Schlesinger, Paul, alias Sling, Richter und Gerichtete. Gerichtsreportagen aus der Weimarer Republik. Regenbrecht, Berlin 2018. 352 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Paul Schlesinger (1878-1928) gehörte mit seinen bis heute unvergessenen Gerichtsreportagen zu den herausragenden Reportern der Weimarer Republik. Der Sammelband der Stücke, die vor allem in der Vossischen Zeitung seit 1921 erschienen, wurde schon 1929 mit einem Vorwort Gustav Radbruchs von Robert M. W. Kempner ediert. 1969 erschien das unvergängliche Werk erneut.
Sling gehört in die Reihe der bedeutenden Gerichtsreporter, die seitdem weit über das Feuilleton hinaus das Genre des literarischen Journalismus ungemein belebt und bis in die Gegenwart maßgeblich geprägt haben. Die jetzt mögliche Re-Lektüre seiner die Flüchtigkeit der Presse überlebendenTexte zeigt, dass sie nichts von ihrer schon damals sichtbaren Stärke, Strahlkraft und kritischen Perspektive aufs Strafsystem verloren haben. Sie sind zugleich neben der tiefsinnigen Reflektion der Justiz der Weimarer Zeit auch rechtshistorisch wichtige Quellen – nicht allein für zahlreiche Sensationsprozesse. Sling konnte selbst die kompliziertesten Wirtschaftsverfahren durchsichtig, lebensnah und lesbar schildern.
Gerhard Mauz, langjähriger Gerichtsreporter des SPIEGEL, und zahlreiche seiner gleichermaßen berühmten Nachfolger und Zeitgenossen der Zunft, gingen bei Sling in die Lehre. Sein durchaus selbstkritisches Selbstverständnis lief darauf hinaus, die seelischen Beweggründe der Beteiligten zu suchen – mit „Trauer, Empörung, Furcht, Mitleid, Verachtung, Heiterkeit, Spottlust, Liebe und Hass“. Und mit einem untrüglichen psychologischen Feingefühl für die wichtigen Zwischentöne und die gesellschaftlichen Hintergründe, das alle Schlagworte und pauschalen Urteile oder Begriffe wie Klassenjustiz oder politische Justiz vermied, aber doch die sozialen Bedingungen klarer durchscheinen ließ als manche soziologische oder kriminologische Studie.
Dabei konzentriert sich Schlesinger alias Sling mit seinem elegant-ironischen Stil nicht nur auf die „großen“ Prozesse wie den Mordprozess Krantz oder um berühmte oder prominente Figuren wie den Fassadenkletterer. Seine durchaus erfolgreichen Versuche, auf Mängel des Systems und der Praxis, etwa in Meineidsverfahren öffentlich hinzuweisen und Wirkungen zu erzielen, wurden legendär.
Die von Sling damals selbst getroffene Auswahl spricht eine deutliche Sprache. Wie er Angeklagte, Zeugen, Schöffen, Richter und Staatsanwälte subtil charakterisiert, wie er die spezifische Atmosphäre in Moabit schildert, ist auch dort von Sympathie und Einfühlungsvermögen getragen, wo er mit scharfsinniger oder scharfer Kritik nicht spart. Sling war, wie seine sorgsam ausgefeilten Berichte über die soziale Realität zeigen, trotz ihrer von ihm selbst eingeräumten Subjektivität, die gewissermaßen auch sein Markenzeichen wurde, von dem sicheren Gefühl bestimmt, wie „Gerechtigkeit“ sich darstellt, wie Ungerechtigkeit und welche offenkundigen Mängel tagein – tagaus im Räderwerk der Anklagen, Urteile gegen kleine Leute menschlich, tragisch oder tragik-komisch zum berichtenswerten Ereignis von allgemeingültiger Aussage wird, stets ohne Anflüge von banalen, pauschalen Wertungen oder aggressiver Kritik selbst bei empörendsten Fehlleistungen.
Dabei fällt für die Weimarer Epoche mit ihrer sonst geringeren persönlichkeitsrechtlichen oder polemischen Zurückhaltung seine Diskretion, was Namen und Identifizierbarkeit Betroffener angeht, ins Auge, sein ehrliches Mitgefühl mit einem „tragischen Finanznarren“ wie Heinrich Sklarz mit seinen sechszehn Zimmern voller Akten oder die amüsante Darstellung von Gaunerkomödien um den betrügerischen Umtausch von Millionen von Kriegsnoten auf dem Hintergrunde des „größten Gauners, Mörders und Verführers“, dem Krieg.
Einige andere Sammlungen von Slings Reportagen sind seither ausgegraben, analysiert und untersucht worden. Was fehlt, wäre eine historisch-kritische Gesamtausgabe oder eben über die verdienstlichen Reprints wie diesen hinaus umfänglichere Ausgaben der Berichte, wie sie etwa für E .E. Kisch oder andere Journalisten der Ära vorliegen. Wenn Kischs Markenzeichen oft neben der überragenden Findigkeit, die gern die auf politische Skandale getrimmte, manchmal zudem allzu fantasievoll ausgeschmückte Finesse war, bleibt als originale Signatur der bei aller liebevollen Lakonik wesentliche Kern der kleinen wie großen oder überlebensgroßen Komödien und Tragödien im Gedächtnis. Der rechtshistorische Gehalt eines solchen Alt-Meisters der scheinbar leichthin formulierten juristischen Reportage ist bis heute so unermesslich wie in seinen latenten Schätzen noch immer ungehoben.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen