Clark, Christopher, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump, aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 328 S., 5 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Das vorliegende Werk bezeugt, dass Verwerfungen wie die gegenwärtige COVID-19-Pandemie mit all ihren unerfreulichen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen nicht automatisch völligen Stillstand produzieren: „Die ideale Zeit, […] einen Essayband zusammenzustellen“, befindet Christopher Clark, Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge und versierter Medienprofi, und „um meine eigenen Gedanken zu ordnen und um der Welt draußen zu signalisieren, dass Historiker auch dann denken, wenn die Welt ringsherum den Betrieb einstellt, begann ich eine Reihe von Podcast-Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen. Wir wollten herausfinden, inwiefern das Nachdenken über die Vergangenheit uns helfen kann, unsere derzeitigen Zwangslagen zu verarbeiten“. Einige bemerkenswerte Früchte dieses Austausches werden in dem „Wie aus Gegenwart Geschichte wird“ betitelten Vorwort niedergelegt, so etwa die Erkenntnis, dass wir bei der Bekämpfung der Seuche „tendenziell auf Methoden zurückgriffen, die bereits mittelalterliche und frühneuzeitliche Städte  anwandten: Quarantäne, ‚Lockdown‘, Abstand, Masken und die Schließung von öffentlichen Einrichtungen“, wobei die angeordneten Maßnahmen „stets den Kern des Gesellschaftsvertrags zwischen den Herrschern und den Beherrschten (beträfen)“ und „die Gewohnheit, Seuchen eine moralische Bedeutung zuzuschreiben, ebenso alt wie die schriftliche Dokumentation ihrer Auswirkungen“ sei (S. 7ff.). Auch der Umgang des amerikanischen Präsidenten Donald Trump – der mit seinem Verhalten und seinen Persönlichkeitsmerkmalen den Verfasser „unwillkürlich an Wilhelm II. denken [lässt], den […] unfähigsten deutschen Kaiser“ (S. 15) – mit der pandemischen Herausforderung kommt zur Sprache und mündet in den allgemeinen Schluss, Trumps Präsidentschaft habe bewiesen, „dass sogar eine reife, mächtige und selbstbewusste Demokratie, die sich auf liberale Werte stützt, atavistische Ungeheuerlichkeiten hervorbringen kann“ (S. 17).

 

Die folgenden, insgesamt 13 Essays, die sich über einen weiten Zeitrahmen von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart erstrecken, sind jedoch allesamt bereits vor der Corona-Krise entstanden und thematisieren diese daher auch nicht. Sie speisen sich aus den hervorragenden Interessen Christopher Clarks, den Themenkomplexen Religion, politische Macht sowie das Bewusstsein der Zeit, und sind in ihrer Mehrheit zwar jeweils erweitert und überarbeitet, in dem Bemühen um Authentizität jedoch nicht aktualisiert worden, denn: „Die Aufsätze in diesem Buch sind, genau wie ihr Verfasser und die darin auftretenden Protagonisten, Gefangene der Zeit“ (S. 19). Um dem Leser die Entstehungskontexte der einzelnen Beiträge sichtbar zu machen, werden diese durchgehend in einem kurzen erklärenden und kursiv gedruckten Absatz, welcher der jeweiligen Titelzeile folgt, dargelegt. Zwei Texte („Liebesgrüße aus Preußen. Fanatismus, Liberalismus und Öffentlichkeit im Königsberg der 1830er Jahre“ sowie „Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz“) sind darüber hinaus wegen der überwiegenden Verwendung archivalischer Quellen mit einem Nachweisapparat ausgestattet.

 

An der Spitze steht der Beitrag „Der Traum des Nebukadnezar oder Gedanken über die Macht“ (S. 21ff.), der, ausgehend von einer Episode im alttestamentarischen Buch Daniel, über den definitorisch unter anderem wegen seines Charakters eines „rein relationale(n) Konzept(s)“ (S. 27) kaum fassbaren Machtbegriff Konzentrations- und Legitimierungsprozesse und in der Folge Machtakkumulation im Zusammenhang mit der Staatenbildung, mit linken und rechten Diktaturen sowie in pluralistischen Systemen – ein intensiverer Seitenblick gilt der Verfasstheit des US-amerikanischen Präsidentenamts – beleuchtet. Letztendlich sei Macht aber, so wird konstatiert, nicht nur etwas von außen an uns Herangetragenes, sondern zugleich im strengen Sinn das, wovon unsere Existenz abhängt und das wir in uns selbst hegen und pflegen“ (S. 57).

 

Es folgt mit „Die Juden und das Ende aller Tage“ (S. 59ff.) einer von zwei Texten, die zentral um das Thema Religion kreisen. Christopher Clark geht dabei von den (wenig erfolgreichen) institutionalisierten Bestrebungen zur Judenmission (etwa des Hallenser Institutum Judaicum im 18. Jahrhundert) aus – also dem Versuch, Juden zur Konversion zum christlichen Glauben zu bewegen – und verortet den Impetus dieses Anliegens in dem sich verändernden Endzeitdiskurs der christlichen Heilslehre. Über die Jahrhunderte wandelte sich dort, auch in Verbindung mit einem (Teil-)Säkularisierungsprozess im Judentum, eine weitgehend positive Wahrnehmung (bei Philipp Jakob Spener ausgedrückt im Diktum „Das Heil kommt von den Juden“) in ihr krasses Gegenteil (Heinrich von Treitschke: „Die Juden sind unser Unglück“). Es seien „jene untergetauchten, nicht mehr als religiös erkennbaren Bruchstücke des eschatologischen Narrativs, die noch heute jene säkularen antisemitischen Diskurse antreiben, in denen die jüdische Frage ein Thema von kosmischer Bedeutung bleibt“ (S. 82). Einen anderen Fokus haben die bereits oben zitierten „Liebesgrüße aus Preußen“ (S. 123ff.): Die beiden Königsberger protestantischen Prediger Johannes Wilhelm Ebel und Georg Heinrich Diestel waren Ende der 1830er Jahre in das Visier der preußischen Obrigkeit und der Justiz geraten, indem man den von ihnen geleiteten, lokal stark frequentierten Glaubensgemeinschaften, die den unter König Friedrich Wilhelm III. einsetzenden repressiven Bestrebungen der Schaffung einer einheitlichen „Evangelischen Kirche der Preußischen Union“ wenig abgewinnen konnten, Sektierertum vorwarf. Eine Empörung vorschützende Presse lancierte Schmutzkampagnen, die vor allem das angeblich zügellose Geschlechtsleben und die moralische Verworfenheit der „Sektenmitglieder“ geißelten. Juristisch blieb wenig übrig: „Die offizielle Strafverfolgung (beschränkte sich) auf die Anklagen im Zusammenhang mit der illegalen Gründung einer Sekte. Und dieses Verstoßes wegen wurden die beiden Männer nach einem zweijährigen Prozess vom Strafsenat im März 1839 auch für schuldig befunden. Zwei Jahre später wurde allerdings auch dieses Urteil vom Oberappellationsgericht aufgehoben“ (S. 145). Der breitere Kontext der öffentlichen Diffamierungen im sogenannten „Muckerprozess“ ist für den Verfasser aber – neben gegen die Frauenemanzipation gerichteten Tendenzen – die damals „aufkeimende öffentliche Sphäre“; man erkenne gerade in dem dargelegten Beispiel „keine triumphale Manifestation des Habermas’schen Idealtypus, sondern einen eher finsteren […] Blick auf die historischen Bedingungen, unter denen die Idee einer ausschließlich liberalen und nationalen Öffentlichkeit geboren wurde“ (S. 152).

 

Auf das Feld des Militärischen begeben sich zwei Aufsätze: „Welche Bedeutung hat eine Schlacht?“ (S. 83ff.) und „Die Zukunft des Krieges“ (S. 247ff.). Von Alexander des Großen Schlacht von Issus/Issos 333 v. Chr. bis zur Schlacht bei Jena 1806 spannt Christopher Clark den Bogen seiner Überlegungen und verweist auf eine Reihe von Werken verschiedener Autoren, die in Anlehnung an die „Fifteen Decisive Battles of the World“ (1851) Edward Shepherd Creasys den Begriff der Entscheidungsschlacht im Titel tragen. Die Dominanz der analytischen Untersuchung von Niederlagen lege nahe, dass „das Scheitern ein weit besserer Lehrmeister als der Erfolg“ sei (S. 99). Nach der Schlacht bei Jena brachte der preußische König mit Hilfe einer Riege reformorientierter Beamter „eine Reihe von Regierungserlassen auf den Weg, die die Struktur der politischen Exekutive in Preußen veränderten, die Wirtschaft deregulierten, die Grundregeln der ländlichen Gesellschaft neu formulierten und die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft neu gestalteten. Die Niederlage konnte eine Gesellschaftsreform hervorbringen, weil die Katastrophe bei Jena diagnostisch als Ausdruck tief verwurzelter systemischer Funktionsstörungen interpretiert wurde“ (S. 102f.). Für die Kriege der Zukunft müsse die Vorstellung einer Entscheidungsschlacht zunehmend verworfen werden, würden doch seit der Auflösung der starren Ost-West-Polarität 1989/1990 immer öfter „militärische Interventionen tendenziell zu chronischen Aufständen und Bürgerkriegen ausufern“ mit einer „Deterritorialisierung der Gewalt in Regionen, die von zerfallenden Staaten gekennzeichnet sind“ (S. 258f.). Das in Anbetracht erschreckender neuer Waffensysteme und der Möglichkeiten automatisierter Kriegsführung umso dringlichere Streben nach Frieden erfordere in erster Linie eine Perspektive, in der „wir uns selbst nicht nur als Staaten, Stämme oder Nationen betrachten, sondern als die menschlichen Bewohner eines gemeinsamen Raums“; dringend müsse man auch „die intellektuelle Arbeit, die in den Zentren für Kriegsstudien stattfindet, mit der Forschung an Friedensinstituten verknüpfen“ (S. 261). Dass die Herausforderungen der Zukunft nicht allein auf dem militärischen Sektor liegen werden, veranschaulicht der an das Ende des Bandes gestellte Beitrag „Unsichere Zeiten“ (S. 305ff.), der mit Blick auf die Krisen, die Europa und die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges heimgesucht haben, explizit das nunmehrige Fehlen einer tragfähigen und zukunftsträchtigen Meistererzählung kritisiert, wie sie Europa einst erfolgreich besessen habe: „Es war eine Geschichte über Modernität, über das langsame Zusammenwachsen, über den zunehmenden Wohlstand, der mit wirtschaftlichem Wachstum verbunden ist, und über die Universalität und die unverzichtbaren Vorzüge eines spezifisch europäischen liberal-demokratischen Gesellschaftsmodells“ (S. 318).

 

Betrachtungen zur Übertragbarkeit praktischer Muster in der Politik über Epochen hinweg stellt der Text „Von Bismarck lernen?“ (S. 107ff.) an. Er führt aus, wie sich Dominic Cummings, Sonderberater des britischen Premierministers Boris Johnson, im Brexit-Prozess mit dem Ausmanövrieren des Parlaments ganz bewusst und explizit eines Vorgehens bediente, wie es Bismarck einst während der Verfassungskrise von 1862 um die preußische Heeresreform erfolgreich zur Anwendung gebracht hatte. Der Verfasser beobachtet darüber hinaus allgemein, dass sich „eine neue Kohorte aggressiver, gebieterischer Persönlichkeiten […] weltweit an der Spitze vieler politischer Strukturen“ in Anlehnung an Bismarck dessen wirksamer, aber demokratisch fragwürdiger politischer Methoden bemächtigt habe, doch „den meisten Leuten, die diese Techniken einsetzen, mangelt es für gewöhnlich an der Intelligenz und Voraussicht Bismarcks. Sie wissen, wie man Institutionen zerstört, aber nicht, wie man sie aufbaut“ (S. 121f.).

 

Mit den beiden Beiträgen „Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz“ (S. 179ff.) und „Psychogramme aus dem Dritten Reich“ (S. 211ff.) findet auch die nationalsozialistische Diktatur Adolf Hitlers ihren Niederschlag. Der christlich sozialisierte Johannes Albrecht Blaskowitz (1883 – 1948) hatte als Oberbefehlshaber Ost 1939/1940 in mehreren Berichten erfolglos in Polen begangene Gräueltaten der SS- und Polizeiverbände angeprangert, war jedoch dem aktiven militärischen Widerstand ferngeblieben; nach dem Krieg interniert und angeklagt, nahm er sich trotz guter Aussichten auf einen Freispruch das Leben. Generaloberst Blaskowitz stehe damit „exemplarisch für die Unzulänglichkeit eines jeden Paradigmas, das lediglich ‚Gehorsam und Widerstand als die beiden unterscheidbaren Haltungen der [deutschen] Bevölkerung gegenüber dem NS-Staat‘ nennt“ (S. 209). Die „Psychogramme“ beschäftigen sich mit der wechselseitigen Beziehung zwischen den traditionellen Eliten der deutschen Gesellschaft – besonders dem Adel – und den Nationalsozialisten, der Bedeutung von Veranstaltungen, Statussymbolen und korrumpierenden Geschenken, mit der Persönlichkeit Heinrich Himmlers sowie mit der „Fülle an Inkarnationen, die sich durch die Hitler-Forschung ziehen“, und entweder „unsere ,anhaltende Unfähigkeit, Hitler zu verarbeiten‘“, oder aber „die hypertrophische Überverarbeitung von etwas, das uns unablässig provoziert, aber auf gewisse Weise auch unsere Kultur antreibt“, dokumentieren (S. 244f.).

 

Es verbleiben vier Beiträge, die in der einen oder anderen Weise Fachkollegen des Verfassers in den Fokus rücken. „Der Kaiser und sein Biograph“ (S. 155ff.) würdigt mit John Röhl Persönlichkeit und Werk des hervorragenden Biographen Kaiser Wilhelms II. Uneingeschränktes Lob erfährt die quellengesättigte, äußerst genaue und akribische Arbeit Röhls, während einige seiner zentralen Thesen (eine mögliche Geisteskrankheit des Kaisers, Wilhelms angebliche Machtfülle und sein behauptet klarer Entschluss zum Weltkrieg) in Zweifel gezogen werden. „Hoch in heiterer Luft“ (S. 263ff.) ist eine Laudatio anlässlich der Emeritierung des Konstanzer Globalhistorikers und Verfassers von „Die Verwandlung der Welt“ (2009), Jürgen Osterhammel, der „Nachruf auf einen Freund“ (S. 276ff.) Clarks früh verstorbenem guten Freund und Kollegen in Cambridge, Sir Christopher Alan Bayly, gewidmet, der auf dem Gebiet der Geschichte des British Empire – im Speziellen der Geschichte Indiens – neue Akzente gesetzt und sich mit der Etablierung globalgeschichtlicher Perspektiven besondere Meriten erworben hat. In „Von Nationalisten, Revisionisten und Schlafwandlern“ (S. 287ff.) antwortet Christopher Clark mit durchaus einleuchtenden Argumenten in eigener Sache jenen Kritikern, die seiner „Die Schlafwandler“ (2013) betitelten, bahnbrechenden und auch wirtschaftlich höchst erfolgreichen Studie zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs revisionistische Ambitionen hinsichtlich der Kriegsschuldfrage unterstellen. Es zeugt von der diplomatischen Klugheit des Verfassers, dass er diesen prominenten Fachkollegen – namentlich angeführt werden Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler, Jörn Leonhard, John Röhl, Volker Ullrich und Lothar Machtan – ausdrücklich für ihre Beiträge zur Diskussion dankt, die vor allem zeigten, „welch tiefe Bedeutung in Deutschland der Geschichte zukommt und wie leidenschaftlich historische Debatten in allen Medien und im öffentlichen Leben geführt werden“ (S. 304).

 

Insgesamt sind es treffende Blitzlichter auf die Interessenschwerpunkte im umtriebigen geschichtswissenschaftlichen Schaffen des Christopher Clark, die er hier gleichsam in nuce konzentriert und zur vorliegenden Schrift versammelt hat. Im Hintergrund der einzelnen Beiträge wirkt jeweils sein theoretisches Verständnis von Zeitlichkeit, wie er es in „Von Zeit und Macht“ (2018) schärfer umrissen hat. Die Relevanz und Omnipräsenz historischer Narrative als Deutungsrahmen für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen wird dabei besonders augenfällig.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic