Wegner, Bernd, Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940-1944. Schöningh, Paderborn 2019. 272 S., 40 Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen. ZIER 9 (2019) 70. IT
Die spezifische Perspektive, die subjektiven Erfahrungswelten der deutschen Besatzer während der années noires bilden die Schwerpunkte dieser vielseitigen historisch-dokumentarischen Collage. Der Leser wird also keine zusammenhängende „Geschichte“ der militärischen und bürokratischen Besatzung erwarten dürfen, sondern eine einzigartige Zusammenführung von zeitgenössischen Reaktionen und Perzeptionen auf die „Dichotomie von Siegern und Besiegten, Tätern und Opfern“ (S.VII).
Bernd Wegner, Hamburger Universitätslehrer für neuere Geschichte, will die luziden Sichten auf das Paris unter der deutschen Besatzungsmacht, wie sie etwa durch die bekannten Aufzeichnungen etwa Ernst Jüngers, Fritz Arnolds, Simone de Beauvoirs, André Gides, Erich Kubys, Ernst von Salomons oder Hans Speidels bekannt geworden sind, erweitern und vertiefen, auch „herunterbrechen“ durch wichtige Quellen wie Feldpostbriefe, Tagebücher und besonders auch Gesprächsprotokolle abgehörter Unterhaltungen von Kriegsgefangenen. Die aufschlussreichen Egozeugnisse treten neben die Akten der Dienste und Kommandos, Aufzeichnungen und Erinnerungen. Damit wird ein nicht statistisches, sondern in der Auswahl vor allem charakteristisches Parisbild deutscher Soldaten und Zivilisten entworfen. Es wird durch eine Vielzahl offiziöser Fotografien aufs anschaulichste belebt.
Trotz der collagierenden, mit sprechenden Zitaten illustrierten Anlage wird in 19 Kapiteln der historische und aktuelle Kontext nicht außer Acht gelassen. Nach dem Einmarsch und dem Waffenstillstand wirkt Paris „wie ausgestorben“, in der „ungeheuren Stille“ scheint es, als sei ein „Todeshauch“ über die Stadt gegangen. William Shirer, CBS-Korrespondent, registriert den totalen Zusammenbruch, den Kollaps von Armee, Regierung und Moral. Aussagen der politischen Propaganda, deren Aufnahme, die Beobachtungen und Gefühle der Offiziere und Mannschaften vermitteln ambivalente emotionale Weltsichten.
Die Lage in der Hauptstadt wird durch Flucht, Angst und Not, durch Verfolgung der Juden und der Resistance, durch Deportation, Zwangsarbeit und Kollaboration geprägt. Aber auch in der besetzten Stadt tritt alsbald die „Normalität“, die Routine, die Gewohnheit wieder in den Vordergrund. Der Mythos Paris als schönster Stadt der Welt, des Lichts, des eleganten Luxus und als Schmelztiegel der Kulturen wird in der düsteren Realität zu einer durchaus zwiespältigen Erfahrung der neuen Machthaber und der nicht gerade geringen Zahl der deutschen „Kriegstouristen“. Die Dienststellen der Gestapo, des Sicherheitsdiensts, später die Organisatoren der „Endlösung“ in Frankreich, die Abwehr und das Oberkommando des Heeres bevorzugen die exklusiven Luxus-Hotels der Metropole und nicht selten auch zusätzliche private Quartiere. Die Besatzer machen es sich auf unterschiedlichste Arten und Weisen bequem. Sie richten sich ein, soweit sie nicht damit befasst sind hinzurichten.
Im „sicheren“ Kriegszustand in Paris wird die Diskrepanz zwischen dem friedlich- luxuriösen Leben in der Hauptstadt Europas und der „Blutmühle des Ostkrieges“ als besonders krass und furchterregend empfunden. Doch der weitgehend ungehindert oder sogar ermutigt weitergehende Amüsierbetrieb, mit seinem amourösen Schaustellungen auf den „Mechanismus des Triebes“ (Ernst Jünger) abgestellt, setzt sich mehr oder weniger ungebrochen jahrelang fort. Es sind die Jahre seit etwa 1941, in denen der Schriftsteller als eleganter Hauptmann und Liebhaber im Hotel Raphael wohnend mit Speidel, Sieburg, Carl Schmitt, Arno Breker, Graf Podewils und Jouhandeau im Ritz, Bristol und George V. diniert, sich aber zugleich angesichts der Judenverfolgung als „Mensch und Offizier“ seiner eigentlichen Schutzverpflichtungen erinnert und den wohlfeilen angstgeprägten literarisierten Eindruck assoziiert, man müsse dazu jedoch wie „Don Quichote mit Millionen anbinden“ (S. 93).
Die Pariser Kunstschätze werden ausgeplündert. Görings und seiner Helfershelfer Beutezüge werden in Sonderzügen nach Deutschland transportiert. Deutsche Staatsbürger und Wehrmachtangehörige dürfen sich ebenfalls zu Schnäppchenpreisen eindecken. Allein im Jahre 1943 werden 125 Millionen Reichsmark, heute eine halbe Milliarde Euro, umgesetzt. Plünderungen bleiben folgenlos, die Ausplünderung einer kulturellen Hauptstadt steht auf der Tagesordnung, gehört zur „Normalität“ so wie die luxuriöse Existenz inmitten des Elends eines besiegten Volkes.
Wiederum bei Ernst Jünger und allenthalben wird in einer peinlichen Mischung aus Zufriedenheit und Überraschung reflektiert, dass sich die sexuelle Kollaboration, „solche Verknüpfungen fast ohne eigene Bemühung“ ermöglicht – Choco Chanel steht mit ihrer Liaison mit einem deutschen SS-Diplomaten an der Spitze.
„Das Ende kam auf leisen Sohlen.“ (S. 179ff.). Paris entging – wohl eher aus militärisch-pragmatischen Erwägungen als aus ethischen oder widerständigen Motiven – der totalen Zerstörungsvision und den brutalen Befehlen Hitlers zwecks Verwirklichung der verbrannten Erde.
Wegner stellt mit dieser inhaltlich und stilistisch eleganten und subtilen Präsentation vielfach unbekannten Quellenmaterials ein ungemein farbenreiches, differenziertes und nichts beschönigendes Panorama mit all seinen Schattierungen und Zwischentönen vor, das unser Geschichtsbild des Zweiten Weltkriegs im Westen innovativ bereichert.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen