Kämper, Heidrun, Sprachgebrauch im Nationalsozialismus, unter Mitarbeit von Wibel, Adelheid (= Literaturhinweise zur Linguistik 9). Winter, Heidelberg 2019. 97 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Zu den Notwendigkeiten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Epoche des Nationalsozialismus zählt auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Realität des zeitgenössischen Sprachgebrauchs. Bis zur Gegenwart haben vorzugsweise germanistische Disziplinen eine Reihe fruchtbarer Forschungsansätze etabliert und ein entsprechend reiches Schrifttum vorgelegt, das auch für Fachleute nicht leicht zu überschauen ist. In der Schaffung einer Orientierungshilfe besteht der primäre Wert von Spezialbibliographien der vorliegenden Art, deren Erscheinen umso mehr zu begrüßen ist, als der von Michael Kinne und Johannes Schwitalla vor einem Vierteljahrhundert (1994) publizierte, längst überholte Literaturüberblick zum Thema dringend der aktuellen Ergänzung bedarf. Der von Heidrun Kämper betreute, knapp 100 Druckseiten umfassende schmale Band setzt sich zu einem Drittel aus einem einleitenden Forschungsüberblick zum Sprachgebrauch im Nationalsozialismus und zu zwei Dritteln aus der 613 Titel auflistenden, nach Themenfeldern differenzierenden Bibliographie zusammen. Ein ergänzendes, alphabetisch geordnetes Autorenregister verweist nicht auf die jeweils betroffene Seite, sondern auf die fortlaufende Nummer der Titelaufstellung.
Die 1954 geborene, 2005 habilitierte Bearbeiterin lehrt als außerplanmäßige Professorin am Seminar für deutsche Philologie der Universität Mannheim. Am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) war sie unter anderem an Wörterbuchprojekten beteiligt und leitet seit 2000 den Arbeitsbereich „Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts“. Sie gesteht ein, dass sie sich bei der vorliegenden Arbeit mit ihrem Team zwar „um Vollständigkeit bemüht“ habe, jedoch in den Bereichen bestimmter Textsorten (Briefe, Tagebücher) und der Quelleneditionen keine systematische Recherche leisten konnte und sich dort daher auf eine Literaturauswahl beschränken muss (S. 28). Die breite Anlage ihres linguistischen Konzeptes schafft zusätzlich Probleme der Abgrenzung, denn die sprachliche Repräsentation der Gesellschaft in den Jahren von 1933 bis 1945 in Deutschland sei durch die Funktions- und Organisationssprache der nationalsozialistischen Machthaber nur unzureichend und keineswegs vollständig abgebildet. Es sei somit unerlässlich, weitere Gruppen von Akteuren in die Betrachtung einzubeziehen und dabei im Sinne einer sprachlichen Sozialgeschichte über die Linguistik hinausgehend Forschungsergebnisse anderer Disziplinen aufzunehmen.
Konsequenter Weise folgt die Gliederung der Bibliographie, die zunächst in drei Abschnitten einige Nachschlagewerke (11), sprachgeschichtliche Überblicksdarstellungen (17) und Titel zur Sprachkritik (14) auflistet, den groben Strukturen der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich: Den Spitzen des NS-Apparates untergeordnet, die breite Masse der integrierten Gesellschaft als privilegierte Volksgemeinschaft, daneben die Gemeinschaftsfremden, Unerwünschten, Ausgeschlossenen und Vertriebenen, changierend wiederum die inhomogenen Gruppierungen des Widerstandes. Die kommunikativen Praktiken der Inklusion und der Exklusion bilden hier „ein Handlungsmuster, das die sprachliche Repräsentierung unterschiedlichster Referenzbereiche sprachlich-diskursiven oder kommunikativen Ausdrucks prägt“ und für eine Rekonstruktion der Alltagssprache günstige Voraussetzungen liefert (S. 23). Untersuchungen diverser Textsorten, etwa von Pressetexten oder Briefen (weniger bisher noch von Liedern und Tagebüchern), ergänzen und verdichten die akteurszentrierten Forschungen. Einbezogen werden abschließend ferner die sprachlichen Kontinuitäten bis herauf in die Gegenwart (33), wissenschaftsgeschichtliche Studien (26) sowie Editionen von Quellentexten (30). Im fokussierten Kernbereich der Schriften um die gesellschaftlichen Akteursgruppen und die relevanten Textsorten wartet die Zusammenstellung in zwei Kapiteln mit weiteren Differenzierungen auf: Der Abschnitt zum „NS-Apparat“ zählt neben 31 Titeln allgemeiner Natur weitere 18 zur „Propaganda“, 24 zu „Rhetorik – Rede“ und 31 zu „Sprachlenkung – Sprachpolitik – sprachliche Ideologisierung“ auf, das Feld der „Textsorten“ untergliedert sich näher in „Presse(-texte)“ (25), „Briefe“ (27), „Briefeditionen“ (15), „Lieder“ (10), „Tagebücher“ (7) und „Tagebucheditionen“ (10). Ohne weitere Subkategorien erscheinen die Kapitel „Integrierte Gesellschaft“ mit 35, „Ausgeschlossene und Exilanten“ mit 60, „Widerstand“ mit 22 sowie „Inklusion – Exklusion“ mit 46 verzeichneten Werken.
So lässt sich schon durch die bloße Anzahl der Titel ein Eindruck davon gewinnen, in welchen Segmenten die (Sprach-)Forschung Fortschritte gemacht hat und wo noch größere Desiderata auszumachen sind. Allerdings sind der Auswahlcharakter mancher Abschnitte und der partielle Anspruch der Interdisziplinarität zu berücksichtigen, die es mit sich bringen, dass nicht jeder Forschungsbereich angemessen zur Abbildung gelangen kann. Unverständlicher Weise fehlt mit der Nichterwähnung der kritischen Edition des Münchener Instituts für Zeitgeschichte von Hitlers „Mein Kampf“ (2016) die maßgebliche kommentierte Textausgabe des zentralen Werkes zur Ideologie des Nationalsozialismus, dessen Entstehung – der in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht angeführte – Othmar Plöckinger erstmalig 2006 genauer durchleuchtet hat. Vielleicht ist auch Karl-Günter Zelles thematischer Ansatz in „Mit Hitler im Gespräch“ (2017) einfach der Aufmerksamkeit der Herausgeberin entgangen. Und trotz der eingestandenen Lückenhaftigkeit sollten im Bereich der Quellentexte Martin Molls „Führer-Erlasse 1939 – 1945“ (1997) sowie die „Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion“ (3 Bde., 2011 – 2014) wegen ihrer Bedeutung im Kontext der Vernichtungsmaßnahmen des Regimes und deren sprachlicher Manifestation keineswegs unerwähnt bleiben. Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, dass die vorliegende verdienstvolle Zusammenstellung von Literatur zum Sprachgebrauch im Nationalsozialismus zwar manches Schlaglicht auf die einschlägigen Fachpublikationen wirft, gerade aber in ihrem interdisziplinären Anspruch nicht wirklich die Gewähr bieten kann, alles Relevante verlässlich zu erfassen.
Kapfenberg Werner Augustinovic