschistischer Milizen formierte, sowie die nach dem Namen ihres Ausbildungslagers als Trawniki bezeichneten, dem Volksdeutschen Selbstschutz nachgebildeten und unter kriegsgefangenen Rotarmisten rekrutierten Wachmänner des Lubliner SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik. Die Arbeit verortet das Agieren beider Gruppen im großen Kontext des Verfolgungsgeschehens in Osteuropa. Die erste von insgesamt drei großen thematischen Einheiten beschäftigt sich mit dem „Tatort Besatzungspolitik und Judenverfolgung im Generalgouvernement Polen (1939 – 1942)“, im Einzelnen mit der Einrichtung des Generalgouvernements und der dortigen Judenverfolgung, dem Einfluss des Krieges gegen die Sowjetunion und mit der Bevölkerungsstruktur und der Besatzungsstruktur des Distrikts Galizien. In einem zweiten Schritt erfolgt eine Darstellung der „Tat: Die Ermordung der Juden (1942 – 1944)“, untergliedert in die Ingangsetzung der Judenvernichtung und ihre Hochphase in den Lagern der „Aktion Reinhardt“. Der dritte und letzte Abschnitt fokussiert dann auf „‘Fremdvölkische‘ Täter in Aktion (1942 – 1944)“ und untersucht dabei zunächst die Rolle der ukrainischen Hilfspolizisten bei der Deportation der Lemberger Juden und anschließend jene der Trawniki-Männer vorzugsweise im Vernichtungslager Bełżec.

 

Die Analyse arbeitet im Einzelnen signifikante Unterschiede zwischen den gegenständlichen Tätergruppen heraus. Hier mag besonders die elementare Verschiedenheit im Rechtsstatus interessieren. Der Befehlshaber der deutschen Ordnungspolizei befahl im August 1941 „die Aufstellung einer ukrainischen Hilfspolizei im Distrikt Galizien, die aus sechs Offizieren und 400 Polizisten bestehen sollte, und die Errichtung einer Polizeischule in Lemberg. […] Entgegen ihrer offiziellen Bezeichnung als ‚Ukrainische Polizei‘ war die Hilfspolizei aber zu keinem Zeitpunkt Trägerin einer ukrainischen Staatlichkeit im völkerrechtlichen Sinn. […] Die Ukrainische Polizei war dem Kommandeur der Schutzpolizei unmittelbar unterstellt und erhielt von dort ihre Weisungen. Daher nahm die Hilfspolizei deutsche Hoheitsaufgaben wahr. Ukrainische Polizisten waren im August 1942 Amtsträger des deutschen Staates. Sie führten ein staatliches Massenverbrechen aus. Dies geschah aber, wie bei den deutschen ‚Kameraden‘, bis zu einem gewissen Grad in einer Grauzone polizeilichen Handelns“ (S. 109ff.). Die ukrainischen Polizisten unterstanden zwar der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, doch stand ihnen auch „ein Befehlsverweigerungsrecht gemäß dem Militärstrafgesetzbuch zur Seite, so dass sie sich nicht auf einen allfälligen Befehlsnotstand berufen konnten. […] Ein Austritt aus der Hilfspolizei war nicht vorgesehen und auch rechtlich nicht möglich“ (S. 116f.).

 

Im Vergleich dazu war „die Rechtsstellung der Trawniki-Männer unklar. Sofern sie, wie die allermeisten, aus der Kriegsgefangenschaft ins Lager gekommen waren, wurden sie zwar von den ‚Stammlagern‘ freigegeben, aber formal nicht aus der Gefangenschaft entlassen. Die Wachmänner gehörten daher auch nicht zum Wehrmachtsgefolge. Sie waren vor allem Hilfspolizisten. […] Bei den Ghettoräumungen waren Trawniki-Männer zwar keine Hilfspolizisten im Vollzugsdienst wie die ukrainische Hilfspolizei […], aber faktische Hilfspolizisten der Gestapo. In den Vernichtungslagern kamen die maßgeblichen Befehle von Funktionären des nationalsozialistischen Krankenmords, die im Zivilberuf Ärzte oder Kriminalpolizisten waren und Angleichungsdienstgrade der Waffen-SS trugen. […] Seit April 1942 unterstanden die Wachmänner ausschließlich Globocnik. Eine Rang- und Besoldungsangleichung […] rückte die Trawniki-Männer später in die Nähe der Waffen-SS. […] Ihre anscheinend geplante förmliche Übernahme durch die Waffen-SS fand aber nicht statt. […] Auch disziplinarrechtlich war unklar, zu welcher Formation die Trawniki-Männer gehörten. […] Da den Wachmännern jedenfalls bis 1943 ein legales Recht zur Befehlsverweigerung fehlte, stellt sich die Frage nach einem möglichen Befehlsnotstand. Sowjetische Ermittlungsbehörden ließen dieses Argument regelmäßig nicht gelten. Bundesdeutsche Gerichte urteilten diesbezüglich uneinheitlich“ (S. 88ff.). Ein Ausstieg aus dem Dienst des Ausbildungslagers war in Einzelfällen möglich, „solange der Organisationszweck nicht in Zweifel gezogen und die Funktionstüchtigkeit des Systems nicht beeinträchtigt wurde“, sowie „aus gesundheitlichen Gründen“ (S. 100). Während nach Deserteuren aus dem Ausbildungslager bestenfalls halbherzig gesucht worden sei, sei hingegen nach in den Vernichtungslagern eingesetzten flüchtigen Wachmännern intensiv gefahndet und seien die Ergriffenen in aller Regel als „Partisanen“ erschossen worden. Eine gewisse öffentliche Resonanz erfuhr die Trawniki-Organisation in Deutschland vor gut einem Jahrzehnt durch den Münchener Demjanjuk-Prozess (2009 bis 2011/2012), der wegen des Todes des Beschuldigten zwar nicht rechtskräftig in letzter Instanz abgeschlossen werden konnte, nichtsdestotrotz aber allgemein als Meilenstein für eine Wende in der juristischen Beurteilung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik gilt.

 

Theoretisch stützt sich Thomas Sandkühlers Studie auf zwei grundlegende Forschungsansätze: auf Harald Welzers sozialpsychologische Betrachtungen („Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“, 2005) sowie auf Stefan Kühls organisationssoziologische Perspektive („Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“, 2014). Im Mittelpunkt stehen dabei Überlegungen zum Referenzrahmen des Tötungshandelns, zu kollektiven Moralvorstellungen und zur Ausweitung von sogenannten Indifferenzzonen, „damit Zweifel an der Legitimität einer Gewalthandlung […] organisationskonform beseitigt werden können“ (S. 26). Unter Bezugnahme auf die dargelegten Kriterien erscheine die bei der Deportation der Lemberger Juden im August 1942 agierende ukrainische Hilfspolizei ungeachtet gravierender gewaltsamer Übergriffe noch als eine „ganz normale Organisation“ (S. 237), während die Organisation, der die in den Vernichtungslagern tätigen Trawniki-Männer dienten, eindeutig „anomal“ gewesen sei: „Denn die ‚Aktion Reinhardt‘ kannte im Grunde nur zwei Ziele: Mord und Raub. Diesen Zwecken war die Tätigkeit der Massenmörder funktional zugeordnet – einschließlich der Trawniki-Männer. […] Bełżec war […] eine einzige Indifferenzzone; weniger nüchtern: die Hölle auf Erden“ (S. 319). Ganz am Ende seiner Ausführungen stellt der Verfasser die Anwendung des Normalitätsbegriffes allerdings grundsätzlich in Frage: „Was ist jedoch mit der Einsicht gewonnen, dass ‚normale Organisationen‘ den Judenmord ermöglichten, ‚normale Männer‘ ihn durchführten? Könnte man nicht mit gleichem Recht sagen, dass die Anomalität nationalsozialistischer Gewaltorganisationen die gesellschaftliche Normalität jener Zeit widerspiegelte? Dass Männer[n], die Millionen Zivilisten gewaltsam zu Tode brachten, Normalität per se abgesprochen werden muss? Vielleicht wäre es an der Zeit, sich von der normativen Kategorie der Normalität zu lösen und die Einsicht zuzulassen, dass sich unter Bedingungen einer politischen Zwangsordnung Zwangsorganisationen gründen lassen, die vor nichts zurückschrecken“ (S. 328).

 

Zu beachten ist, dass die vorliegende, mit einem durch viele zusätzliche Fakten angereicherten, besonders informativen Anmerkungsapparat ausgestattete Arbeit sich nicht allein auf die systematische Analyse der beiden nichtdeutschen Tätergruppen beschränkt, sondern zugleich ein detailliertes und ungeschminktes Bild vom Ablauf des Holocaust in den Vernichtungslagern auf dem aktuellen Stand der Forschung zeichnet. Es gab, so wird immer wieder deutlich, zahlreiche Stätten der Vernichtung, die dem häufig primär Auschwitz attestierten Grauen in nichts nachstanden. Gerade weil der Verfasser sprachlich stets sachliche Distanz wahrt, kommt seine nüchterne Präsentation der Einzelheiten des Mordgeschehens umso eindringlicher zur Geltung. Kein Zweifel wird daran gelassen, dass „das Fußvolk der ‚Endlösung‘“ (Titel) stets auf Anweisung der verantwortlichen deutschen Kommandanten handelte, die mit Masse der NS-Krankenmord-Organisation T 4 entstammten, namentlich genannt werden und häufig das Kernmotiv des beigegebenen Bildmaterials bilden. Die einzelnen Stationen des Vernichtungsprozesses, an denen man sich der Trawniki-Männer bediente, werden ohne Umschweife plastisch vorgestellt, so auch der Vorgang der „Enterdung“ – die nachträgliche Exhumierung der Massengräber und die anschließende Verbrennung der vielfach bereits im Verwesungsprozess befindlichen Leichen zum Zweck der Vertuschung der Verbrechen –, dessen Schilderung unter anderem die folgende apokalyptische Passage enthält: „Tatsächlich legte aber nicht der Bagger die Leichen auf die Scheiterhaufen, sondern die Juden mussten dies mit eigener Hand tun. Sie mussten auch die flüssigen Reste der zersetzten Körper mit der Hand aus dem Grab schöpfen und zum Feuer tragen“ (S. 281). Insofern ist die Lektüre des Bandes allgemein auch interessierten Lesern zu empfehlen, die über die häufig kolportierten Tötungszahlen hinaus bislang noch keine genaue Vorstellung vom konkreten Procedere in den Vernichtungslagern inklusive der jeweiligen Verantwortlichkeiten besitzen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovi