Kershaw, Ian, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, aus dem Englischen von Schmidt, Klaus-Dieter. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 828 S., 32 Abb., 3 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wohl jeder kennt das Problem aus eigener Erfahrung: Man steht im Supermarkt unmittelbar vor dem Regal und findet das Gesuchte nicht. Erst nachdem man einen Schritt zurücktritt, erweitert sich die Perspektive, der nun gewonnene Überblick steigert die Wahrscheinlichkeit, zum Erfolg zu kommen, erheblich. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnissuche des Zeithistorikers: Je geringer die zeitliche Distanz zu den Ereignissen, desto schwieriger gestaltet sich deren adäquate Einordnung und Interpretation. Wer könnte heute etwa behaupten, verlässlich prognostizieren zu können, welche Weichen für die Zukunft Europas und der Welt durch einen vollzogenen Austritt oder aber den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union tatsächlich gestellt werden? Nachdem der prominente britische Historiker Ian Kershaw 2015 (dt. 2016) den erfolgreichen ersten Band seiner (europäischen) Geschichte des 20. Jahrhunderts publiziert hat, der unter dem Titel „Höllensturz“ die Entwicklung der von blutigen Kriegen charakterisierten ersten Hälfte des Jahrhunderts in Augenschein nimmt, folgt nun mit dem zweiten Band die bis in die unmittelbare Gegenwart reichende Fortschreibung der Erzählung. Aus dem vorher angesprochenen Grund mag dieses Unterfangen die größere Herausforderung sein, und tatsächlich räumt der Verfasser ein, dass sich im Gegensatz zur ersten Jahrhunderthälfte hier „keine ähnlich geradlinige Entwicklung ausmachen (lässt)“, sondern nur eine „voller Wendungen und Windungen, Auf und Abs und willkürlicher Wechselfälle, die einander zudem mit großem und immer rasanter werdendem Tempo ablösten“ (S. 9). Methodisch und formal schließt „Achterbahn“ nahtlos an „Höllensturz“ an. Die Narration folgt, abgestützt auf die relevante Literatur und unter Verzicht auf Einzelnachweise in Fußnoten, sich Kapitel für Kapitel entfaltend der Chronologie und wird durch Stimmen von Zeitgenossen belebt. Bisweilen fließt als gesonderte Anmerkung sogar eine persönliche Erinnerung des Schreibers ein, beispielsweise zur Kubakrise im Oktober 1962, die für ihn „der einzige Zeitpunkt während des gesamten Kalten Krieges (war), in dem ich selbst diese Furcht [vor dem Atomkrieg] verspürte“ (S. 56). Grundsätzlich legt er aber Wert auf die zutreffende Feststellung, dass man „persönliche Anekdoten und historische Einschätzungen voneinander trennen (sollte)“, seien doch „die meisten Alltäglichkeiten flüchtig in ihrem Nachhall“ und dementsprechend zur seriösen Beurteilung der Bedeutung großer Ereignisse nicht geeignet (S. 10f.). Zwei Tafelteile (insgesamt 32 Fotografien) lassen den Leser den behandelten Zeitraum auch über visuelle Reize erleben, drei großformatige Karten (Europa 1950; Europa 2018; Europäische Union 2018 mit Darstellung der Expansion der Gemeinschaft seit 1957) illustrieren den Wandel der europäischen Staatenwelt.

 

Gegenstand des ersten Kapitels „Spannung und Spaltung“ ist der Kalte Krieg zwischen 1950 und 1962 mit dem Koreakrieg, der Etablierung von NATO und Warschauer Pakt, dem atomaren Wettrüsten, der Berlin-Frage mit dem Mauerbau 1961, der Kubakrise 1962 und der Reaktion der Zeitgenossen. Trotz der enormen Gefahr für die Menschen vermochte damals noch „die Antiatomwaffenbewegung nirgends die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen“ (S. 63). Wer die Existenz von Atomwaffen nicht ohnehin als eine Möglichkeit begrüßte, den Ausbruch eines dritten Weltkrieges zu vermeiden, habe sich fatalistisch mit der latenten Bedrohung arrangiert und andere Dinge in den Vordergrund des Interesses gerückt, „in Westeuropa […] in erster Linie das Bemühen, das Beste aus dem bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung zu machen“ und den steigenden Lebensstandard zu genießen (S. 70). Der zweite Abschnitt behandelt die Herausbildung Westeuropas, „das vor 1945 nicht einmal als Idee existiert hatte“ (S. 132), in den ersten Nachkriegsjahrzehnten unter der Ägide der USA und im Zeichen der Konsolidierung der pluralistischen liberalen Demokratie, der Dekolonisation und einer beginnenden wirtschaftlichen Integration. Währenddessen sah sich ganz Osteuropa, wie Kapitel drei ausführt, als ebenfalls neues politisches Konstrukt im „Schraubstock“ der Sowjetmacht, dem sich nur das kommunistische Jugoslawien unter Tito auf Dauer zu entziehen vermochte. Unterschiedliche nationale Voraussetzungen und Strukturen in den verschiedenen Ländern des Ostblocks hätten zu unterschiedlichen Entwicklungen wie den Massenprotesten in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in Polen und Ungarn zwischen 1953 und 1956 geführt, nach deren Niederschlagung „sich die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten in konservative autoritäre Länder verwandelt (hatten), die keinerlei revolutionäre Energie und utopischen Anspruch mehr besaßen, sondern lediglich das Ziel verfolgten, ihr System aufrechtzuerhalten“ (S. 195). „Gute Zeiten“ (Kapitel vier) erlebte hingegen der Westen durch das ungebremste, bis zur Ölkrise 1973 andauernde Wirtschaftswachstum – 1965 waren die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und die Montanunion zur Europäischen Gemeinschaft (EG) verschmolzen worden, wobei schon damals in Großbritannien „Politiker […] und die Mehrheit der Bevölkerung […] mit vielen guten Worten überredet werden (mussten), ihre Abgeschiedenheit aufzugeben und sich, wenn auch widerstrebend, als Teil der Europäischen Gemeinschaft zu verstehen“ (S. 244f.). Die von einer zunehmenden Toleranz geprägte „Kultur nach der Katastrophe“ (Kapitel fünf) habe im Jahrzehnt zwischen 1955 und 1965 einen tiefgreifenden Wandel eingeläutet, der im Umgang mit der Vergangenheit auch zur erstmaligen Wahrnehmung des Holocaust in der deutschen Nachkriegsgesellschaft führte (Jerusalemer Eichmann-Prozess und Frankfurter Auschwitz-Prozess), wenngleich das Tempo und die Radikalität dieser Veränderungen von der jüngeren Generation zunehmend als unzureichend wahrgenommen worden seien.

 

Wie sich diese vom Vietnamkrieg katalytisch befeuerten Spannungen 1968 in Westeuropa in den kurzen und heftigen, aber langfristig nachwirkenden Studentenprotesten und im Ostblock in den Ereignissen des „Prager Frühlings“ entluden, berichtet das anschließende sechste Kapitel „Herausforderungen“. Die „Umbrüche“ der 1970er- und 1980er-Jahre – die wirtschaftliche Rezession, den Zusammenbruch der autoritären Regime in Griechenland, Portugal und Spanien sowie den neuen Kalten Krieg mit seiner Eskalation des nuklearen Wettrüstens und einem verstärkten Zulauf zur Friedensbewegung – nimmt der siebte Abschnitt in den Fokus, bis der unter Michail Gorbatschow zwischen 1985 und 1989 „auffrischende Ostwind der Veränderung nach und nach zu einem Sturm (wurde), der […] die Wurzeln der bestehenden Ordnung in Osteuropa aus dem Boden riss“ (S. 442). Neben der Perestroika behandelt die achte Sektion auch den kulturellen und politischen Wandel in Westeuropa, so den Aufstieg populistischer rechter, aber auch grüner Parteien und den Durchbruch des Holocaust in das allgemeine Bewusstsein durch die Ausstrahlung der gleichnamigen vierteiligen Fernsehserie, der nun auch die Historiker zu lebhaften und streitbaren Fachdebatten animierte. Während der Verfasser Gorbatschows Stellenwert für die Auflösung des Ostblocks als „unverzichtbar“ einschätzt, sei – wie er ebenfalls am Beispiel der betroffenen Staaten zeigt – die „Macht des Volkes“ (Kapitel neun) die zweite treibende Kraft in diesem Prozess gewesen (S. 495). Vollzog sich der Übergang zur Demokratie in den meisten Staaten Osteuropas „innerhalb etablierter nationaler Grenzen“ (S. 514) und mit Ausnahme Rumäniens erstaunlich friedlich, stellte die Wiedervereinigung Deutschlands ökonomisch und gesellschaftlich eine hoch komplexe Herausforderung dar. Das Ende der Sowjetunion wiederum habe nicht nur Europa, sondern auch die weltpolitische Lage – zunächst vor allem zum Vorteil der Vereinigten Staaten – gravierend verändert.

 

Die an das Ende des Kalten Krieges geknüpften hohen Erwartungen seien jedoch bald durch die Realität eingeholt worden (Kapitel zehn „Neuanfänge“): Durch die ethnischen Kriege, die von 1991 bis 1999 mit dem Zerfall Jugoslawiens einhergingen und deren ausufernde Gewalt die Einsetzung eines Internationalen Strafgerichtshofs (ICTY) notwendig machten, aber auch durch das Sinken des Bruttoinlandsproduktes „in fast allen postkommunistischen Staaten […] in den ersten fünf Transformationsjahren“, sodass dort erst zur Jahrtausendwende „dank eines weltweiten Wachstums fast wieder de(r) Stand von 1989 erreicht [wurde] – mit vollständig umstrukturierten Ökonomien“ (S. 576f.), die den jungen Demokratien Osteuropas die notwendige Stabilität verliehen hätten. Dass die Integration Europas trotz wichtiger Fortschritte (Vertrag von Maastricht 1992, Einführung des Euro 1999) nur schleppend vorankam, lag auch an „näherliegende(n) Sorgen“ der Unionsbürger und ihrer politischen Führer, wozu „Themen wie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, die zunehmende Forderung nach Sozialleistungen und Inflationskontrolle, das Ausmaß der Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung“ zu zählen seien (S. 598f.), weniger aber Katastrophen in ferneren Weltgegenden wie etwa in Somalia, von denen viele Europäer dachten, sie „seien für ihr eigenes Leben kaum von Bedeutung“ (S. 609). Wie sehr diese Einschätzung fehl ging, sollten die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 in New York erweisen („9/11“), die mit einem Schlag die Globalität der Herausforderungen aufzeigten. Mit ihnen – konkret mit dem „Krieg gegen den Terror“, der Janusköpfigkeit der Globalisierung, ihren politischen Fragen, ihren Auswirkungen auf die Europäische Union sowie mit dem Verhalten Russlands unter Putin – befasst sich der elfte Abschnitt des Buches, dem als zwölftes Kapitel eine Analyse der aus den globalen Turbulenzen herrührenden Krisen des letzten Jahrzehnts (Finanz- und Wirtschaftskrise, Sparpolitik und Herausforderung der Zivilgesellschaft durch den zunehmenden Populismus, Migrationskrise, Terrorbedrohung, Ukraine-Konflikt, Brexit) angeschlossen ist. Obwohl „im Sommer 2017 weitgehend überstanden“, würden sie aufgrund „der Öffnung Europas für die Globalisierung in all ihren Ausprägungen […] als Gefahren virulent“ bleiben, und das „auf Jahre, wenn nicht Generationen hinaus“ (S. 739).

 

Auch wenn der Verfasser in aller Bescheidenheit einräumt, dass mit Blick auf die Zukunft „die Voraussagen eines Historikers nicht besser als die aller anderen“ seien (S. 14), mag das zwar für die Unmöglichkeit, künftige Ereignisse mit hundertprozentiger Sicherheit zu prophezeien, gelten, würdigt allerdings nicht angemessen den Qualitätsvorteil eines auf profunde Kenntnisse historischer Strukturen abgestützten Urteils im Vergleich mit freien Spekulationen. So versucht Ian Kershaws abschließender Ausblick in „Eine neue Ära der Unsicherheit“ nach einer Gesamtwürdigung des Weges, den Europa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegangen ist, ausgehend vom Status quo des Jahres 2017 die nähere Zukunft abzuklopfen und spart dabei kaum eines der Probleme aus, die die gegenwärtige Generation belasten. An die Spitze stellt er das Bild der Vergangenheit als eines einigermaßen gut ausgeleuchteten Pfades, der vor einem großen Tor mit der Aufschrift „Zukunft“ endet, durch dessen schmale Schlitze man dahinter schemenhaft einige weiterführende Wege erkennen kann, die sich aber rasch im Zwielicht verlieren und daher in ihrer Relevanz nicht seriös eingeschätzt werden können. Denn „nicht nur langfristige strukturelle Prozesse, sondern auch unvorhergesehene Ereignisse können tiefgreifende Veränderungen bewirken“ und „die Rolle des Zufalls für den historischen Wandel wird leicht unterschätzt“ (S. 753). Jede vernünftige Würdigung der letzten sieben Jahrzehnte Europas müsse „trotz aller Vorbehalte […] die enormen Fortschritte hervorheben“, die gemacht wurden: „Heute leben die meisten Europäer in Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und relativem Wohlstand. […] Dass Millionen heutiger Europäer die Tyrannei eines Polizeistaats nicht mehr zu fürchten brauchen, ist ein gewaltiger Fortschritt. […] (D)as bittere Elend, das im Vorkriegseuropa anzutreffen war, ist verschwunden“. Dass kein allgemeiner großer europäischer Krieg nach dem Muster der beiden Weltkriege mehr stattfand, „war für die Nachkriegseuropäer der größte Segen überhaupt“ (S. 745ff.). Die herausragenden Garanten für diese Entwicklung seien, neben der berechtigten allgemeinen Furcht vor der Vernichtungskapazität der Atomwaffen, „der NATO-Schild und das Engagement der Vereinigten Staaten“ (S. 748) sowie der europäische Integrationsprozess gewesen. Daraus sei noch keine tiefgreifendes europäisches Identitätsgefühl hervorgegangen, aber: „Vielleicht ist die vergebliche Suche nach einer europäischen Identität überhaupt unnötig, solange die Bürger der Nationalstaaten des Kontinents sich verpflichtet fühlen, in ihren Ländern die gemeinsamen Grundprinzipien von Frieden, Freiheit, pluralistischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beachten, den materiellen Wohlstand, der diese Prinzipien untermauert, aufrechtzuerhalten und sich zu bemühen, wo immer möglich die Bande transnationaler Zusammenarbeit und Freundschaft zu festigen“ (S. 752).

 

Dass Europa dennoch 2017 „mit einer größeren Ungewissheit und Unsicherheit konfrontiert (war) als jemals zuvor seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 754), sei folgenden, hier stichwortartig wiedergegebenen Phänomenen geschuldet: Möglichkeit eines weiteren Crashs des Bankensystems, Ungleichgewicht der Eurozone, autoritäre Entwicklungen in Polen und Ungarn, Brexit-Verhandlungen, Migrationsbelastung besonders für Italien und Griechenland, Terroranschläge, Abdriften der Türkei von Europa, erhöhte Gefahren im Umfeld (Naher Osten, Russland, China), Trumps Präsidentschaft und der daraus resultierende Auftrieb für Nationalisten und rechte Populisten in Europa sowie seine Leugnung des Klimawandels mit dem Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen. Aus europäischer Perspektive hoffnungsvollen Ansätzen wie der Wahl Emmanuel Macrons in Frankreich oder der Wiederwahl Angela Merkels in Deutschland stünden bedenkliche Erfolge migrationsfeindlicher nationalistischer Parteien (Alternative für Deutschland - AfD, Freiheitliche Partei Österreichs - FPÖ) gegenüber. Es lasse sich nicht sagen, „ob diese ernste Herausforderung des ‚Establishments‘ die politische Landschaft auf Dauer umgestalten oder in dem Maße versiegen wird, wie die ökonomische Lage sich verbessert“. Langfristige, mit globalen Entwicklungen eng verwobene Trends legten „den Schluss nahe, dass das neue Zeitalter der Unsicherheit von längerer Dauer sein könnte“ (S. 760). Dazu zählten zuallererst der unbedingt zu verlangsamende Klimawandel, weshalb der „Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft keine Option, sondern unumgänglich“ sei, die Sicherung der Energieversorgung, welche die Erschließung weiterer erneuerbarer Energiequellen zu „eine(r) der dringlichsten Zukunftsaufgaben Europas“ mache, der demographische Wandel mit seinen erhöhten Anforderungen an das Gesundheitswesen und das Sozialsystem bei einer immer stärkeren Belastung der staatlichen Finanzen sowie der sich „wahrscheinlich weiter erhöhen(de) Migrationsdruck“ und die damit verbundene Frage der Identitäten in Europa (S. 761ff.). Pessimistisch orakelt der Verfasser: „Auch die Intoleranz, insbesondere gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe und anderer Kultur, wird wahrscheinlich zunehmen. Die Aussichten für gesellschaftliche Harmonie und Kohäsion sind nicht gerade rosig“ (S. 764). Verschärft würden die Probleme durch „die riesige und weiter wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Reichtum“, den zunehmenden Individualismus und den damit einhergehenden Rückgang des Gefühls der sozialen Verantwortung, die rasch voranschreitende Automatisierung, welche die Frage, „wie große Teile der Bevölkerung in Erwerbstätigkeit gehalten werden können“, zu einem der „großen politischen, sozialen und ökonomischen Probleme der kommenden Jahrzehnte“ mache, und durch die komplexe, auf die transnationale Ebene verlagerte Frage der Sicherheit, wo etwa Cyberkriminalität „nur durch […] einen Informationsaustausch von beispiellosem Ausmaß verhindert und abgewehrt werden“ könne, während auf der anderen Seite „Sicherheitsängste zu einer enormen Ausweitung der Überwachung normaler Bürger durch Nachrichtendienste geführt“ hätten und damit „auf jeden Fall die Big-Brother-Überwachung aus George Orwells Roman 1984 zu einem erheblich realistischeren Konzept geworden (ist)“ (S. 764ff.).

 

Wie weit Europa – und hier im Wesentlichen die Europäische Union (EU) – diese Herausforderungen, die den Nationalstaat überfordern, bewältigen wird können, hänge auch von ihrer eigenen, gleichfalls noch offenen Entwicklung ab. Ian Kershaw führt verschiedene, mehr oder weniger wahrscheinliche Optionen aus. So bestehe die Hoffnung, dass Frankreich und Deutschland einen Strukturwandelprozess anstoßen und der Austritt Großbritanniens eine Konsolidierung der Europäischen Union herbeiführen könnte. Theoretisch denkbar, wenngleich nicht zuletzt aufgrund der Wirkmacht der historisch basierten, unterschiedlichen nationalen Interessen „höchst unwahrscheinlich“, seien „föderale Vereinigte Staaten von Europa, mitsamt Zentralregierung und Parlament, eigener Verteidigungs- und Außenpolitik sowie vollständiger Budget- und Fiskalzuständigkeit“. Vielleicht werden auch „ein Europa der zwei oder vielen Geschwindigkeiten oder eine Europäische Union aus konzentrischen Kreisen mit unterschiedlichen Integrationsstufen Gestalt annehmen“, doch sei „eine durchaus plausible Prognose auch, dass die EU im kommenden Jahrzehnt und vielleicht darüber hinaus weitgehend der Gemeinschaft gleichen wird, die sie heute ist“ (S. 769f.). Der Druck von außen mache momentan die Außenpolitik und Verteidigungspolitik zum dringendsten Anliegen, denn „die EU muss die Fähigkeit ausbilden, rasch und geeint auf äußere Gefahren zu reagieren“ (S. 771). Inwieweit ein darüber hinausgehender Strukturwandel politisch durchzusetzen sein wird, bleibe in Anbetracht des Erstarkens zentrifugaler elitenkritischer, autoritärer, nationalistischer und separatistischer Strömungen jedenfalls zweifelhaft.

 

Der Begriff eines optimistischen Pragmatismus beschreibt wohl am besten die Haltung, mit der der gemeine Europäer sein Leben schon seinerzeit im Schatten der atomaren Bedrohung einzurichten wusste, und diese Haltung wird wohl auch in Zukunft angemessen bleiben. Denn obwohl die liberale Demokratie in Europa, wie aus der vorliegenden Studie hervorgeht, bislang allen Anfechtungen zum Trotz Stabilität bewiesen hat, gibt es in Anbetracht der konstatierten Herausforderungen keine Bestandsgarantie. Ian Kershaws Ausleuchtung der vielfältigen und komplexen Zusammenhänge, der bisweilen schwer einzuschätzenden, auch von Unwägbarkeiten beeinflussten „Auf und Abs“ sensibilisiert zudem die Wahrnehmung für die Verantwortung, die auf den Schultern der legitimierten Entscheidungsträger und damit maßgeblich auch auf deren Wählern lastet. Nur mit dem nötigen Realitätssinn wird ein sich seiner globalen Position bewusstes, die nationalen Egoismen überwindendes Europa gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern fähig bleiben, jene Werte zu bewahren, die ihm in den vergangenen sieben Jahrzehnten Frieden und Wohlstand beschert haben.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic