Blass, Ernst, „in kino veritas“. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924-1933, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen hg. v. Reinthal, Angelika. Elfenbein, Berlin 2019. 285 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

„Eröffnungsvorstellungen haben das Gewohnheitsrecht, zu misslingen.“ Ernst Blass

 

Der Lyriker, Essayist und Schriftsteller Ernst Blass (1890-1939) zählt zu den in der Literaturgeschichte und Filmgeschichte vernachlässigten, ja vergessenen Persönlichkeiten. Die als herausragende Kennerin und Editorin zumal von speziellen juristischen Briefwechseln und Werken Hans Kelsens und Carl Schmitts ausgewiesene Forscherin Angela Reinthal hat sich in dieser Arbeit mit der Erschließung und Herausgabe der Filmkritiken und Essays von Ernst Blass zum Film der Weimarer Epoche sehr verdient gemacht. Zugleich mit ihrem fast eine kleine Filmgeschichte Weimars darstellenden fundierten Nachwort wird hier aus der verblüffend hohen Zahl von bislang ganz unbekannten 324 Zeitungstexten und Zeitschriftentexten eine Auswahl von 147 prägnanten Beispielen präsentiert. In bisherigen Ausgaben mangelte es an ihnen. Die große Mehrzahl wurde seinerzeit in dem renommierten „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht. Ernst Blass, bislang vornehmlich als Lyriker des Expressionismus ein Begriff jedenfalls unter Experten der Germanistik und Literaturgeschichte, tritt damit als veritabler Filmkritiker neben die weitaus bekannteren Siegfried Kracauer, Kurt Pinthus, Hans Sahl oder Herbert Ihering und als eine nun nicht mehr zu übersehende Stimme zur Filmkunst, Filmkritik und Filmgeschichte der Zwanziger Jahre glanzvoll in Erscheinung. Das Genre der Filmkritik, zu Beginn der 1920er Jahren bekanntlich vor allem durch Kracauer in der „Frankfurter Zeitung“ entwickelt und gepflegt, wird mit seiner soziologisch angelegten Betrachtungsweise im Vergleich zur literarisch-impressiven Anlage der bisweilen filigraneren und gefälliger formulierten Texte von Blass sichtbar. Eine nun mögliche nahe Betrachtung der Eindrücke und Rezeption der Filme wie etwa „Panzerkreuzer Potemkin“ bei so unterschiedlichen Ansätzen, Tendenzen, Produktionsweisen und Qualitätsmaßstäben lässt die Charakteristika nach Inhalten, Stil und Sichtweisen nun schärfer als bisher hervortreten. Die Texte lassen sich indirekt als Exponate der Evolution von Filmrecht und Filmzensur lesen. Gleichermaßen wie andere, die heute als die Großen der Filmkritik der Stummfilmzeit bekannt sind, widmet sich der schon in jungen Jahren als Kinogänger herangebildete Autor der nützlichen Neigung zu den „Märchen unserer Zeit“, der Suche oder Sucht der Massen nach „Illusionen, Romantik und Abwechslung“. Mochte er sich auch manchmal in seiner Funktion – einem Wort von Kurt Weill und Bertolt Brecht folgend – als „kalt und herzlos“ stilisieren – seine zuweilen pointillistischen, dem flüchtigen Eindruck der Netzhaut verpflichteten Traktate und Referenzen vermitteln selbst dem heutigen Leser weit mehr als nur flüchtige oder historisierende Ansichten eines Liebhabers der filmischen Kunst seiner Zeitläufte. Filme, namentlich die „Russenfilme“, aber auch die amerikanischen von Chaplin, Buster Keaton bis zu TomMix und Rin-Tin-Tin finden seine sensible Sympathie. Die Filmökonomie, das Umfeld der Branche, die Ausprägungen deutscher und ausländischer Filmunternehmungen geraten weniger, eher indirekt in den Fokus. In jeglicher Perspektive ungerecht und faktisch falsch wird man das von der Herausgeberin zitierte lobende, in Wahrheit abfällige posthume Wort Walter Kiaulehns (er ein oberflächlicher Feuilletonist, NS-Opportunist, willfähriger Kriegsberichterstatter nach 1940 und überaus gewandter Mitläufer des Militarismus und Nachkriegsgewinnler nach 1945) empfinden: der schwere Mann mit den dicken Brillengläsern, der seine Texte nächtlich in Bars geschrieben habe , sei ein „gefürchteter Filmkritiker“ gewesen. Es sind fast durchweg ungemein liebevolle, oft mit freundlicher Nachsicht und manchmal geradezu rührender Anteilnahme verfasste Kurzbeschreibungen von Filmen aus der Hochblüte des deutschen Stummfilms - mit ihren von Blass hochgeschätzten und manches Mal sogar fast über den grünen Klee gelobten Schauspielern und Regisseuren. Elisabeth Bergner, Emil Jannings, Lubitsch, G. W. Pabst und die vielen anderen Hohenpriesterinnen, Heiligen und Präzeptoren der Gattungen konnten, anders als die Mehrzahl der Filmproduzenten Deutschlands bei Kracauer, weit weniger Grund zum Gang zur Klagemauer antreten. Blass wurde geschätzt, geliebt, schwerlich jemals gefürchtet. (Fürchten mussten Oppositionelle und Juden den Kiaulehn, der sich als Mitglied von Presse-Kriegskompanien in dem zweiten Weltkrieg über rassisch Verfolgte und die „Säuberung“ französischer Städte unrühmlich ausließ.) In diesen, in der Mehrzahl literarisch geformten Glanzstücken der Filmkritik und jetzt, sachkundig ausgewählt, nachzulesenden Beispielen der geglückten Sammlung spiegelt sich eine kurzlebige, schnell untergegangene Epoche wider, die alsbald fast ohne Umstände über den sog. Geräuschfilm zum epochalen Tonfilm wechselt. Blass tut sich nicht so leicht wie andere mit dem neuen, technisch ihn noch keineswegs zufrieden stellenden Medium. Sein Metier ist der Stummfilm der 1920er Jahre. Ihm verleiht er, wo immer möglich, den literarischen Lorbeer der Kunst. Für den jüdischen Schriftsteller endet die Publizistik zwangsläufig im Deutschland des Jahres 1933. Blass‘ grundsätzliche Kritik an deutscher und ausländischer Filmproduktion fällt in seinen, vielleicht eher immanent-ästhetisch Maß nehmenden Beiträgen durchaus weniger kritisch aus als in Kracauers ungleich zahlreicheren und weitaus heftiger formulierten Schriften. Blass galt immer als der milde Lyriker der Filmkritik, Kracauer bevorzugt die subtile oder scharfe Ironie und den philosophischen Scharfsinn gemixt mit nicht geringerer scharfzüngiger Gesellschaftskritik. Das „Berliner Tageblatt“ hat mehr Verständnis, ja zuweilen eher Mitleid mit der kostspieligen Branche. Blass, auch kein rückwärts gewandter Prophet, sparte nicht mit ehrlichem Lob für alle jene dienstbaren Geister der Zunft, welche die „Jagd nach dem Kassenhauer“ nicht mitmachen. Sein klangvolles Loblied gilt dem stummen „Kientopp“ als der „Seelengeschichte“ der Zeit. Noch in seinen eindringlichsten Essays trauert der eminente Theaterkritiker und Filmkritiker, so scheint es, den unendlichen Melodramen der stummen Leinwand nach – im Vergleich zum „erweiterten Theater“ des Tonfilms, das er der Geistfeindlichkeit zeiht. Dieter Kosslick, Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin, hat ein lesenswertes Geleitwort beigesteuert. In den letzten Texten, vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschrieben, klingt ein explizit pessimistischer Tonfall durch. Die Zeit, so lautete ein eher resigniertes Verdikt im Februar 1933 in der „Literarischen Welt“, „wirft Ballast ab“, trennt sich von dem, was ihm als höchster Wert galt.

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen