Psychiatrie und „Euthanasie“ in der HuPfla – Debatten zu Werner Leibbrands Buch „Um die Menschenrechte der Geisteskranken“, hg. v. Frewer, Andreas (= Studien zur Geschichte und Ethik der Medizin). Verlag Ph. C. W. Schmidt, Erlangen 2020. 226 S., 6 Abb. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Der Herausgeber möchte die 1946 erschienene Sammlung von Aufsätzen durch den damaligen Erlanger Neurologen und Psychologen Werner Leibbrand in einer Neuausgabe vorlegen, da sie weiterhin medizinhistorischen Wert besitze. Leibbrand gab sie anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Klinik heraus, die in der Hoffnung, dass „Neues und Besseres geboren werde“, eine Abgrenzung zur Zeit des „Dritten Reichs“ darstellen sollte. Auf Leibbrand ruhten damals große Hoffnungen und mit ihm wurde die Erwartung verbunden, dass er wichtige Forschungen zum Vorgehen der Fachkollegen bei den Anstaltsmassentötungen, die als „Euthanasie“ verschleiert wurden, leisten könnte. Diesen Nachdruck verbindet der Herausgeber mit publizistischen Bemühungen um eine Erhaltung der Klinikgebäude für einen Gedenkort an die in Erlangen durchgeführten Tötungen. Gleich zu Beginn (S. XVII, Fn. 2) wird die in Erlanger Universitätskreisen beliebte Herabsetzung gegenüber der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geboten. Sie war in Nürnberg seit 1931 eine Hochschule mit Promotionsrecht und Habilitationsrecht, die mit Ministerialerlass vom 13. 4. 1961 ab 1. 1. 1961 als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät zur Universität Erlangen-Nürnberg vereinigt wurde. Der Nachdruck füllt die Seiten 1-120. Leibbrands Einleitung lässt erkennen, welche Belastung für ihn die Kenntnis vom Schicksal seiner Patienten war und wie er versuchte durch andere Diagnosen das Leben der Patienten zu schützen. Optimistisch glaubt er daran gegen den übersteigerten ‚Biologismus‘ ankämpfen zu können. In den einzelnen Aufsätzen wird an J. Guislain, K. A. von Solbrig, Fr. W. Hagen, A. Bumm, G. Kolb und G. Specht erinnert. Dazwischen sind Artikel Leibbrands zu ‚Voraussetzungen und Folgen der sogenannten „Euthanasie“ und zum ‚Naturrecht und Fürsorge‘ eingefügt. Abgeschlossen wird die Aufsatzfolge mit einem Beitrag zum ‚Anstaltsbau als Organismus‘. Heute ist bekannt, dass mindestens zwei der Mitarbeiter an den Aufsätzen selber in das Tötungsgeschehen in Erlangen verstrickt waren. Für sie setzte er sich in den Folgejahren in einem Maße ein, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren auch gegen ihn geführt wurde. Kurze editorische Hinweise des Herausgebers (S. 121-125) erläutern etwas die Zeitumstände, unter denen der Druck erschien. Ein Ärgernis ist der dem Nachdruck durch den Herausgeber angefügte Index der Personen (S. 135-141), wobei der Rezensent zugesteht, sich nach dieser Lektüre nicht mehr dem Index der Orte und Länder und dem Index der Sachbegriffe gewidmet zu haben. Ohne Mühen hätten wohl die Bearbeiter des Indexes die Vornamen der aufgenommenen Personen klären können. Soweit sie es taten, gelangten sie zu teils seltsamen Ergebnissen: ein Hinweis auf Karl Kleist (S.108) wurde bei ihnen als ein Hinweis auf Heinrich von Kleist ins Register aufgenommen, die zwei Verfasser einer Arbeit, Georg Kolb und Valentin Faltlhauser, wurden bei ihnen zu Kolb-Faltlhauser. Die private Psychiatrieklinik in Ilten bei Sehnde kam in den Personenindex. Nachdem Ernst Klee mit seinen Arbeiten zur Aktion T 4 mehrfach in Literaturzitaten erscheint, wäre im Personenindex bei Klee darauf hin zu weisen gewesen, dass es sich bei Klee (S. 15) um Karl Klee handelte. Obwohl im Text (S. 53) Altenstein für Karl vom Stein zum Altenstein steht, nennt ihn das Register Allenstein. Franz Exner wird zwar im Text genannt (S. 15), jedoch nicht in das Register aufgenommen. Mehrfach wird im Register auf Sendling hingewiesen (S. 11, 50, 51, 89), doch scheinen die Angaben S. 11 und 89 Lesefehler aus Schelling zu sein. Nach dem ‚Inventar zur Erschließung der Edition‘ (S. 129-156), das die Register enthält, ist ein unveränderter Beitrag des Herausgebers mit Christine Wiesinger aus dem Medizinhistorischen Journal 2014 (hier S. 157-192, dort: S. 45-76) angefügt, in dem der zeitgeschichtliche Hintergrund für Leibbrands Weg an die Universität Erlangen und später an die Universität München umrissen wird. In diesem Beitrag ist deutlich gemacht, aus welchen Umständen und Gründen Leibbrand nicht die Position eines sachkundigen und kritischen Aufklärers über die Verbrechen seiner Standeskollegen in den verschiedensten medizinischen Teilfächern einnahm, die manche von ihm erwartet hatten. Nicht zuletzt sein Schweigen führte dazu, dass erst in den Jahren um 1980 das Versagen so vieler Mediziner ans Licht gezogen wurde. Leibbrands Versagen vor der großen Aufgabe einer Neuausrichtung des ärztlichen Berufsstandes nach dem Niedergang in den Jahren zwischen 1933 und 1945 lässt seine Artikel in dem Nachdruck als hohl erscheinen. An der Seite von Persönlichkeiten wie Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice von Platen-Hallermund hätte Werner Leibbrand sicher vieles bewirken und das Schweigen und Beschönigen seiner Fachkollegen beeinflussen können. Dies nicht versucht zu haben wiegt schwerer als sein Verdienst mit der Aufsatzsammlung den ersten Schritt zu einer Realisierung der Menschenrechte im Gesundheitswesen getan zu haben, wie sich aus dem abschließenden Beitrag des Herausgebers und Heiner Bielefeldts (S. 193-198) ergibt. Die Ausführungen zum ehemaligen Kopfbau und seiner Eignung als Gedenkstätte für die Opfer der NS- „Euthanasie“ in Erlangen (S. 205-212) stellen Überlegungen für eine derzeit aktuelle Diskussion in Erlangen vor. Der Hinweis auf den Prozess gegen W. Einsle und S. Murar um Anstaltstötungen in Erlangen (S. 213) sollte Anlass zu einer näheren Untersuchung dieses Verfahrens geben. Wie auch das Verfahren gegen Personal der Krankenanstalt in Irsee, das wenige Monate vorher abgeschlossen wurde, spielte in diesem Verfahren das in Bayern wiederbelebte Geschworenengerichtsverfahren eine Rolle. Die Veröffentlichung erhält ihren Sinn aus der Darstellung des Lebens Werner Leibbrand und seiner Stellung zu den Anstaltsmassentötungen.

 

Neu-Ulm                                                                                                       Ulrich-Dieter Oppitz