Meier, Mischa, Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. Beck, München 2019. 1532 S., 40 Abb., 38 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Geschichte der sogenannten Völkerwanderung, also der unruhigen Jahrhunderte zwischen dem sukzessiven Zurücktreten der Zentralmacht des Imperium Romanum und der Etablierung der fränkischen Herrschaft in Europa, zwischen dem ausklingenden Altertum und dem sich formierenden Mittelalter, ist in der Geschichtswissenschaft ein umstrittenes Feld. Den vielfältigen nationalen Strömungen des 19. Jahrhunderts waren die Völkerscharen dieser Frühzeit in erster Linie ideale Objekte, auf die sie unter tatkräftiger Mithilfe der Archäologie und der Sprachwissenschaft ihre aktuellen, ethnisch bestimmten Ambitionen und Sehnsüchte projizierten. Bald dominierte das Bild homogener germanischer, slawischer und anderer Stammesverbände, denen man wiederum eindeutige, unverwechselbare Eigenschaften zuschreiben zu können glaubte und deren Herkunft aus einer vermuteten, sogenannten „Urheimat“ man sich emsig zu belegen bemühte. An der Dekonstruktion dieser realitätsfernen ideologisierten Wahrnehmung, die nichtsdestotrotz das populäre Bewusstsein bis in die Gegenwart weithin bestimmt, arbeiten Altertumswissenschaftler und Mediävisten seit vielen Jahrzehnten. Für ein besonders gelungenes Ergebnis dieser von dem bahnbrechenden Werk „Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes“ (1961) des Göttinger Historikers Reinhard Wenskus entscheidend angestoßenen Anstrengungen steht beispielsweise Herwig Wolframs große „Geschichte der Goten“ mit dem Untertitel „Entwurf einer historischen Ethnographie“ (1979), der weitere spezialisierte Studien zu den Typen der Ethnogenese folgen sollten.

 

Nun hat sich der Tübinger Althistoriker Mischa Meier der komplexen Herausforderung gestellt, in diesem Sinn das gesamte Panorama der sogenannten Völkerwanderung geschlossen zur Darstellung zu bringen. Das chronologisch fortschreitende Geschehen wird dabei von ihm im Licht bestimmter Leitgedanken unter die Lupe genommen, die als „Schwierigkeiten, die ‚Völkerwanderung‘ zu thematisieren“, ausführlich erläutert werden. Ein „erklärtes Unbehagen gegenüber der konzeptionellen Tragfähigkeit dieses Ausdrucks“ veranlasst den Verfasser, den titelgebenden Terminus „Völkerwanderung“ stets in Anführungszeichen zu setzen. In den zeitgenössischen Quellen nicht belegt, tauche dieser zuerst als migratio gentium weiter gefasst bei Wolfgang Lazius im 16. Jahrhundert auf, deutsch als „Völkerwanderung“ dann seit den 1790er-Jahren – mit der sich verfestigenden „Vorstellung von Völkern als festgefügten, kohärenten und überzeitlichen Einheiten“ (S. 99f.). Dieser Volksbegriff sei heute obsolet, weshalb man klären müsse, „wie man überhaupt terminologisch und konzeptionell jene Einheiten erfassen und definieren kann, die uns in der zeitgenössischen Überlieferung als gens, natio oder populus, als ethnos, exercitus oder civitas entgegentreten“. Ein Kernproblem bestehe dabei in dem Umstand, dass „zeitgenössische Gruppen und Verbände sich vorwiegend über subjektive Zuschreibungsprozesse definiert haben, dass aber offenbar unterschiedliche und vielfach variable Kriterien existiert haben müssen, die solche Zuschreibungen beförderten oder mitunter auch behinderten“ (S. 102f.). Einheitsbildende Prozesse hätten sich „weitgehend in Kontakt mit dem Römischen Reich und seinen Vertretern vollzogen“ (S. 106), und ethnische Identität habe „lediglich ein einzelnes Element innerhalb eines umfangreicheren Angebots von Identitäten (repräsentiert), das den Zeitgenossen zur Verfügung stand“ (S. 109). Auch der zweite Teil des Kompositums, der Begriff der „Wanderung“, evoziere Schematismen, die den zeitgenössischen Vorgängen kaum gerecht würden. Und selbst wenn man „von älteren, simplifizierenden Wanderungs-Masseninvasionsmodellen absieht und unter Rekurs auf neuere Resultate der internationalen Migrationsforschung zu komplexeren Ansätzen übergeht“, liefere „die Migration allein nicht (den einen Generalschlüssel zur Erschließung einer ganzen Epoche)“. So seien etwa die so bedeutenden Franken „nie über weite Räume hin gewandert; sie haben lediglich expandiert“ (S. 115f.).

 

Schlüsselfaktoren für die Erklärung der in Frage stehenden Jahrhunderte sind für den Verfasser die Religion und die in der antiken Tradition verankerte Griechen/Römer-Barbaren-Polarisierung und deren Wandel, der etwa anhand des Kleidergesetzes des Honorius aus dem Jahr 416 demonstriert wird, das lange Haare und Fellkleider verbot und so vermutlich „durch eine besonders pointierte Hervorhebung der überkommenen Römer- Barbaren-Dichotomie […] ermöglichen sollte, jene klaren Grenzen zu ziehen, die faktisch schon längst nicht mehr existierten“ (S. 393). Zwei markante Ereignisse illustrieren eingangs die Wirkweise dieser zentralen Elemente und die unterschiedlichen Entwicklungen, die sich so jeweils im Osten und im Westen des Römischen Reiches vollzogen. 626 hielt Konstantinopel überraschend einem gemeinsamen Ansturm der überlegenen Awaren und Perser stand. Damit war die Stadt ihrem „Ruf als unerschütterliches Bollwerk gerecht geworden – ein Bollwerk der Römer und der ‚orthodoxen‘ Christenheit, wirksam und für alle unübersehbar von der Gottesmutter beschirmt. Damit hatte die Bosporusmetropole eindrucksvoll ihre Position als unangefochtenes Zentrum des Imperium Romanum behauptet. […] Befördert wurde diese Sichtweise von einer nachhaltigen eschatologischen Aufladung der Rolle Konstantinopels. Solange die Kapitale unversehrt bestand, so die verbreitete Ansicht, würde auch das Reich nicht untergehen. Erst damit hatte sich die translatio imperii, der Übergang der Herrschaft über das Reich von Rom auf Konstantinopel, vollständig vollzogen“. Gut 200 Jahre zuvor, im Jahr 410, hatte Rom weniger Glück gehabt: Mit Alarichs Goten „(standen) erstmals, seitdem keltische Plündererscharen Rom erobert hatten – was mittlerweile immerhin an die 800 Jahre zurücklag –, wieder triumphierende Barbaren auf dem Forum“ (S. 26). Alarich gelte zwar vielfach „als Inbegriff des ‚germanischen‘ Heldenkönigs der ‚Völkerwanderungszeit‘“ und war doch „in jeder Hinsicht ein Produkt römischer Politik und römischer Strukturen – beginnend mit seiner Funktion als untergeordneter Anführer eines barbarischen Truppenkontingents über seine zahllosen Anläufe, eine feste Einbindung in die römische Militärhierarchie zu erreichen, bis hin zu seiner Einsetzung eines römischen Usurpators und zum Ausspielen seiner letzten […] Trumpfkarte in Gestalt der ‚Ewigen‘ Stadt Rom“ (S. 223). Während das Ereignis selbst „schattenhaft“ bleibe, könnten „moderne Historiker […] lediglich noch rekonstruieren, welche großen Themen infolge der Eroberung Roms von Zeitgenossen verhandelt wurden“ (S. 29). Die Religion spielte dabei auch hier eine – wenn auch anders als im Osten geartete – Rolle. „Die berühmte Prozession, in der unter dem Schutz gotischer Soldaten liturgisches Gerät in die Petrus-Basilika verbracht worden sein soll und in deren Kontext Eroberer und Eroberte im Rausch der religiösen Erfahrung zusammengefunden hätten, weist allerdings eine ganz andere Signatur auf als die wunderlichen Geschehnisse im Kampf um Konstantinopel. Kein ‚Innen‘ und ‚Außen‘ wurde hier zementiert – ganz im Gegenteil: Barbaren standen inmitten der Stadt, und als Orosius sein Geschichtswerk verfasste, standen sie auch in großen Teilen des Imperium Romanum, ganz zu schweigen von ihrer zunehmenden Präsenz in den römischen Streitkräften. Ihnen gegenüber konnte man kein abgeschlossenes ‚Innen‘ mehr definieren, sondern nunmehr musste es darum gehen, ihr Eindringen zu deuten und irgendwie mit der aktuellen Situation umzugehen. Nicht Abgrenzung, wie im Osten, sondern Integration stand auf der Tagesordnung. Die Eroberer waren im Westen nicht zu überwinden, sondern man musste sich mit ihnen arrangieren. Im Osten […] blieben (diese Situationen) Ausnahmen“ (S. 48f).

 

Dort hatte „die tiefgreifende religiöse Durchdringung aller Lebensbereiche – wir nennen diesen Prozess ‚Liturgisierung‘ – um die Mitte des 6. Jahrhunderts eingesetzt und diente dazu, einer Bevölkerung, die durch schwerste Katastrophen (Erdbeben, Überflutungen, Pest, Hunger), durch Kriege und enttäuschte Naherwartungen den Boden zu verlieren drohte, neuen Halt und neue Orientierung zu geben […]. Religion war jetzt allenthalben präsent, religiöse Symbolik überwölbte sämtliche Ausdrucksformen, über die die Gesellschaft verfügte. […] Konstantinopel […] war […] die Stadt der Gottesmutter; […] Maria beschirmte ein Volk, das sich […] als ein Konglomerat von Heiligen begriff […]; ein Reich, das von Kaisern beherrscht wurde, deren Sakralität zuvor unbekannte Ausmaße angenommen hatte; Justinian I. (527-565) hatte sich in eine gefährliche Nähe zu Christus gebracht. […] Das Schicksal der christlichen Welt hing […] an der Unversehrtheit des Bollwerks am Bosporus; das war der Kern der byzantinischen ‚Reichseschatologie‘“ (S. 41). Die Genese des Islam sieht der Verfasser damit in einem engen kausalen Konnex: Das vorliegende Buch unternehme auch den Versuch, „den Islam als Produkt einer spezifischen religiösen, kulturellen und politischen Gemengelage zu betrachten, die sich infolge des übergreifenden Liturgisierungsprozesses in der oströmisch-byzantinischen Sphäre und ihren Ausstrahlungsgebieten als singulärem Ermöglichungsraum herausgebildet und spektakuläre Zuspitzungseffekte wie etwa in Gestalt der restitutio crucis erfahren hat. Damit war er in seinen Ursprüngen tief in der römischen Welt verwurzelt […]. Die arabische Welt des 6. und 7. Jahrhunderts […], deren Reichsbildung großenteils auf dem Boden des Imperium Romanum erfolgte, war seit langem integraler Bestandteil der römischen Sphäre [und] wurde […] von dynamisierenden Entwicklungen erfasst, die vor allem von den römisch-persischen Kriegen ausgingen“ (S. 1048f.). Mischa Meier betont abschließend: „Die Herleitung aktuellen Geschehens aus göttlichem Willen und der Versuch, für gegenwärtige, vergangene und erwartete Ereignisse einen Platz im providentiellen Ablauf der Heilsgeschichte zu finden, verbindet das Denken nahezu sämtlicher Akteure […]; […] nicht zuletzt die Entstehung des Islam als mit Juden und Christen, bald auch den spätantiken Großreichen konkurrierender Heilsgemeinschaft wird man mit derartigen endzeitlichen Suchbewegungen, stimuliert durch die besondere Prominenz, die eschatologisches Denken um 600 im römischen Bereich besaß, zusammenbringen dürfen“. Dem Osten wie dem Westen eigneten so „weitgehend konstante, ja vielfach gleichbleibende Wahrnehmungs-, Erklärungs- und Orientierungsmuster im Angesicht beschleunigten historischen Wandels; unter ihrem Schirm hatte sich während der ‚Völkerwanderung‘ eine grundlegend neue Ordnung in der europäischen und vorderasiatischen Welt etabliert“ (S. 1087f.).

 

Die auf diese Grundmuster fokussierende Darstellung zeichnet sich durch Nachvollziehbarkeit und eine stupende Fülle an Detailinformationen aus, die darüber staunen lässt, wie es dem Verfasser so souverän gelingt, in Anbetracht der großen Zahl an Akteuren und der betroffenen Räume synchron und diachron den Überblick über den großen Zusammenhang zu wahren. Die Gliederung des eigentlichen Stoffes in zehn Abschnitte (zwei weitere behandeln die grundlegende Fragestellung und ziehen als Epilog Bilanz) trägt ihren Teil dazu bei. Als Terwingen und Greutungen bekannte Goten des 3. und 4. Jahrhunderts im Donauraum und der sogenannte Hunnensturm bilden den ersten Block, dem drei weitere Großabschnitte zu Afrika, zum Osten und zum Westen des Römischen Reiches folgen. Im 5. Jahrhundert, „ein(em) Jahrhundert der Bürgerkriege“, stehen Attilas hunnische Herrschaft, das bedrohte Kaisertum im Westen und im Osten sowie Odoaker und Theoderich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Westgoten, Burgunder, Franken, Alemannen, Thüringer, Sueben figurieren sodann als Akteure des Emergierens poströmischer regna im Westen, während die Vandalen ihre Herrschaft in Nordafrika etablierten. Weitere Abschnitte behandeln die Auseinandersetzungen des Oströmischen, dann Byzantinischen Reichs mit Persern, Bulgaren, Arabern, Slawen und Awaren erst im 5., dann vom 6. bis zum 8. Jahrhundert, sowie die „Partikularisierung des Westens im frühen Mittelalter“ mit dem Ende des Ostgotenreichs, den Langobarden in Italien, dem postvandalischen Nordafrika, dem westgotischen Spanien, dem merowingischen Frankenreich, dem poströmischen Britannien und einem kurzen Seitenblick auf Skandinavien. Die Darstellung bleibt eng an den Quellen, die mit der nötigen kritischen Distanz stets zurückhaltend ausgewertet werden. Nur ein Beispiel ist die um Sachlichkeit bemühte, funktional-einordnende Interpretation der Schilderungen der sprichwörtlichen vandalischen Gräuel in der Historia persecutionis Africanae provinciae temporum Geiserici et Hunerici regum Wandalorum des Victor von Vita Ende der 480er-Jahre: Victors Darstellung, „weitgehend auf Exempla und Einzelfälle rekurrierend, welche dann grob verallgemeinert werden, (stellt) kaum zuverlässig quantifizierbares Material zur Verfügung – wohlgemerkt: Daraus folgt nicht, dass sich Grausamkeit und Brutalität des Vorgehens generell relativieren oder gar leugnen ließen. Sicher ist: Die Verfolgungen dürften ihr Ziel, eine flächendeckende Etablierung der homöischen Kirche in der Proconsularis durch Verdrängung der nizänischen Institutionen und Strukturen, nicht erreicht haben. […] Gescheitert ist Hunerich jedoch insbesondere mit seinem Vorhaben, das mit einiger Sicherheit hinter seiner mörderischen Kirchen- und Religionspolitik zu vermuten ist: Es gelang ihm […] nicht, seinem Sohn Hilderich die Thronfolge zu sichern“ (S. 696). Selbstverständlich kommt Überlieferungen rechtlichen Inhalts – über die Begriffe „Rechtsbücher“ und „Verträge“ im Sachregister rasch und einfach abrufbar – ein hoher Stellenwert im Korpus der berücksichtigten zeitgenössischen Quellen zu.

 

Als Versuch einer Gesamtdarstellung der Völkerwanderungszeit wird dieser umfangreichen gelehrten Arbeit Mischa Meiers, die mit Abbildungen und Karten – jeweils in Schwarzweiß – hinreichend illustriert ist, einem nahezu 250 Seiten starken, kleingedruckten Anmerkungsapparat aufwartet und fast 30 Seiten an Quellen listet, mit Recht der Status eines modernen Standardwerks zuwachsen, das auf Jahrzehnte hinaus die Maßstäbe setzen wird.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic