Brüggemann, Jens, Männer von Ehre? Die Wehrmachtgeneralität im Nürnberger Prozess 1945/46. Zur Entstehung einer Legende (= Krieg in der Geschichte 112). Schöningh, Paderborn 2018. 631 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Uneingeschränkt als „Männer von Ehre“ zu gelten, war ein essentieller Teil des Selbstverständnisses des deutschen Offizierskorps. Insbesondere das öffentliche Bild des Berufsstandes musste diesem Ethos zufolge von allen Anfechtungen unberührt bleiben, sodass jene, die in irgendeiner Weise gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstießen – wie beispielsweise höchst prominent der ambitionierte Reichswehrminister Werner von Blomberg durch seine Eheschließung mit einer Frau von zweifelhaftem Vorleben –, ihren Anspruch auf Reputation verwirkt hatten und von Ihresgleichen fürderhin mit sozialer Missachtung gestraft wurden. Vaterlandsliebe, todesmutige Kampfbereitschaft und faire Achtung für den militärischen Gegner galten dem ehrenhaften Offizier als selbstverständliche Tugenden, was jedwede Beteiligung an Kriegsverbrechen a priori ausschloss. Als mit der bedingungslosen Niederlage des Deutschen Reiches zahllose Verbrechen offenkundig wurden und klar wurde, dass auch dafür verantwortliche Angehörige der höheren und höchsten Führungsebenen der Wehrmacht juristisch zur Rechenschaft gezogen werden sollten, sahen sich die „Männer von Ehre“ in ihren Grundfesten gefährdet: Mit möglichen Verurteilungen drohte der Gruppe der Absturz in die gesellschaftliche Ächtung, verbunden mit allerhand individueller Unbill. Das Bild der Wehrmacht „unbefleckt“ zu erhalten, lag damit im existentiellen Interesse ihrer maßgeblichen Proponenten, vornehmlich der Generalität.

 

Zum ersten Mal wirft nun Jens Brüggemann in seiner an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg approbierten Promotionsschrift einen näheren Blick auf das Verhalten und die Strategien speziell jener Interessengruppe im Zuge des Nürnberger Internationalen Militärtribunals (IMT) 1945/1946. Unter den als Hauptkriegsverbrecher angeklagten, verurteilten und gehängten Männern befanden sich mit Feldmarschall Wilhelm Keitel und Generaloberst Alfred Jodl die Spitzen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und dessen Führungsstabes (WFSt). Eine Gruppenanklage gegen „Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht“ – 114 überlebende Offiziere mit Spitzenpositionen im OKW, in der Führung der Teilstreitkräfte oder als Oberbefehlshaber von Heeresgruppen und Armeen zwischen 1938 bis 1945 – sollte ferner die Frage klären, inwieweit dieser Personenkreis in toto als verbrecherisch eingestuft werden könne, was der Gerichtshof dann ausschließlich aufgrund formaler Kriterien verneinte. Obwohl das Urteil des Tribunals unmissverständlich von einem „Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk“, von einer „rücksichtslose(n) militärische(n) Kaste“ spricht, die „an all diesen Verbrechen [Hitlers, W. A.] rege teilgenommen habe( ) oder in schweigender Zustimmung verharrte( )“, und konsequent entsprechende Einzelverfahren empfiehlt, sei es in der Folge öffentlich zu einem kollektiven „Freispruch der Wehrmacht“ umgedeutet und so propagiert worden. Die Ansicht, die Wehrmacht sei „ausdrücklich nicht als verbrecherische Organisation eingestuft“ worden, habe folglich als „Fehlinterpretation“ zu gelten, die gleichwohl bis heute in ernstzunehmende wissenschaftliche Schriften Eingang finde (S. 405f.).

 

Die Darstellung setzt in Abschnitt A, der ersten der drei großen inhaltlichen Einheiten, mit dem Thema der Kriegsgefangenschaft und deren von den Generälen als unangemessen wahrgenommenen Unbequemlichkeiten bei der Unterbringung und Verpflegung ein, die den Statusverlust offenkundig machten. Nichtsdestotrotz habe die Internierung bereits erste Absprachen unter den Gefangenen ermöglicht, aber auch die Informationsbeschaffung auf Seiten der Alliierten, obwohl das Nürnberger Procedere zunächst noch nicht feststand, das in seinen Grundlagen erst zwischen Juni und August 1945 (Londoner Charta mit dem IMT-Statut) ausgearbeitet wurde. Anschließend erfolgte die Überstellung der kriegsgefangenen Offiziere nach Nürnberg, wo Keitel und Jodl im streng abgeschirmten „Kriminalflügel“ einsaßen, während weitere Spitzenvertreter der Wehrmacht zusammen mit anderen Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes als potentielle Zeugen im „Zeugenflügel“ Aufnahme fanden, wo sie sich frei bewegen, untereinander absprechen und ihre Verteidigungsstrategie nach Gutdünken abstimmen und ausfeilen konnten. Um Material für die Anklage zu gewinnen, wurden Keitel und Jodl zunächst umfangreichen Vorverhören unterzogen, in denen sie immer wieder mit einzelnen belastenden Dokumenten konfrontiert wurden. Am 19. Oktober 1945 wurde ihnen die Anklageschrift, bestehend aus 49 Seiten, übergeben, die sich im Haupttext „in einer sehr allgemeinen Form“ äußerte und auf die Einzelverantwortlichkeit der Angeklagten nur „in einem von drei Anhängen“ einging (S. 112). Zugleich mit der Übergabe ergingen Informationen zu den Möglichkeiten zur Verteidigung, wobei das Gericht auch eine – unverbindliche – Anwaltsliste bereitstellte.

 

Die Zusammenarbeit zwischen den Angeklagten, ihren Anwälten und den Zeugen ist Gegenstand des Abschnittes B der Arbeit. Bei der Auswahl der Verteidiger habe das Vertrauen in persönliche Beziehungen eine wichtigere Rolle gespielt als facheinschlägige Kompetenz. Das Verteidigerteam um Alfred Jodl und seine Frau Luise bildeten der bereits schwer erkrankte Kriminologe Franz Exner und der Völkerrechtsprofessor Hermann Jahrreiß. Über verwandtschaftliche Vermittlung kam Wilhelm Keitel zu seinem Verteidiger Otto Nelte, eigentlich ein Experte für Steuer- und Wirtschaftsrecht. Nelte „war der einzige Verteidiger der Spitzenvertreter der Wehrmacht in Nürnberg, der eine kritische Perspektive auf die Rolle dieses Personenkreises entwickelte“ (S. 129). Unter seinem Einfluss zeigte sich Keitel zu inhaltlichen Zugeständnissen und zum Einräumen moralischer Schuld bereit, wohingegen Jodl – ganz im Einklang mit der Position der übrigen Generalität – „zu keinerlei Zugeständnissen an die Anklage bereit (war), zu keinem Eingeständnis eigener oder von Fehlern der Wehrmacht“ (S. 257). Wie Exner mit einhelliger Billigung der Offiziere anregte, sollte bei der Gruppenanklage gegen „Generalstab und OKW“ ein General die Verteidigung übernehmen, ein Anliegen, das das Gericht aber verwarf. Mit Hans Laternser ging schließlich dieses Mandat an einen Anwalt, „der in den kommenden Jahren zum prominentesten Verteidiger von Angehörigen der Wehrmachtelite werden sollte“ und dessen persönliche Kriegserfahrung „einen bedeutenden Teil seiner Motivation dafür ausgemacht haben wird, sich in der Nachkriegszeit so vehement für […] ehemalige Spitzenoffiziere und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit einzusetzen“ (S. 136). Und: „Anders als die Verteidiger von Keitel und Jodl scharte Laternser in Nürnberg keine Familienmitglieder als Mitarbeiter um sich“ (S. 137). Vielmehr beschäftigte er eine erkleckliche Zahl an Sekretärinnen, Anwälten und namhaften juristischen Gutachtern und kommunizierte darüber hinaus laufend und intensiv mit über zwanzig Spitzenoffizieren, darunter Manstein, Brauchitsch, Halder und Kesselring. Über dieses Netzwerk flossen der Verteidigung Affidavits – schriftlich fixierte eidesstattliche Versicherungen – in großer Menge zu. Zusammen mit der geschilderten Dynamik im Zeugentrakt hätten sich so für den Verteidiger Laternser wesentlich günstigere Möglichkeiten aufgetan, als dies für die Anwälte der weitgehend isolierten Hauptangeklagten Keitel und Jodl der Fall gewesen sei.

 

Ob die Wehrmachtsgeneralität in ihrer Verteidigung ein homogener Block geblieben sei oder ob sich Dissonanzen zwischen verschiedenen Interessensgruppen ergeben haben, untersucht Abschnitt C der Studie. Hierbei wird deutlich, dass sich sehr wohl erhebliche Risse im Gefüge ausmachen lassen. An erster Stelle steht das Bestreben der Heeresoffiziere und Truppenkommandeure, alle Verantwortung auf das OKW und damit auf die beiden Hauptangeklagten abzuwälzen, die als „Nazi-Offiziere“ die Vorgaben der politischen Führung gegen den Widerstand einer integren Heeresspitze willfährig vollzogen hätten. Bei dieser Erzählung vermochte man auf Seiten der Heeresoffiziere zunächst von Informationsmängeln der Alliierten im Hinblick auf die Kenntnis des realen Hierarchieverhältnisses zwischen dem OKW und dem Oberkommando des Heeres (OKH) zu profitieren. Systematisch ausgebaut wurde sie dann in den Folgejahren im Zuge der Mitarbeit deutscher Generäle unter der Federführung Franz Halders an der US-amerikanischen Kriegsgeschichtsschreibung im Rahmen der Historical Division, sodass dieser Blick auf die Wehrmacht nicht nur in Deutschland, sondern auch beim westlichen einstigen Kriegsgegner und nunmehrigen Verbündeten zur vorherrschenden Deutung wurde. Aber auch das Verhalten unter den Angehörigen des OKW war nicht wirklich solidarisch, denn beispielsweise habe der Stellvertreter Jodls, Walter Warlimont, alles dazu getan, seine eigene Verantwortung auf den Chef abzuschieben und die eigene Rolle als so unbedeutend wie nur möglich darzustellen. Trotz aller internen Diskrepanzen sei die Generalität aber im ureigenen Interesse bestrebt gewesen, Kameraden nicht durch Aussagen direkt zu belasten. Bei Bedarf boten sich als Sündenböcke neben den beiden Hauptangeklagten vor allem mittlerweile Verstorbene, wie Reichenau und Blomberg, an. Wenn Kompromittierendes nur ansatzweise zu vermuten stand, wie in den Affidavits von Hans Röttiger und Adolf Heusinger, seien die Abweichler von der Verteidigung auf Linie gebracht worden und hätten sich spätestens in den von Laternser vorgenommenen Kreuzverhören in dem erwünschten Sinn geäußert. „Auch nach dem IMT unterliefen nur ganz wenige dieses einende Band. Im Wesentlichen gilt dies für zwei Männer. […] Erwin von Lahousen […] war bereits beim IMT als Zeuge aufgetreten und hatte dort vor allem Keitel belastet. […] Bei (Generalmajor Walter Bruns) handelte es sich um den einzigen General, der in der Nachkriegszeit bereit war, aus dem Kreis seiner Kameraden zu treten und offen zu bekennen, dass er unmittelbare Kenntnis von der Massentötung von Juden in der Sowjetunion gehabt hatte. […] Während der Gefangenschaft war er nicht der Einzige gewesen, der von solchen Massentötungen berichtet hatte, wie weitere Abhörprotokolle belegen. Die Reaktionen im Kreis der Offiziere fielen unterschiedlich aus, ebenso zu anderen Verbrechen, wie etwa zur Umsetzung des Kommissarbefehls, über den ebenso frei gesprochen wurde. Manche zeigten sich gleichgültig, rechtfertigten die Taten, teilweise gab es Momente der Zustimmung, aber es überwogen doch Verlautbarungen der Empörung, der Ablehnung, der Verachtung für die Täter. […] Aber keiner dieser Offiziere, Bruns ausgenommen, trat damit bei den Nachkriegsprozessen an die Öffentlichkeit“. Die wahrscheinlichsten Gründe für dieses Verhalten: „Sorge, sich selbst zu belasten, mit unabsehbaren Folgen für die eigene Zukunft“, vor allem aber der „Korpsgeist“ (S. 410ff.), ein sozialer Kitt, der bis in die Gegenwart die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten und Straftaten in entsprechend geprägten Institutionen erschwert.

 

Ein besonderes Verdienst der vorliegenden Studie ist es, dass sie den Blick auf einige Details des IMT-Verfahrens richtet, die Rückschlüsse auf dessen Fairness zulassen. Dies gilt einmal für die Vorverhöre, in denen die Beschuldigten und Zeugen einzeln von verschiedenen englischsprachigen Vernehmern im Beisein eines Dolmetschers und eines Gerichtsschreibers häufig unter gleichzeitiger Vorlage belastender Dokumente befragt wurden. Je nach Vernehmer habe sich der Verhörstil zwischen den Polen höflich-vertrauensvoll und brüsk-autoritär bewegt. Die Protokolle seien den Verhörten später vorgelegt worden und konnten von diesen vor der Unterzeichnung ohne jede Einschränkung mit Streichungen und Korrekturen versehen werden. So gebe es trotz des bei den Vorverhören erzeugten Drucks keine substantiellen Anhaltspunkte für die Annahme, dass „die Anklagebehörde in den Verhören unangemessene und manipulative Methoden eingesetzt habe, um Aussagen von Zeugen zu erhalten“. Ergänzend lasse der stichprobenweise Vergleich von Audiomitschnitten der Verhöre und Gerichtsverhandlungen mit den angefertigten Protokollen – diesem Vergleich ist ein über 130 Seiten starker Dokumentenanhang gewidmet (S. 449 – 581) – zwar verschiedene, plausibel erklärbare Abweichungen erkennen, sachlich relevante Textunterschiede feststellen ließen sich dabei jedoch „nur in einem Bereich von etwa fünf Prozent bei den Vorverhörprotokollen und unter einem Prozent bei den Gerichtsprotokollen. Da die Fehler nicht selten zum Nachteil der Anklage waren, ist eine Intention zu Ungunsten der Angeklagten von Seiten der Alliierten nicht anzunehmen“ (S. 436f.).

 

Die Grundlagen, welche die Generäle und ihre Verteidiger in Nürnberg im Hinblick auf die zukünftige Wahrnehmung der Wehrmacht legten, waren bekanntlich, wie auch das Kapitel „Zur Etablierung einer Erzählung“ skizziert, mit den gesellschaftlichen und politischen Bedürfnissen der Folgejahre höchst kompatibel. Die Urteile gegen weitere Spitzenoffiziere in Folgeverfahren erwiesen zwar unzweifelhaft deren Schuld, „doch nicht die Urteile der Richter sollten sich als entscheidend für die weitere Entwicklung erweisen, sondern die Wahrnehmung und Deutung dieser Urteile sowie der Gerichtsverfahren in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit“ (S. 421). Die im OKW-Prozess (Fall 12 der Nürnberger Nachfolgeprozesse NMT) 1949 zu lebenslanger Haft verurteilten OKW-Angehörigen Hermann Reinecke und Walter Warlimont waren so 1954 wieder auf freiem Fuß. Entsprechende Ehrenerklärungen Eisenhowers und Konrad Adenauers 1951 hatten auch politisch den Weg dafür geebnet, dass „eine Thematisierung von Verbrechen, in welche die Wehrmacht und ihre Spitzenoffiziere involviert gewesen waren, […] für Jahrzehnte keine bedeutende Rolle mehr im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland spiel(te)“ (S. 429).

 

Mit seinem anschaulichen Einblick in den konkreten Ablauf der IMT-Verfahren gegen die Wehrmachtelite hat Jens Brüggemann Neuland betreten und dabei plausible Kausalitäten für die Formung jenes Wehrmachtsbildes sichtbar gemacht, das für Jahrzehnte im Westen vorherrschen sollte. Zentral bleibt die bemerkenswerte Erkenntnis, dass es im Zuge des Prozesses die bedrängte Wehrmachtselite selbst war, die, begünstigt durch diverse Rahmenbedingungen und mit viel Geschick nicht zuletzt ihres Anwalts Hans Laternser, ihrer eigenen Deutung eine allgemeine und dauerhafte Geltung zu verschaffen vermochte. Das unmissverständliche Fazit des Verfassers: „Hier hatten eindeutig nicht die Sieger Geschichte geschrieben“ (S. 431). Die völkerrechtlichen Innovationen und Rechtsfragen, die mit den Prozessen einhergehen, bilden hingegen keinen Schwerpunkt der Arbeit, werden jedoch anhand der relevanten Forschungsliteratur dennoch thematisiert und kursorisch referiert (vgl. S. 104ff.). Positiv hervorzuheben ist das Quellenverzeichnis aufgrund der detailreichen und präzisen Auflistung der Unterlagen. Die Überschrift zu Punkt C.1.2.b der Studie ist leider durch einen Grammatikfehler (vgl. Inhaltsverzeichnis, S. 7 sowie S. 233) beeinträchtigt, an anderer Stelle (S. 439) ist mit Bezug auf die Heeresoffiziere fälschlich von einer Waffengattung (anstatt richtig: Teilstreitkraft) die Rede.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic