Kelsen, Hans, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Abhandlungen zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie, hg. mit einer Einleitung und einem Nachtrag zur Kelsen-Rezeption versehen v. van Ooyen, Robert Chr., 2. Aufl. Mohr Siebeck, Baden-Baden 2019. XXIII, 127 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Seit der von George Mason (1725-1792) entworfenen und an dem 12. Juni 1776 von dem Konvent der nach Unabhängigkeit strebenden britischen Kolonie verabschiedeten Menschenrechtserklärung hat sich die formelle Verfassung weltweit durchgesetzt. Da diese Verfassung nur ein Text ist, dessen Urheber vielfach nur geringe politische Macht hatten und nach der Schaffung längst verstorben sind, stellte sich allgemein die Frage, wer soll der Hüter der Verfassung sein, wenn diese von unterschiedlichen politischen Kräften bedroht wird. Hierzu äußerte sich Carl Schmitt 1929 in einer Schrift mit dem Titel der Hüter der Verfassung, in der er auf der Grundlage geschichtlicher Betrachtungen den Pluralismus des neueren Parteienstaats angriff, ein Verfassungsgericht aus verschiedenen Gründen als wenig geeignet zu der Sicherung der Verfassung ansah und stattdessen den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung einordnete, als den sich Reichspräsident Friedrich Ebert nach der Ermordung des Reichsaußenministers Walter Rathenau bereits in einem Schreiben an die sich der Ausführung des Republikschutzgesetzes durch eine Landesverordnung widersetzende Staatsregierung Bayerns an dem 27. Juli 1922 selbst bezeichnet hatte.
Kurz nach der Schrift Schmitts veröffentlichte der in Prag 1881 in einer kleinbürgerlichen, aus Ostgalizien kommenden Familie geborene, nach dem Rechtsstudium in Wien, der christlichen Taufe (1905), der Promotion (1906) und der Habilitation (1911 während des Kriegsdiensts als Wissenschaftsoffizier in dem Kriegsministerium 1917 als außerordentlicher Professor ernannte, 1930 nach Köln wechselnde Hans Kelsen in Band 6 der Zeitschrift Die Justiz von 1930/1931 auf den Seiten 576 bis 628 zu dem gleichen Thema die Studie Wer soll der Hüter der Verfassung sein, in der er Schmitts Überlegungen ablehnte Bereits 1929 hatte er sich in der Veröffentlichung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 5 auf den Seiten 30 bis 88 zu Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit geäußert. Beide für ein starkes Verfassungsgericht als Teil der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie eintretenden Arbeiten stellt der von dem in Duisburg 1960 geborenen, in Politikwissenschaft, Philosophie, Staatsrecht, Europarecht und Völkerrecht in Wien, Duisburg, Bonn und Basel ausgebildeten, nach der 1991 bei Hans-Peter Schwarz erfolgten Promotion in Köln, Brühl, Duisburg, Lübeck und Dresden tätigen Robert Christian van Ooyen herausgegebene schlanke Sammelband der Allgemeinheit nach der Erstauflage des Jahres 2008 erneut zu ihrer Verfügung.
Als Einführung in die Edition bietet der Herausgeber eine sachkundige Einführung in die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie und in die Kontroverse um den Hüter der Verfassung. Als Abschluss stellt er die neuere Forschung und Rezeption Hans Kelsen als einer langjährigen persona non grata der (bundes)deutschen Staatsrechtslehre dar. Dass in diesem Rahmen Andreas Voßkuhle als Präsident des Bundesverfassungsgerichts Deutschlands 2015 Kelsen den wohl größten Demokratietheoretiker des 20. Jahrhunderts nannte, wäre nach Ansicht des Herausgebers noch vor zehn bis fünfzehn Jahren von einem Richter des zweiten Senats des deutschen Bundesverfassungsgerichts wohl kaum zu hören gewesen.
Innsbruck Gerhard Köbler