An den Grenzen unseres Wissens. Von der Faszination des Paranormalen, hg. v. Vaitl, Dieter. Herder, Freiburg im Breisgau 2020. 544 S., Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Schellinger, Uwe/Nahm, Michael, Freiburgs Gespenster. Spuk und Geister in der Stadt von 1800 bis heute, 2. Aufl. Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg im Breisgau 2021. 158 S., Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Zu den Paradoxien einer Wissenschaftsgeschichte der Grenzgebiete der Psychologie zählt, dass sie innerhalb der Leitlinien seriöser Forschung sich zugleich den Gebieten widmet, auf denen gerade die mutige Überschreitung traditioneller Disziplinen gefordert und herausgefordert wird. Wenn das Beispiel der Parapsychologie als explizites Grenzbereichsfach und dessen ambivalente Akzeptanz in der scientific community ein herausragendes Studienobjekt liefert für prinzipielle, nicht nur wissenschaftshistorische, sondern epistemische und soziale Bedingungen der Konstruktion von Wissenschaft, dann ist damit zugleich die ungemein spannungsreiche wie spannende Entwicklungsgeschichte einer notwendigerweise interdisziplinär ausgerichteten Forschung verknüpft.
Sie ist von den unterschiedlichen Methoden, Konzeptionen, von der Erfassung und Beschreibung „unerklärlicher“ Phänome und Problemlagen, älteren und neuen Erklärungsansätzen bis hin zur modernen „Axiomatik einer reflexiven Anomalistik“ nicht zu trennen.[1]
Am Anfang der siebzigjährigen Geschichte des heute international bekannten Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) steht mit Hans Bender (1907-1991) der Begründer einer Forschungsrichtung, welche universitäre diagnostische und klinische Psychologie und der Sozialpsychologie mit parapsychologischen Studien (sog. Psi-Anomalien, Telepathie, Präkognition, Psychokinese) miteinander verband. Selten vermochte sich der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerade wegen der strittigen Gegenstände - zwischen Esoterik und Okkultismus bis hin zu Spiritismus und Astrologie, Hellsehen oder politischer Instrumentalisierung historisch und aktuell angesiedelt – gefahrengeneigten Gratwanderungen und subtilen Spannungsfeldern (Dieter Vaitl S. 22) zu entziehen. Wegen vielseitig determinierter, subjektiver Illusionen und Spekulationen konnten vor allem diffusere Resonanzen in den Medien mit ihren Mixturen zwischen Aufklärung und Sensation bei außeralltäglichen „Spukphänomenen“ leichthin zum ephemeren Spektakel mutieren.
In den historischen Phasen vermochte rationalerer Zeitgeist oder krisenbedingt verstärkter Hang zum „Geisterglauben“ - die Zeit nach den zwei Weltkriegen liefert etwa in der Geschichte der Astrologie bezeichnende Beispiele - sich in Gemengelagen zwischen grundsätzlicher Offenheit oder fundamentaler Skepsis und der spielfreudigen Neigung zur Entlarvung kommerziell agierender Charlatane zu positionieren. Und selbst der Sozialgeschichte fiel der Umgang mit der „Heilssuche im Industriezeitalter“ (Ulrich Linse), mit schwerer fassbaren Forschungsvorhaben und Strömungen zwischen Entzauberung der Welt und verbreiteten Hoffnungen auf das genuin Wunderbare und Heilsbringer jeglicher Art und Güte wie z. B. in Gestalt der sog. Inflationsheiligen nicht immer leicht.
Genese und Frühgeschichte des Instituts, ohne die Biografie des charismatischen Hans Bender nicht zu denken, ist von primär privater Stiftungs-Förderung und individuellem Forschungsdrang geprägt. Die experimentell-naturwissenschaftlichen Schwerpunkte wurden bereits in der Entstehungsphase angelegt. Kenner dieser Anfänge wie Eberhard Bauer, bis heute maßgeblich in dem IGPP als Forschungskoordinator und initiativer Motor in den Bereichen interdisziplinärer, psychologischer Kultur – und Wissenschaftsgeschichte, Therapie und Beratung nicht zu vergessen, wirkten seit jeher als unentbehrliches Scharnier zwischen traditionellen und modernen Wissenschaftsgebieten, in der wechselvollen Geschichte, der aktuellen Information und Dokumentation vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und als einflussreicher Kommunikator und anregender Polyhistor im weltweiten Netzwerk dieser Forschungszweige und Institutionen.
Ein in seiner empirisch, theoretisch, experimentell und historisch ausgerichteten Vielfalt stellt das IGPP, souverän und innovativ geleitet durch den lange an der Universität Gießen wirkenden Neurowissenschaftler und Psychologen Dieter Vaitl, eine auch im internationalen Vergleich einzigartige Verbindung eines unaufhaltsam, durch enorme private wie dann auch öffentliche Förderung gewachsenes, autonomes, auch mit zahlreichen Institutionen verbundenes Informations- und Forschungszentrum dar.
Und so wie das von einem Historiker, Uwe Schellinger, betreute, solitäre Archiv mit exzellenten Beständen und Nachlässen als unentbehrliche Quellensammlung fungiert, so entwickelte eine einzigartige Spezialbibliothek mit ihren exklusiven Unikaten und seltensten Zeitschriften für Forscher aus aller Welt seit Jahrzehnten und zunehmend eine besondere produktive Anziehungskraft.
Wer immer sich in diesem vielschichtigen Feld mit qualitativen oder quantitativen Experimenten, mit Methodologie und Theorie, interdisziplinären Wechselwirkungen, mit der geschichtlichen oder alltäglichen Substanz und Sicht auf einschlägige Phänomene, landläufig „PSI“ etikettiert, befasst, kommt um das reiche kasuistische Material, um die in Jahrzehnten systematisch versammelten Beobachtungen, die fast unzählbaren Experimente, die dokumentierten Erlebnisformen von Klienten und Probanden nicht herum. Denn anders lassen sich etwa sehr individuell geprägte Erfahrungen mit Geschichte, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zumal, nicht zu qualitativ und quantitativ relevanten Forschungsergebnissen verdichten.
Es zeichnet diesen von herausragenden Mitarbeitern des IGPP verantworteten Sammelband aus, wie sich die neu konzipierte Entwicklung des Instituts in bemerkenswerten Schüben und minutiös nachvollziehbar hin zu naturwissenschaftlich fundierten Analysen vollzog. Hier prägen feldtheoretische Dimensionsmodelle neben quantenphysikalischen Ansätzen die Untersuchung „komplexer Systeme“. Wesentliche Berührungspunkte ergeben sich mit weitgespannten empirisch sozial- und kultursoziologischen Fragestellungen, Untersuchungsfeldern und Forschungsergebnissen (Michael Schetsche). Das reicht von Studien über lebensweltliche Realität außergewöhnlicher Erfahrungen, von Ritualistik und Sektenforschung, von Heterodoxie in autoritären Gesellschaften bis hin zu „verborgenen Schattenzonen des Wissens“.
Mit dem Terminus „Kryptodoxie“ erfasst zielen klandestine Deutungsmuster und Tabuisierungen, empirisch, konzeptionell, auch tiefenpsychologisch erforscht in einem paradoxen „Panorama des Unsichtbaren“ auf eine „Theorie kultureller Abjekte“ (Schetsche, S. 300-320). Wenn dabei etwa interdisziplinär sowohl ethnologische oder gesellschaftliche Kategorien des „maximal Fremden“ und Analysen diverser Formen von Verschwörungsdenken, eine Domäne mehrerer universitärer Fächer, in den kritischen Blick genommen werden, verbinden sich soziologische Wissensbestände mit wissenssoziologischen Diskursanalysen und mit Grundprinzipien einer sowohl historisch, phänomenologisch und epistemologisch ausgerichteten „reflexiven Anomalistik“.[2] Sie vermag, empirisch und theoretisch basiert, divergente Erfahrungsqualitäten als soziale Konstruktionprozesse genauer zu erfassen.
Zu großangelegten Projekten zählen interdisziplinäre Studien über „okkulte“ Phänomene zwischen Mediengeschichte, Kulturtransfer und Wissenschaft im Zeitalter 1770-1970 als Teil einer umfassenderen Wissens- und Gesellschaftsgeschichte. Hier vereint das Spektrum so disparate, aber im Gesamtkontext wesentliche, punktuelle oder Langzeit-Studien mit lokalhistorischen Quellen-, Spuren- und Rezeptionsergebnissen, wie sie jüngst z. B. als Quellen- und Textbuch im städtisch-historischem Längsschnitt vorgelegt worden ist (Uwe Schellinger/Michael Nahm).
Aufschlussreiche Berichte zur Wahrnehmungsforschung (Jürgen Kornmeier), zu psychophysikalischen Momenten (J. Wackermann), zu außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen und Zeitwahrnehmungen (Marc Wittmann) liefern vertiefte Einblicke in den Stand laufender naturwissenschaftlich geprägter Bereiche.
„Hellsehen“, „Kriminaltelepathie“, die Bezüge zwischen Astrologie bzw. Parapsychologie und Nationalsozialismus markieren einige der Schnittmengen mit Geschichts-, Kultur- und Kriminalwissenschaften. Auf diesem Gebiet berühren sich internationale, namentlich auch anglo-amerikanische Forschungsinteressen am „Polit-Okkultismus“ mit traditionellen oder modernen, etablierten Forschungen zu einmal mehr oder einmal weniger elitären, esoterisch, okkultistisch oder politisch imprägnierten Geheimgesellschaften oder einzelnen herausragenden Protagonisten der Szenerien aus Vergangenheit und Zeitgeschichte.[3] Es gehört inzwischen nicht mehr zu den Geheimnissen, dass sich zuweilen über Einzelpersonen oder politisch radikalisierte Kleingruppen ein dann wachsender Nucleus von pathologisch, ideologisch oder auf andere Weise induzierten Gruppenzellen entwickeln konnte, deren wachsende „Einbrüche ins Irrationale“ moderne Gesellschaftsstrukturen zunehmend zu gefährden vermögen.
Das IGPP charakterisiert, dass es naturwissenschaftliche, kultur- und sozialwissenschaftliche, wissenschaftsgeschichtliche und beratungspsychologische Schwerpunkte stets eng miteinander verknüpfte. Das wesentlich von Dieter Vaitl an der Universität Gießen etablierte Bender Institute of Neuroimaging (BION) bildet heute ein wichtiges Bindeglied zu modernen Untersuchungen von Mentaltäten, Gehirnprozessen und Bewusstseinszuständen. Mit ihm und einem internationalen psychobiologischen Forschungsverbund ist der Anschluss an europäische und außereuropäische Standards und Studien gesichert. Das Desiderat auch individueller und genereller Diagnostik und Beratung wurde im IGPP angesichts des Bedarfs anvspezieller Fachkonsultation eingelöst, die subjektiv oder gar pathologisch bedingte Schwellenängste leichter zu überwinden vermochte.
Konsequent und unvermeidlich war, dass sich die reichen Ergebnisse breitester, vorurteilsfreier Wissenschaft und Sammlung auch in weltweit anerkannten Ausstellungen, in Kunstformen, bei Tagungen und in einer Vielzahl von Publikationen manifestieren. Davon legt dieser Band neben den detaillierten laufenden Forschungsberichten ebenfalls Zeugnis ab. Solche Transparenz ist vorbildlich und in der Präsentation von Wissenschaftsergebnissen eher eine Seltenheit.
Die Historiographie des Okkultismus kann ohne die vom IGPP maßgeblich bestückten, von ihm bewirkten oder selbst veranstalteten Ausstellungen zu Kunst, Fotografie, zu Okkultismus und Moderne von Munch und Mondrian bis zu Film und Fotografie des Unsichtbaren „Im Reich der Phantome“ nicht auskommen (Andreas Fischer, S. 364-389). Sie hat sowohl zur internen Erfassung und Dokumentation, zur Außenwirkung der Forschung und der modernen Rezeption vor allem in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten erheblich mehr beigetragen als die Sollbruchstellen föderaler Forschungsförderung hätten erwarten lassen, sobald 1998 mit dem Wegfall des durch Johannes Mischo übernommenen Bender-Lehrstuhls die mangelnde Akzeptanz des Landes noch augenfälliger hervortrat.
Einen konzisen Überblick zur Entwicklung, Professionalisierung und klinisch-psychologischer Beratung von Hans Bender bis zur Gegenwart vermitteln Wolfgang Fach und Eberhard Bauer (S. 393-433). Das IGPP als Gegenstand der medialen Wahrnehmung spiegelt die ambivalenten Wahrnehmungen wider, denen die sog. Parapsychologie von Beginn an ausgesetzt gewesen ist. Das reicht von der wissenschaftlichen oder populistischen Stigmatisierung, von vorurteilsbehafteter Abqualifizierung im akademischem Feld bis zur beliebig nutzbaren Büchse der Pandora für mindere Sensationsberichte zwischen Mythos und Mainstream.
Als ein Teil seines Selbstverständnisses hat das IGPP bezeichnende Verläufe des Widerhalls in öffentlicher, medialer und sonstiger Wahrnehmung zum Gegenstand eigener substantieller Forschung erhoben (Gerhard Mayer). Schon Hans Bender musste ambitionierte Hoffnungen auf wissenschaftliche Durchbrüche durch Presse, Rundfunk und Fernsehen zwischen Mühlsteinen der Medien begraben. Die soeben erschienene Biografie Benders, die auch seine universitären Stationen in Straßburg und Freiburg und seine stupende öffentliche, weltweit ausstrahlende Wirksamkeit einschließt, soll noch, auch außerhalb des Kontextes des IGPP, gesondert vorgestellt werden.[4]
Das IGPP hat das Bender‘sche Erbe auf unverwechselbare Art und Weise fundiert in eine wissenschaftliche Welt mit neuen Fragestellungen, Methoden und naturwissenschaftlichen wie geistesgeschichtlichen Ansätzen hinübergeleitet. Die bleibende Heterogenität und enorme innere Vielseitigkeit in Verbindung mit der nachhaltigen Ausstrahlung ist schwer auf einen einheitlichen Außenbegriff zu bringen. Die Faszination von „Grenzgebietsforschung“ liegt wohl eher in den scheinbaren Unschärfen eines multidiszplinären Feldes als in einer „rigider“ zugespitzten corporate identity, welche hinter einer allgemeineren Begrifflichkeit die unterschiedlich effektiven Attraktions- und Forschungsinteressen womöglich eher verhüllen als offenbaren könnte.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen
[1] Lux, A./Paletschek, S.(2016), Okkultismus im Gehäuse. Institutionalisierung der Parapsychologie im 20. Jahrhundert im internationalen Vergleich. Oldenburg ua., S. 1-36,; An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik. (2015). Hrsgg, v. Mayer, G./Schetsche, M., Schmied-Knittel, I., Vaitl,D. Stuttgart., vermitteln auf je eigene Art und Weise einen exzellenten Überblick über Fragestellungen und Stand der Forschung.
[2]Mayer, G.A./Schetsche, M.T.(2016), On anomalistic research: The paradigm of reflexive anomalistics. In: J. of Scientific Exploration 30 (3),S.374—397.
[3] Vgl. Jakob, F. (Hg.), (2013) ,Geheimgesellschaften: Kulturhistorische Sozialstudien. Würzburg.
[4]Lux, A., Wissenschaft als Grenzwissenschaft. De Gruyter Oldenburg 2021.