Polian, Pavel, Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, aus dem Russischen von Richter, Roman, bearb. v. Kilian, Andreas. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss 2019. 632 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Wie der Mensch in seiner Vorstellung zwischen dem hellen Himmel und der dunklen Hölle unterscheiden kann, so kann er auch selbst das Gute anstreben und das Böse verwirklichen, weil er auf Grund seiner Triebe und seines Verstands zu einer großen Bandbreite des Verhaltens imstande ist. Während der nationalsozialistischen Herrschaft Adolf Hitlers und seiner aus Überzeugung wie Opportunismus getreuen und willfährigen Mannschaft wurden nicht nur Vernichtungslager wie Auschwitz eingerichtet, in denen Männer und Frauen, Juden und Roma, politische Häftlinge und kriminelle Häftlinge nach Arbeitsfähigkeit begutachtet und Frauen und Kinder, zu Alte und zu Junge in als Waschräume getarnte Bunker gebracht und mit dem Ungezieferbekämpfungsmittel Zyklon B binnen mehrerer Minuten erstickt wurden, sondern auch Sonderkommandos aus den zu der Arbeit ausgesonderten Häftlingen zusammengestellt, welche die Leichen in besondere Verbrennungsöfen schafften, die Asche fortbrachten und nicht verbrannte Knochen zertrümmerten. Sie lebten in einer menschlichen Hölle.

 

In dem Mai 1944 bestand dieses Sonderkommando in Auschwitz nach dem von Hans-Heinrich Nolte verfassten Vorwort des vorliegenden Bandes aus 874 Männern, darunter 849 Juden, einige nichtjüdische sowjetische Kriegsgefangene, Polen und ein Deutscher, von denen mehrere ihre etwas größere Bewegungsfreiheit dazu nutzten, um kurze Kassiber und größere Sammlungen von Blättern zu schreiben, in Behältern zu verstecken und an wohl 36 Stellen in dem Boden zu vergraben. An dem 7. Oktober 1944 wagte das Sonderkommando einen Aufstand, in dessen Verlauf zwölf Männern die Flucht gelang, so dass Zeugen überlebten. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurden neun der Verstecke gefunden und die in Jiddisch und Griechisch verfassten Texte entziffert.

 

Veröffentlicht wurden sie von dem in Moskau 1952 geborenen, in Englisch und Geografie ausgebildeten, 1980 promovierten, bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Institut für Geografie der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion tätigen, nach einem anschließenden Stipendium der Humboldt-Stiftung an dem kulturgeografischen Institut in Freiburg im Breisgau 1993 als freier Wissenschaftler wirkenden, in Moskau 1998 in Geografie habilitierten, 2008 zu einem Professor seines Faches an der Universität Stavropol in dem Nordkaukasus und 2015 zu dem Direktor des Mandelstam-Zentrums an der Hochschule für Wirtschaft und Vorsitzenden der Mandelstam-Gesellschaft in Moskau ernannten Pavel Polian. Seit vielen Jahren ist er durch zahlreiche Arbeiten zu Geografie, Philologie und Geschichte hervorgetreten. 2013 veröffentlichte er russisch das Werk Papierrollen aus der Asche – das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und seine Chronisten, das 2015 und 2018 eine zweite und dritte Auflage erfuhr und einen großen Teil der Editionsarbeit umfasst, unter Ergänzung nunmehr aber auch in das Deutsche übertragen werden konnte.

 

Nach der Vorbemerkung hat dem Entstehen und der Entwicklung des vorliegenden Werkes der Zufall gehörig nachgeholfen. In dem Herbst 2004 entdeckten Nikolai Pobol und Pavel Polian in dem Archivverzeichnis des Zentralen Wehrmedizinischen Mueseums in Sankt Petersburg, in dem sie nach Auskünften über sowjetische Kriegsgefangene suchten, einen Hinweis auf ein Notizbuch Salmen Gradowskis, der dem jüdischen Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau angehört hatte. In der Folge spann sich dieser rote Faden weiter zu dem Sonderkommando als Phänomen an sich und zu seinen anderen Mitgliedern, die ebenfalls nach dem zweiten Weltkrieg aufgefundene Aufzeichnungen hinterlassen hatten. Unter Vergleich mit den Funden in der Genisa der Synagoge von Kairo an dem Ende des 19. Jahrhunderts oder der Entdeckung der Schriftrollen von dem Toten Meer 1947 entwickelte sich daraus das vorliegende Werk.

 

Gegliedert ist es in zwei Teile. Dabei werden zunächst Leben und Tod in der Hölle an Hand der demografischen Bilanz von Auschwitz, der Handlanger des Todes, des Sinnes und Preises des Aufstands, der Einordnung als Verbrecher oder Helden und der Entdeckungsgeschichte, Rekonstruktionsgeschichte und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte beschrieben. Dem folgen die Chronisten Salmen Gradowski, Lejb Languß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel und Marcel Nadjari sowie ein unmittelbar nach der Befreiung in dem Umfeld Auschwitzs entstandenes Zeugnis Abraham Levites und ihre jeweiligen Texte. Dem wird statt eines Nachworts angeschlossen ein Kassiber, der angekommen ist, während in dem Anhang eine Chronik ausgewählter Ereignisse, Veröffentlichungen der Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos, der von den Befreiern in Auschwitz gesehene anus mundi und erste Aussagen der Mitglieder de Sonderkommandos beigegeben sind.

 

Der Mensch kann dem Menschen leicht zum Wolf oder zum Unmenschen werden. Daran zu erinnern dient der Menschlichkeit. Möge sich auch auf Grund der Briefe aus der Hölle die Hölle nicht wiederholen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler