Loewenich, Maria von, Amt und Prestige – Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711-1806) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 72). Böhlau, Wien 2019, 276 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Das Reichskammergericht ist das als Gericht der Reichsstände im Zuge der Reform des Heiligen römischen Reiches 1495 aus dem königlichen Kammergericht entstehende Gericht, dessen Verfassung in der Reichskammergerichts­ordnung von 1495 sowie späteren Reichskammergerichtsordnungen (z. B. 1555) geregelt ist. Es ist mit einem von dem Kaiser ernannten Kammerrichter (Vorsitzer) und erst 16, 1556 32, später bis zu 41, von unterschiedlichen Berechtigten (Kaiser, Kurfürsten, sonstigen Reichsfürsten) vorgeschlagenen (präsentierten), grundsätzlich je zur Hälfte adeligen, aber seit etwa 1530 auch fast durchweg gelehrten und nur gelehrten und öfter nach Ernennung geadelten Beisitzern (Assessoren, Urteilern), die anfangs zwei (1530), später vier Senaten zugeteilt sind, zu schwach und meist nicht vollständig besetzt. Seine Geschichte liegt auf aktuellem Stand nicht vor und ist auf Grund zahlreicher Aktenverluste und der auf wohl 46 Archive verteilten Akten für die bisher etwa 77800 nachweisbaren Prozesse auch ein schwer zu erfüllendes Desiderat.

 

Einen wichtigen Ausschnitt hiervon behandelt die in Frankfurt am Main 1982 geborene, in Heidelberg und Bonn in mittlerer und neuerer Geschichte, historischen Hilfswissenschaften und Kunstgeschichte ausgebildete, seit 2006 bei Barbara Stollberg-Rilinger als wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2013 an dem Bundesarchiv als Referentin tätige Verfasserin in ihrer vorliegenden, in dem September 2011 von der philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommenen Dissertation. Diese gliedert sich nach einer Einleitung über Quellen und Literatur, Aufgaben und Personal des Reichskammergerichts und die Bezeichnung Reichskammergericht in zwei Teile. Sie betreffen einerseits allgemein das Kammerrichteramt zwischen Kaiser, Reich und Reichskammergericht sowie andererseits die einzelnen Kammerrichter aus den Familien der Fürsten von Nassau-Hadamar (Franz Alexander 27. 01. 1674-26. 05. 1711), der Grafen und Fürsten von Fürstenberg-Meßkirch (Froben Ferdinand 06. 08. 1664-04. 04. 1741), der Grafen und Fürsten von Hohenlohe-Bartenstein (Philipp Karl 28. 09. 1666-15. 01. 1729), der Freiherren und Grafen von Ingelheim (Franz Adolf Dietrich 15. 12. 1659-15. 09. 1742, Karl Philipp 17. 07.1702-01. 03. 1763), der Grafen von Virmond (Ambrosius Franz 15. 12. 1682-19. 11. 1744), der Grafen von Spaur (Franz Joseph 19. oder 29. 08 1725-01. 08. 1797), der Grafen und Fürsten von Oettingen-Wallerstein (Philipp Karl 08. 02. 1759-16. 12. 1826) und der Freiherren und Grafen von Reigersberg (30. 01. 1770-04. 11. 1865).

 

Auf Grund ihrer umfangreichen, sorgfältigen Untersuchungen der insgesamt neun erfassten Kammerrichter sieht die Verfasserin überzeugend ökonomisches Kapital als Vorbedingung und unterscheidet zwischen symbolischen Profiten und dem Einsatz und dem Erhalt sozialer Ressourcen. Die in der beschränkten Untersuchungszeit von knapp hundert Jahren erkennbare Entwicklung in Richtung auf ein autonomes Höchstgericht des Reiches wurde dabei durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zumindest erheblich eingeschränkt, weil die Kammerrichter die informellen Regeln ihres gesellschaftlichen, fast ausnahmslos der kaiserlichen Klientel angehörigen Umfelds beachten mussten. Dementsprechend nutzten die Kammerrichter ihre amtlichen Befugnisse durch Einsetzung günstiger Referenten oder eines günstigen Senats und verletzten damit die Reichskammergerichtsordnung und das objektive Recht, um nicht ihre subjektive Stellung in ihrem sozialen Netzwerk der ständischen Gesellschaft zu gefährden.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler