Stopp, Heike, Hans Welzel und der Nationalsozialismus – Zur Rolle Hans Welzels in der nationalsozialistischen Strafrechtswissenschaft und zu den Auswirkungen der Schuldtheorie in den NS-Verfahren der Nachkriegszeit (= Beiträge zur Rechtsgeschichte103). Mohr Siebeck, Tübingen 2019. X, 189 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die hohe Bedeutung des Göttinger und Bonner Strafrechtslehrers Hans Welzel (1904-1977) für Dogmatik und Praxis des Strafrechts wurde einmal mehr deutlich, als der Große Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) im Jahre 1952 an einem wohl bewusst gewählten, eher marginalen, ganz unpolitischen Fall von der reichsgerichtlichen Vorsatztheorie abweichend sich zur Schuldtheorie und Welzels finaler Handlungslehre beim Verbotsirrtum bekannte (BGHSt 2, 194).

 

Welche eminent politische Bedeutung Welzels schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Lehren während des „Dritten Reichs“, aber vor allem in der Nachkriegszeit in den NS-Prozessen zukam, wird in der Regensburger Dissertation der Verfasserin (Betreuer: Tonio Walter) im Kontext der strafrechtlichen Dogmatik seit 1933 und der Rechtspraxis und Wissenschaft nach 1945 aufs eindringlichste beleuchtet.

 

Hans Welzels Biographie weist ihn im ersten Teil zwar als einen Gelehrten aus, welcher der sog. Kieler Schule (Dahm, Schaffstein u. a.) sehr nahestand, der jedoch nicht als einer der herausragenden „Strafrechtsideologen der Hitler-Diktatur“ (Ingo Müller) angesehen werden kann. Allerdings zeigen seine strafrechtlichen Veröffentlichungen (Teil 2), dass er sich wohl deutlich bedingt durch Karrieregründe in mehreren Veröffentlichungen Ende der 1930er Jahre klar zur nationalsozialistischen Ideologie, zum „konkreten Ordnungsdenken“ und zur geschichtlichen Volksgemeinschaft bekannte. Mit seiner Lehre von der Sozialadäquanz entwickelte er zudem eine für Einbrüche der Ideologie handliche Theorie für Willkürentscheidungen und rechtfertigte noch bis 1944 in diversen Publikationen hohe Strafen aufgrund unbestimmter Tatbestände und Normbestände.

 

Dass Welzel, nach 1945 allen Problemen der Entnazifizierungsära günstig entronnen, anders als etwa Schaffstein nie zu seinen früheren Positionen auf Distanz ging, sondern sie in seinen Lehren geschickt und leichthin modifizierte, gehört zu den bekannten Erfahrungen mit der Mehrzahl der Hochschullehrer vieler Disziplinen der Nachkriegszeit. Bemerkenswert ist jedoch die Bedeutung von Welzels Handlungslehre und Verbrechenslehre für den Beschluss des Großen Senats des Bundesgerichtshofs und die Bestrafung oder Freisprechung von nationalsozialistischen Tätern. Hier steht die Dogmatik des Verbotsirrtums im Zentrum (Teil 3).

 

In ihrer vorbildlichen Studie hat die Verfasserin alle Urteile nach 1945, in denen Angeklagte sich auf einen angeblich unvermeidbaren Verbotsirrtum beriefen, untersucht. Dabei geht es ihr um die Euthanasie-Prozesse, die Prozesse wegen der Ermordung von Juden und um den kleineren Korpus von Fällen, die nicht in die beiden erstgenannten Kategorien fallen. „Verbotsirrtum und Schuldtheorie fügen sich … in eine Reihe strafrechtlicher Konstruktionen der Nachkriegsjustiz, die milde Urteile gegen NS-Täter ermöglichten.“ (S. 167). Die Auswirkungen von Welzels Dogmatik und der des Bundesgerichtshofs in den Jahren zwischen 1952 und 1985 waren durchgreifend: das Konstrukt des vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtums diente für skandalöse Freisprüche und für den „Mengenrabatt bei Massenverbrechen“.

 

 Welzel ist nach einem Wort Monika Frommels repräsentativ für die seit 1951 einsetzende „Phase der Selbstentlastung“ (JZ 2016, 913ff.). Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Gerichte in der Folge der sog. eingeschränkten Vorsatztheorie den Einwand des fehlenden Unrechtsbewusstseins noch als unbeachtlich einstuften, zeigt die luzide Analyse der Urteile nach 1952 die völlig veränderten, gravierenden Auswirkungen auf Schuldaussprüche und Strafaussprüche bei der justiziellen Aufarbeitung der Vergangenheit.

 

Welzels Dogmatik, vor 1945 mehr als nur opportunistische Anpassung an den herrschenden Zeitgeist und Legitimation einer Strafrechtslehre, Normgebung und totalitären Praxis, entpuppt sich nach Kriegsende keineswegs unversehens als willkommenes Instrumentarium für partielle oder totale Exkulpation. Wie sich auf diese komplexe Art und Weise das Strafrecht zwischen Dogmatik des Staatsunrechts und Einzelunrechts und intelligent begründeter rechtspolitisch erwünschter Handlungslehre mit kriminologisch wie rechtlich und rechtsphilosophisch unterfütterter Grundlegung bei den Problemen von Staatsverbrechen, Rechtsfeindschaft, „Rechtsblindheit“, Überzeugungstätern und „Lebensführungschuld“ bewegte, ist in dieser präzisen Studie abzulesen. Ihr besonderes Verdienst liegt insgesamt gesehen trotz ihrer Begrenzung auf Hans Welzel weniger in den Erkenntnissen über die auch aus anderen prominenten Fällen bekannten „Verstrickungen, sondern in der dank der dogmatischen Kehrtwendung des Bundesgerichtshofs flächenartig wirksamen Gnade des Verbotsirrtums bei nationalsozialistischen Verbrechen.

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen