Pannen, Sabine, Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979-1989 (= Kommunismus und Gesellschaft 7). Christoph Links Verlag, Berlin 2018, 359 S. Besprochen von Bernd Schildt.

 

Fast dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution, in deren Folge die Deutsche Demokratische Republik trotz ihres institutionell durchaus noch intakten Repressionsapparates und einem Mitgliederbestand der Staatspartei Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) von rund 2,3 Millionen sang- und klanglos untergegangen war, wissen wir inzwischen, dass der Erfolg der sie tragenden Bürgerrechtsbewegung auch im Zusammenhang mit der Hilflosigkeit und zunehmend wohl sogar Ohnmacht der SED-Führung gegenüber den sich überschlagenden Ereignissen des Jahres 1989 gesehen werden muss. Wieso leisteten die personell deutlich von Parteimitgliedern dominierten bewaffneten Organe der DDR allen voran die doch so allmächtige Staatssicherheit und auch die Polizei praktisch keinen Widerstand, warum blieb die Nationale Volksarmee in den Kasernen und weshalb erwiesen sich auch die Kampfgruppen (als es letztlich darauf ankam) nicht als Stützen des Systems? Diese Problematik ist – jedenfalls in der breiten Öffentlichkeit – bislang kaum thematisiert worden.

 

Sabine Pannen geht in der überarbeiteten Fassung ihrer Berliner Dissertation von 2017 der eigentlich schon seinerzeit naheliegenden Frage nach, weshalb im Herbst 1989 auch unter den SED-Mitgliedern eine stetig wachsende Mehrheit nicht mehr bereit war, die Parteiherrschaft durch das Politbüro und dessen zentralen Machtapparat anzuerkennen, geschweige denn zu stützen. In den Blick genommen werden insoweit folgerichtig die („einfachen“) Mitglieder der einstigen Staatspartei. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass es sich bei dem, nicht zuletzt an den Massenaustritten erkennbaren Loyalitätsentzug um keine spontane Reaktion der Parteibasis, sondern einen letzten Schritt in einem längeren und sehr viel grundsätzlicheren Erosionsprozess gehandelt hat.

 

Ausgehend von der Zielstellung, das Innenleben der Partei aus der Perspektive der Parteibasis als sozialem Akteur zu untersuchen und dabei den „Kohäsionsfaktoren [einerseits] und subkutanen Erosionsprozesssen [andererseits] auf die Spur zu kommen“, stützt sich die Untersuchung auf drei Quellengruppen, die zugleich als methodische Weichenstellungen verstanden werden (S. 34f.). Erstens erfolgte zunächst ein „mikrohistorischer Zugriff“ auf das Schriftgut der SED-Grundorganisation (GO) des Stahlwerks Brandenburg an der Havel, ergänzt durch die Protokolle der Kreisparteikontrollkommission (KPKK) Brandenburg und Berichte über die Lage der Mitgliedschaft im Bezirk Potsdam und in der Kreisstadt Brandenburg.

 

Ferner nehmen zweitens Interviews mit zehn Parteimitgliedern des Stahlwerkes deren subjektive Sichtweise in den Blick. Es erscheint allerdings methodisch zweifelhaft, ob eine derartige oral vermittelte retrospektive Sicht von zehn Zeitzeugen ergänzt durch die genannte archivalische „Tiefenbohrung“ verallgemeinerungsfähig ist oder gar ein zutreffendes Gesamtbild auf die Parteibasis vermittelt, betont die Verfasserin ansonsten doch stets sowohl die soziale und funktionale Verschiedenheit der unterschiedlichen Milieus innerhalb der SED als auch deren divergierende Interessenlagen.

 

Insbesondere im Hinblick auf den Erosionsprozess in den 1980er-Jahre wurden drittens die Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG-Berichte) als Quelle von zentraler Bedeutung ausgewertet, wenngleich nicht immer mit der nötigen kritischen Distanz, die vor allem eine Auseinandersetzung mit den Eigeninteressen der die Stimmungsberichte verfassenden Offiziere erfordert hätte. Gleichwohl werfen gerade diese Berichte an vielen Stellen ein bezeichnendes Licht auf die geistig-intellektuelle Inkompetenz führender Parteifunktionäre, welche die Ergebnisse selbst in Auftrag gegebener Stimmungsanalysen bei Nichtgefallen offenbar schlicht ignorierten.

 

Nach diesen einführenden Überlegungen folgt in dem zweiten Kapitel eine Skizzierung der Sozialstruktur und mentalen Verfassung der Partei am Ende der 1980er-Jahre zunächst im Allgemeinen und anschließend insbesondere mit Blick auf das spezielle Milieu im Stahlwerk Brandenburg. In den 1980er Jahren waren rund 20 % der erwachsenen Bürger der DDR Parteimitglieder, was für die Legitimation und Durchsetzung des Herrschaftsanspruches der SED zweifellos von zentraler Bedeutung gewesen ist. Da sich die SED selbst als Arbeiter- und Kaderpartei verstanden hat, ergibt sich für Pannen eine grobe Unterscheidung in eine Dienstklasse und „echte“ Industriearbeiter. Zu ersten Gruppe gehörten danach die Angehörigen des Machtsicherungsapparates (hauptamtliche Funktionäre der Partei und der Massenorganisationen, Angehörige des Militär- und Sicherheitsbereiches), der Legitimationselite [Wissenschaftler und Künstler, insbesondere Gesellschaftswissenschaftler und (Staatsbürgerkunde-)Lehrer] und führende Vertreter der Verwaltungs- und Managementelite. Zu den Industriearbeitern werden, neben den Produktionsarbeitern, offenbar auch die Genossenschaftsbauern gezählt.

 

Neben diesen beiden die Sozialstruktur der SED dominierenden Lagern spielten die nicht nach dem Produktionsprinzip organisierten Rentner (obwohl zahlenmäßig durchaus beachtlich) sowie Schüler und Studenten eine eher unbedeutende Rolle. Diese, dem Grunde nach zutreffende Klassifizierung nach sozialen, ideologischen und funktionalen Gesichtspunkten, verstellt allerdings aufs Ganze gesehen ein wenig den Blick auf die Vielschichtigkeit und Zerrissenheit der Motivationslage der Parteimitglieder hinsichtlich ihrer Bereitschaft der offiziellen Parteilinie zu folgen. Die Ambivalenz von historisch gewachsenen grundlegenden Überzeugungen einerseits, sowie zunehmenden Zweifeln bis hin zu Unverständnis für konkretes Handeln der Parteiführung und damit korrespondierendem teils ideologisch verklärtem teils pragmatisch von spezifischen Interessen geleitetem Opportunismus andererseits, hat bei einer stetig wachsenden Mehrheit der Parteimitglieder wohl insgesamt größere Bedeutung gehabt als die Extrempositionen schlichte Nibelungentreue oder blanker Opportunismus.

 

In dem dritten Kapitel wird das Innenleben der Partei, gemessen am Titel des Buches, zeitlich weit ausgreifend (beginnend mit den Parteisäuberungen der 1950er-Jahre) untersucht. Deutlich herausgearbeitet wird die bis zum Ende der SED nicht überwundene und deren Kohäsionskraft nachhaltig beeinträchtigende Ambivalenz zwischen der Formierung der Partei als Kaderpartei einerseits und der gleichzeitigen Entwicklung zur Massenpartei andererseits. Dessen ungeachtet wurde die Grundorganisation (GO) zur Steuerungsinstanz der Partei im Alltagsleben ihres jeweiligen (Produktions-)Umfelds, wenngleich gerade insoweit fraglich scheint, ob die geschilderte Situation im Stahlwerk Brandenburg im Sinne von pars pro toto repräsentativ für die Situation der Partei insgesamt ist.

 

In dem vierten Kapitel werden unter der Überschrift „Konfliktfelder im Krisenjahrzehnt“ zunächst die Versorgungsprobleme und die Folgen der Westöffnung thematisiert. Die daraus resultierende Zuspitzung des innerparteilichen Erosionsprozesses innerhalb der Mitgliederschaft gewann mit dem Machtantritt von Gorbatschow und der von ihm in der Sowjetunion eingeleiteten Politik von Glasnost und Perestroika eine ganz neue und sehr viel stärker politische Dynamik. Im Ergebnis kam es zu einer faktischen Spaltung in eine Mehrheit frustrierter, aber mobilisierter Reformbefürworter (mit dem Ziel der Schaffung eines besseren Sozialismus) und einer Minderheit desillusionierter Konservativer. Im öffentlichen Diskurs in und außerhalb der Partei erhielt das in der Vergangenheit allgegenwärtige und oftmals belächelte Beschwören der Phrase „von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ plötzlich einen ganz neuen Sinn. Da ein offener Bruch mit der Bruderpartei nicht in Betracht kam, versuchte die Parteiführung die Relevanz der Veränderungen in der Sowjetunion herunter zu spielen. Der in diesem Zusammenhang zu sehende peinliche „Tapezierungsvergleich“ Kurt Hagers im Stern-Interview löste je nach Gemütslage bei parteilosen Bürgern wie SED-Mitgliedern schallendes Lachen, Kopfschütteln oder Empörung aus.

 

Das fünfte Kapitel ist den Ereignissen des Jahres 1989 gewidmet. Die Verfasserin beschreibt den verzweifelten, aber letztlich erfolglosen Versuch der Parteiführung den Zerfall der „Kader- und Arbeiterpartei“ aufzuhalten. Ihr Fazit: nicht der Druck der Straße, sondern der innerparteiliche Druck, ein politisches Bekenntnis zur Politik einer reformunwilligen Parteiführung abzugeben, führte zum Auseinanderbrechen der Staatspartei an ihrer Basis (S. 331-332). Auf dem Sonderparteitag im Dezember 1989 entschied sich eine knappe Mehrheit gegen eine besonders aus Akademikerkreisen gestellte Forderung nach Auflösung und Neugründung der Partei. Darüber, ob das Votum gegen einen solchen moralischen Neustart und für die institutionelle Kontinuität (mit den bis in die Gegenwart bestehenden Akzeptanzproblemen) unter dem veränderten Namen SED-PDS, tatsächlich auf die beruflichen Interessen der mehrheitlich aus hauptamtlichen Funktionären, Betriebsdirektoren und den bewaffneten Organen stammenden Delegierten zurückzuführen ist (S. 312), kann jedoch nur spekuliert werden.

 

Abgesehen von unnötigen Wiederholungen und mitunter eher kurzschlüssigen Spekulationen zu den Motiven der handelnden Akteure ist Sabine Pannen das Vorhaben, den inneren Zerfall der SED-Parteibasis im Kontext mit der friedlichen Revolution im Herbst 1989, die im Ergebnis zum Untergang der DDR geführt hat, durchaus gelungen. Die stark beschreibende Form der Darstellung ist im Wesentlichen der Natur ihres Gegenstandes geschuldet.

 

Jatznick                                                          Bernd Schildt